„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Montag, 4. Juni 2018

Antonio Damasio, Im Anfang war das Gefühl. Der biologische Ursprung menschlicher Kultur, München 2017

1. Zusammenfassung
2. Physiologie der Wertigkeit
3. Algorithmen
4. Phänomenologie
5. Parallele Spuren: Apperzeption
6. Homunkulus
7. Big Data und Intuition
8. Kulturkrisen und Kulturkritik

Wenn Antonio Damasio von der Substratabhängigkeit der Gefühle spricht, also von der Unaustauschbarkeit des „Nährbodens“, in dem sie gedeihen (vgl. Damasio 2017. S.229f.), dann ist das ein Hinweis darauf, was mit „Physiologie der Wertigkeit“ (Damasio 2017, S.145) gemeint ist:
„Wenn man das Substrat der Gefühle ändert, ändert man das, was wechselseitig abgebildet werden soll und dadurch die Gefühle selbst. Kurz gesagt, spielt der Nährboden eine Rolle, weil der mentale Prozess, um den es hier geht, ein mentaler Bericht über diesen Nährboden ist. Phänomenologie ist wichtig.“ (Damasio 2017, S.230)
Dabei hat Damasio eine eigene, nicht ganz unproblematische, aber durchaus bemerkenswerte Sicht auf das, was er ‚Phänomenologie‘ nennt. Er stellt mit diesem Begriff, ganz entsprechend zur von Edmund Husserl begründeten phänomenologischen Tradition, das Gefühl ins Zentrum seiner neurophysiologischen Forschung. Damasio spricht explizit von einer „Phänomenologie der Gefühle“. (Vgl. Damasio 2017, S.229) Dabei definiert er das Gefühl als „mentale(n) Ausdruck“ der Homöostase (vgl. Damasio 2017, S.14), der uns über den inneren Zustand unseres Organismusses informiert:
„Ohne dass ein einziges Wort gesprochen wird, teilen Gefühle dem Geist unter normalen Umständen in jedem Augenblick mit, ob der Lebensprozess in dem zugehörigen Körper in eine gute oder schlechte Richtung verläuft.“ (Damasio 2017, S.20)
Allerdings hat Damasios Verwendung des Wortes ‚Phänomenologie‘, wie schon angedeutet, auch eine problematische Seite. Die Art, wie Damasio die ‚Berichte‘ beschreibt, mit denen uns die Gefühle über unsere inneren Befindlichkeiten informieren, ist merkwürdig ambivalent. Zum einen handelt es sich Damasio zufolge um nonverbale „Berichte“, ein Wort, das er vor allem in früheren Publikationen verwendet. Auch im aktuellen Buch soll es ein „mentaler Bericht“ sein, der uns über den „Nährboden“ informiert. (Vgl. Damasio 2017, S.230) Er selbst weist dann auf das naheliegende Mißverständnis hin, zu dem ein solcher Wortgebrauch verleitet:
„Man ist leicht versucht, die Vorstellung eines Berichts in Seiten einer Onlinedatei zu übersetzen, die man eine nach der anderen überfliegen kann, um daraus etwas über diesen oder jenen Teil des eigenen Körpers zu erfahren. Aber saubere, leblose, gleichgültige, digitalisierte Seiten sind keine annehmbare Metapher für Gefühle ...“ (Damasio 2017, S.122)
‚Bericht‘ ist also keine besonders brauchbare Beschreibung für das, was Gefühle leisten. Ein anderes von Damasio häufig verwendetes Wort für Gefühle ist „Bilder“. Gefühle liefern ‚Bilder‘ von unseren inneren Zuständen, so wie Wahrnehmungen Bilder von unserer Außenwelt liefern. Dieses Wort hat den Vorteil, den nonverbalen Aspekt unserer inneren Erlebnisse besser zu beschreiben. Zugleich hebt es den phänomenologischen Charakter von Damasios Arbeit deutlicher hervor; denn in der Phänomenologie haben wir es immer mit Oberflächen zu tun, also mit ‚Bildern‘ (Phänomenen), und bei diesen Bildern steht wiederum der Gestaltcharakter im Zentrum des phänomenologischen Interesses. Das Wort ‚Bild‘ ist also definitiv brauchbarer als das Wort ‚Bericht‘.

Dennoch ist Damasios Gebrauch des Wortes ebenfalls ambivalent. Zum einen verleitet das Wort ‚Bild‘ dazu, auf Metaphern wie ‚Kino‘ und ‚Film‘ zurückzugreifen. Damasio beschreibt die innere Präsentation von Bildern als „nonverbale, filmähnliche Sequenzen“ (vgl. Damasio 2017, S.87), wobei man unwillkürlich an ein kleines, im Inneren des Kopfes sitzendes menschenähnliches Männchen denkt, das auf eine Kinoleinwand starrt (vgl. Damasio 2017, S.167). Damasio selbst bringt dieses Beispiel, um sich dann gleich davon zu distanzieren.

Abgesehen von dieser Distanzierung von der Homunkulusproblematik geht er aber nicht weiter auf den Bildcharakter von Gefühlen ein. Stattdessen vergrößert er die Verwirrung um das ‚Bild‘, indem er – und das ist das andere Problem bei seinem Gebrauch dieses Wortes – von „Karten“ spricht, aus denen die Bilder bestehen sollen. Schon in seinen früheren Publikationen habe ich immer nicht verstanden, was genau das eigentlich heißen soll, wenn Damasio etwa davon spricht, daß in unserem Gehirn Erlebnisse und Wahrnehmungen „kartiert“ werden:
„Nervensysteme machten einen Prozess möglich, durch den die Welt um sie herum – eine Welt, die im Innern des Organismus beginnt – vieldimensional kartiert werden konnte, sodass ein Geist und innerhalb dieses Geistes auch Gedanken und Gefühle möglich wurden. Die Kartierung bediente sich verschiedener sensorischer Fähigkeiten; am Ende waren das Geschmack, Geruch, Tasten, Hören und Sehen.“ (Damasio 2017, S.37)
Aus dieser ‚Kartierungsleistung‘ bauen sich also Damasio zufolge die mentalen Bilder auf, die wir bewußt wahrnehmen. Damasio fordert seine Leser dazu auf, sich vorzustellen, daß die neuronalen „Schaltkreise“ flächig angeordnet seien, wie bei einer „Landkarte“. (Vgl. Damasio 2017, S.90) Die ‚Kartierung‘ bestünde dann darin, daß diese ‚Schaltkreise‘ die Innen- und Außenwelt zweidimensional ‚nachzeichnen‘, entsprechend der „räumlichen Anordnung von Gegenständen und Ereignissen“:
„Das geordnete, allmähliche Hinzufügen vieler solcher Punkte lässt Linien entstehen, die sich verbinden oder überschneiden können und eine Landkarte darstellen. ... Die Linien in solchen Gehirn-Landkarten geben die Anordnung eines Objekts, seine sensorischen Eigenschaften, seine Bewegungen oder seine Lage im Raum wieder. Es muss sich dabei nicht um eine ‚fotografische‘ Wiedergabe handeln, dies ist aber möglich.“ (Damasio 2017, S.91)
Obwohl wir es also bei der Landkarte mit einer eindeutig Zweidimensionalität suggerierenden Metapher zu tun haben, heißt es an anderer Stelle aber dennoch, daß sie die „Welt ... im Innern des Organismus“ „vieldimensional kartiert“. (Vgl. Damasio 2017, S.37)

Wahrscheinlich meint Damasio mit ‚Vieldimensionalität‘ die verschiedenen oben genannten sensorischen Modalitäten „Geschmack, Geruch, Tasten, Hören und Sehen“, so daß wir es mit verschiedenen ‚Karten‘ zu tun hätten, die ‚vieldimensional‘ zusammengefügt werden. Dennoch kann ich mit dieser Analogie nicht viel anfangen. Der Bildcharakter der ‚Berichte‘ unserer Gefühle besteht also darin, daß sie aus ‚Landkarten‘ zusammengesetzt sind? – Mit Phänomenologie hat das wenig zu tun; schon deshalb nicht, weil Landkarten mehr einem sprachlichen Bericht gleichen als einer nonverbalen Anschauung, die unsere inneren ‚Bilder‘ Damasio zufolge ja eigentlich sein sollen. Denn den Landkarten liegt eine ähnliche Übersetzungsleistung zugrunde wie verbalen Berichten: reale Landkarten bilden die äußere Welt ähnlich symbolisch ab wie Wörter und Sätze. Sie übertragen deren Merkmale in eine andere Struktur, und zwar mithilfe einer Analyseleistung, die von der ursprünglichen Wahrnehmung abstrahiert.

Mir selbst fallen bei ‚Karten‘ vor allem Karteikästen ein, vor allem deshalb, weil Damasio ja behauptet, daß die ‚Bilder‘ aus ‚Karten‘ zusammengesetzt seien (vgl. Damasio 2017, S.90), die Karten also eine Art Stichwortsammlung bilden, die zu Berichten bzw. vollständigen ‚Bildern‘ erst zusammengefügt werden müssen. Letztlich ist aber Damasios Versuch, Phänomenologie und Physiologie zusammenzudenken dennoch anerkennenswert. Damasio weist hier einen Weg auf, für den es wünschenswert ist, daß er Nachfolger findet.

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