„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Samstag, 2. Juni 2018

Antonio Damasio, Im Anfang war das Gefühl. Der biologische Ursprung menschlicher Kultur, München 2017

1. Zusammenfassung
2. Physiologie der Wertigkeit
3. Algorithmen
4. Phänomenologie
5. Parallele Spuren: Apperzeption
6. Homunkulus
7. Big Data und Intuition
8. Kulturkrisen und Kulturkritik

Während Helmuth Plessner mit dem „Körperleib“ eine Anatomie der gebrochenen Intentionalität entwickelt, geht Antonio Damasio mit dem für seinen Ansatz grundlegenden Begriff der Homöostase von einer „Physiologie der Wertigkeit“ (Damasio 2017, S.145) aus. Damasios Begriffe des Bewußtseins und des Geistes stehen deshalb in der Kontinuität einer biologischen und kulturellen Evolution, die ihren Ausgang nimmt von den ersten kernlosen Einzellern (Prokaryonten) und die voranschreitet zu Lebensformen mit zentral gesteuerten genetischen und neurologischen Apparaten. (Vgl. Damasio 2017, S.39f.)

Dennoch steht Damasios physiologisch begründete Intentionalität in der Tradition eines phänomenologischen Denkens, für das Emotionen und Gefühle schon immer ein zentrales Thema gewesen sind; und sie steht meiner Ansicht nach auch in der Tradition des Plessnerschen Körperleibs, zu dem Damasio mit seinem Fokus auf die Körperchemie und das enterische Nervensystem einiges zu ergänzen und beizutragen weiß. Die Gefühle sind Damasio zufolge der „mentale Ausdruck“ einer die körperlichen Stoffwechselprozesse stabilisierenden und damit das Überleben und das Gedeihen des Organismusses sicherstellenden Homöostase. (Vgl. Damasio 2017, S.14 und S.50f.) Die Homöostase gewährleistet darüberhinaus einen kontinuierlichen Evolutionsprozeß von den „frühen Lebensformen“ hin zu einer bis heute gültigen „außergewöhnlichen Partnerschaft von Körper und Nervensystem“. (Vgl. Damasio 2017, S.14)

Es ist diese „Partnerschaft zwischen Körper und Nervensystem“, die Plessners Körperleib entspricht, nämlich als Gegenüberstellung von Körper und Gehirn, in dem das Gehirn ein Organ unter Organen und gleichzeitig den übrigen Organen als etwas Besonderes gegenübergestellt ist. So schreibt auch Damasio:
„Die Geschichte über die Beziehungen zwischen Körper und Nervensystem muss neu erzählt werden. Der Körper, mit dem wir im Vergleich zu dem hochfliegenden Geist häufig so locker oder geradezu abschätzig umgehen, ist Teil eines ungeheuer komplexen Organismus aus kooperierenden Systemen, die aus kooperierenden Organen bestehen, die aus kooperierenden Zellen bestehen, die aus kooperierenden Molekülen bestehen, die aus kooperierenden Atomen bestehen, die schließlich aus kooperierenden Teilchen aufgebaut sind.“ (Damasio 2017, S.81f.)
„Physiologie der Wertigkeit“ (Hervorhebung DZ) meint, daß die Gefühle als mentaler Ausdruck der Homöostase uns über den inneren Zustand unseres Organismusses unterrichten. Alles, was im Organismus vor sich geht, wird von ihnen als gut oder als schlecht bewertet, als dem Überleben und Gedeihen förderlich oder hinderlich:
„Die Wertigkeit übersetzt den Lebenszustand unmittelbar von Augenblick zu Augenblick in mentale Begriffe.“ (Damasio 2017, S.120)
Die Wertigkeit ist Damasio zufolge „das definierende Element der Gefühle“. (Vgl. Damasio 2017, S.120) Letztlich vermittelt sie uns „ein Gefühl der Existenz“:
„Das vollständige Fehlen von Gefühlen wäre eine Aufhebung des Seins.“ (Damasio 2017, S.118)
Es gibt vor allem zwei Gruppen von Gefühlen, von denen die einen zur alten Innenwelt und die anderen zur neuen Innenwelt gehören. (Vgl. Damasio 2017, S.97f.) Zur alten Innenwelt zählt Damasio Herz, Lunge, Darm und Haut und die glatte Muskulatur; die zu ihr gehörenden Gefühle vermitteln uns Informationen vom Inneren unseres Organismusses. Zur neuen Innenwelt zählt er das Knochenskelett, die daran haftende quergestreifte Muskulatur und die darin eingebetteten „Sinnesportale“, also die klassischen Sinnesorgane, die uns Informationen von der Außenwelt vermitteln. (Vgl. Damasio, S.98ff., 147, 168, 178)

Diese Signalübermittlung funktioniert in beiden Innenwelten auf völlig verschiedenen Wegen; beide Innenwelten stehen aber in Wechselwirkung zueinander. In der alten Innenwelt beruht die Signalübermittlung auf chemischen Prozessen und auf dem enterischen Nervensystem, das Ähnlichkeiten mit den Nervennetzen von niederen Organismen wie etwa der Hydra hat (vgl. Damasio 2017, S.73ff.). Das enterische Nervensystem wird von Neurowissenschaftlern auch gerne als „zweites Gehirn“ bezeichnet. Damasio zieht es allerdings vor, vom „ersten Gehirn“ zu sprechen, weil es älter ist als das zentrale Nervensystem. (Vgl. Damasio 2017, S.74 und S.156f.) Außerdem ist es vom zentralen Nervensystem völlig unabhängig:
„Das Zentralnervensystem gibt an das enterische System keine Anweisungen, was es tun oder wie wie es sich verhalten soll, kann aber dessen Tätigkeit beeinflussen. Kurz gesagt, besteht ein ständiges ‚Zwiegespräch‘ zwischen enterischem Nervensystem und Zentralnervensystem, der Kommunikationsfluss verläuft größtenteils vom Darm zum Gehirn.“ (Damasio 2017, S.156)
Mithilfe des enterischen Nervensystems, aber auch über im Blut zirkulierende chemische Moleküle gelangen Informationen über den inneren Zustand des Organismusses direkt ins Gehirn. Nicht alle Teile des Gehirns sind durch die Blut-Hirn-Schranke vom Rest des Körpers abgetrennt. (Vgl. Damasio 2017, S.148) Zu diesen Bereichen gehören die „Area postrema“ auf der Ebene des Hirnstamms, die zirkumventrikulären Organe im Endhirn und die Spinalganglien:
„Diesem Befund zufolge übertragen die Neuronen selbst zwar periphere Signale an das Zentralnervensystem, sie sind mit dieser Tätigkeit aber nicht allein. Vielmehr haben sie Hilfe: Sie werden unmittelbar von Molekülen beeinflusst, die im Blut kreisen.“ (Damasio 2017, S.152)
Zu den Neuronen, die Informationen über den inneren Zustand an das Gehirn übermitteln, gehören die „C-Fasern“ des enterischen Nervensystems, die sich von Axonen des zentralen Nervensystems anatomisch unterscheiden: sie sind nicht myelinisiert. Die Myelinschicht um die Neuronen der neuen Innenwelt herum sorgt für eine effektive Isolierung der Fasern, so daß der bio-elektrische Prozeß beschleunigt wird:
„Myelin ist eine wichtige Errungenschaft der Evolution. es isoliert die Axone und schafft die Möglichkeit, dass sie Signale sehr schnell übertragen, weil am Axon entlang keine elektrischen Ströme verloren gehen. Unsere Wahrnehmung der Umwelt – was wir sehen, hören und berühren –, befindet sich nun in den gut isolierten, schnellen, sicheren Händen der myelinisierten Axone.“ (Damasio 2017, S.153)
Die nicht-myelinisierten Fasern des enterischen Nervensystems sind also langsamer. Nun könnte man natürlich sagen, sie seien veraltet wie etwa der Blinddarm. Damasio hingegen glaubt, daß die C-Fasern nicht myelinisiert sind, weil sie so für die Physiologie der Wertigkeit funktionaler sind:
„Unmyelinisierte Fasern bieten tatsächlich Voraussetzungen, die für die Erzeugung von Gefühlen so unentbehrlich sind, dass die Evolution es sich nicht leisten konnte, die kostbarsten Kabel zu isolieren und diese Gelegenheiten fahren zu lassen.“ (Damsio 2017, S.154)
Damasio vergleicht die C-Fasern mit den Saiten von Streichinstrumenten. Sie können über ihre ganze Länge ‚gezupft‘ werden. Außerdem ermöglichen sie noch einen weiteren neurologischen Effekt, der den isolierten Neuronen des zentralen Nervensystems fehlt:
„Da ihnen die Isolierung fehlt, können nebeneinander angeordnete unmyelinisierte Fasern – und wenn sie einen Nerv bilden, sind sie zwangsläufig nebeneinander angeordnet – elektrische Impulse durch einen Prozess übertragen, der unter dem Namen der Ephapse bekannt ist. Dabei werden die Impulse seitlich in einer Richtung weitergegeben, die im rechten Winkel zum Verlauf der Faser steht.“ (Damasio2017, S.154)
Auf diese Weise können C-Fasern die Signalübermittlung untereinander verstärken.

Damasios Blick auf die menschliche Physiologie ist also nicht wie bei den anderen Neurowissenschaftlern auf das Gehirn als das angeblich alles überragende und dominierende Steuerungsorgan beschränkt. Über die Gefühle und ihre Physiologie reicht das Bewußtsein weit in die automatischen, unserer wachen Aufmerksamkeit entzogenen Bereiche des Körpers hinein. In diesem Zusammenhang macht es keinen Sinn mehr, zwischen ‚veralteten‘ und ‚modernen‘ Organen zu unterscheiden. Insofern macht Damasios Kontinuitätspostulat Sinn; zumindest auf organischer Ebene.

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