„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Dienstag, 5. Juni 2018

Antonio Damasio, Im Anfang war das Gefühl. Der biologische Ursprung menschlicher Kultur, München 2017

1. Zusammenfassung
2. Physiologie der Wertigkeit
3. Algorithmen
4. Phänomenologie
5. Parallele Spuren: Apperzeption
6. Homunkulus
7. Big Data und Intuition
8. Kulturkrisen und Kulturkritik

Wo Kant von der Notwendigkeit spricht, daß wir unsere Erlebnisse und Wahrnehmungen mit einem „Ich denke“ begleiten können müssen, damit sie uns bewußt werden, behauptet Damasio dasselbe von den Gefühlen. Man könnte hier in Analogie zu Kants „transzendentaler Apperzeption“ von einer ‚pathischen‘ Apperzeption sprechen. Mit einem – mit Blick auf die Homunkulusproblematik – zwar verfänglichen, aber dennoch durchaus brauchbaren Bild spricht Damasio von einer Gefühlsspur, die wie die Tonspur auf einem Zelluloidfilm die Bilder unserer inneren und äußeren Wahrnehmungen begleitet und sie unablässig als gut oder schlecht bewertet. (Vgl. Damasio 2017, S.87, 105, 168f.)

Tatsächlich gibt es nicht nur eine Parallelspur, denn wir haben es mit zwei verschiedenen Gruppen von Bildern zu tun, den Bildern aus der alten Innenwelt der ‚Eingeweide‘ und den Bildern des Skelettgerüsts und der in ihm eingebetteten Sinnesportale, die uns mit Bildern von der Außenwelt versorgen. (Vgl. Damasio 2017, S.93, 97f.) Bei beiden Gruppen haben wir es mit Gefühlen zu tun, also mit Gefühlen, die Gefühle begleiten. Damasio spricht von „schichtweise aufgebauten“ Gefühlszuständen und bezeichnet sie als „ein typisches Kennzeichen des menschlichen Geistes“. (Vgl. Damasio 2017, S.135)

Hinzu kommt eine „verbale Spur“, die die parallel laufende Bilderzeugung in Worte und Sätze übersetzt (vgl. Damasio 2017, S.168). Diese Spur entspricht dem Kantischen „Ich denke“ noch besser und bildet eine gewissermaßen ‚verbale‘ Apperzeption.

Entsprechend dieser breitgefächerten Apperzeption besteht unser mentales Erleben darin, daß wir uns fortwährend Geschichten erzählen:
„Heute erzählen wir sowohl in nonverbaler quasi filmischer Weise als auch mit Worten unaufhörlich Geschichten und Bruchstücke von Geschichten. Wir erzählen sie ununterbrochen ganz privat und auch anderen.“ (Damasio 2017, S.168f.)
Über die verbale Spur werden die ‚Bilder‘ unseres inneren Erlebens für andere mitteilbar. Und auch für uns selbst werden sie so allererst verständlich. Die Zelluloidmetapher hat auch den Vorteil, daß sie die chronologische Ordnung, den Zeitpfeil, deutlich hervorhebt. Die Zeit bildet Kant zufolge den inneren Sinn des Menschen. Sie ordnet unser inneres Erleben so, wie die drei Dimensionen des Raumes unsere äußeren Wahrnehmungen ordnen. Die Arbeit an dieser chronologischen Zeitlinie ähnelt tatsächlich der Arbeit mit „filmähnliche(n) Sequenzen“, in die unser Gedächtnis ständig eigene Bilder, wie Damasio schreibt, ein-‚streut‘ (vgl. Damasio 2017, S.178), so daß wir uns das Erleben der Gegenwart „im Kontext der Erinnerungen an die Vergangenheit und der Vorstellungen von Zukunft ... unaufhörlich zurechtlegen“ (vgl. Damasio 2017, S.15).

Helmuth Plessner spricht angesichts dieser ‚ungenauen‘ Gedächtnisleistung von einer vermittelten Mitte. Die Menschen leben anders als die Tiere nicht im unmittelbaren Vollzug aus Aktion und Reaktion. Sie müssen sich ihre Mitte vermitteln. Auch dafür steht die Filmmetapher, mit der Damasio arbeitet. Allerdings schwankt Damasio bei der Darstellung dieser Gedächtnisleistung, indem er sie mal als Aneinanderreihung von Bildern, also als Narration beschreibt und mal als abstrakten Code. So werden Damasio zufolge die Gedächtnisinhalte als Code abgespeichert:
„Die Codes werden in den Assoziationsfeldern der Scheitel-, Schläfen-, Hinterhaupts- und Frontalregionen beider Gehirnhälften gespeichert. ... während des Erinnerungsprozesses rekonstruieren wir eine mehr oder weniger originalgetreue Annäherung an das ursprüngliche Bild; dazu nutzen wir die in umgekehrter Richtung verlaufenden Nervenbahnen, die von den Regionen mit den gespeicherten Codes ausgehen und in Arealen, die erstmals explizite Bilder zusammensetzen, ihre Wirkung erzielen – ein Prozess, den wir als Retroaktivierung bezeichnet haben.()“ (Damasio 2017, S.112)
Wo die analoge Metapher des Zelluloidfilms den Bildcharakter der Erinnerungen hervorhebt und Damasio dabei das Zusammenfügen von „Bruchstücken“ thematisiert, assoziieren wir mit dem „Code“ üblicherweise digitale Muster. Natürlich lassen sich auch Bilder codieren. Aber für „Berichte über den Lebenszustand im Inneren eines Organismus“ lehnt Damasio diese Assoziation an andereren Stellen explizit ab. (Vgl. Damasio 2017, S.122; vgl. auch S.127 u.ö.)

Das beste Bild für das Zusammenspiel der verschiedenen Bewußtseinsfunktionen liefert weder das Kino noch der Computer, sondern der Konzertsaal. Damasio vergleicht das Bewußtsein mit einer Orchesteraufführung, in der die Musik aus „aus dem Gedächtnis abgerufenen Gegenstände(n) und Ereignisse(n) in der Welt rund um unseren Organismus“ besteht, und in der die verschiedenen Instrumentengruppen „aus den wichtigsten Sinnesvorrichtungen“ bestehen, „mit deren Hilfe die Welt außer- und innerhalb eines Organismus mit dem Nervensystem in Wechselbeziehung tritt“. (Vgl. Damasio 2017, S.101)

Vom Dirigenten spricht Damasio an dieser Stelle, anders als in seinen früheren Büchern, nicht. In seinen früheren Büchern tritt dieser Dirigent von nirgendwoher an den Pult und verläßt ihn nach der Aufführung, niemand weiß wohin. Aber wenn der Dirigent den Taktstock ergreift, nimmt er das Orchester in Besitz und sorgt dafür, daß aus dem Klangchaos ein musikalisches Ereignis wird. Dieses Nirgendwoher und Nirgendwohin erinnert an Plessners exzentrische Positionalität und verhindert das Homunkulusmißverständnis.

Die Inbesitznahme des Orchesters durch den Dirigenten ist wiederum nichts anderes als Kants transzendentale Apperzeption. Damasio bezeichnet sie als subjektive „Perspektive“ bzw. als „Blickwinkel“ oder auch als „Standpunkt“. (Vgl. Damasio 2017, S.165, 171f.) Mit dieser subjektiven Zutat nimmt der Mensch die Welt in seinen Besitz. Er wird sich der Welt in seinem Innern und außen um ihn herum bewußt:
„Unter normalen Umständen, wenn wir wach und aufmerksam sind und uns weder aufregen noch angestrengt nachdenken, haben die Bilder, die uns durch den Kopf gehen, einen Blickwinkel: unseren. Wir erkennen uns spontan selbst als Subjekt unseres mentalen Erlebens.“ (Damasio 2017, S.165)
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