„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Montag, 26. Juni 2023

„Die Leichtigkeit des Verkehrs“

Zum StVG: Es gibt ein neues Straßenverkehrsgesetz (StVG), das den Kommunen mehr Freiheiten bei der Gestaltung des innerörtlichen Verkehrs geben soll. Aber an der zulässigen innerörtlichen Höchstgeschwindigkeit ändert das StVG nichts. Tatsächlich ist von ihr im StVG auch gar nicht die Rede. Da muß man in der StVO nachschauen. Dazu später mehr.

Der Bundesverkehrsminister (FDP) ist bei der Vorstellung des StVG dadurch aufgefallen, daß er der „Leichtigkeit des Verkehrs“ den Rang eines Verfassungsguts, der „Freiheit“, eingeräumt hat und diese Freiheitsgarantie ausdrücklich nur auf den Autoverkehr, den er mit dem Verkehr schlechthin gleichsetzt, bezieht. Im innerörtlichen Straßenverkehr sollen Autofahrer nicht auf ihre gewohnten 50 km/h verzichten müssen. Auch dazu später mehr, wenn ich auf die Straßenverkehrsordnung (StVO) eingehe.

In der StVG ist nur an vier Stellen von der „Leichtigkeit des Verkehrs“ die Rede. Hauptsächlich geht es dabei um das Aufstellen von Verkehrsschildern und um die „Abwehr von Gefahren für die Sicherheit oder Leichtigkeit des Verkehrs auf öffentlichen Straßen“ (§6, Abs.2 StVG). Bei dem Verfassungsgut, von dem Herr Wissing, besagter Bundesverkehrsminister, spricht, wird es wohl kaum um Verkehrsschilder gehen. Was aber hat es mit der Abwehr von Gefahren für die Sicherheit und Leichtigkeit des Verkehrs auf sich? Geht es dabei vielleicht um Gefahren, die der angeblich grundgesetzlichen Freiheitsgarantie, die Herr Wissing mit dem Recht, 50 km/h fahren zu dürfen, identifiziert, von den anderen Verkehrsteilnehmern drohen?

Dann müßte an erster Stelle einmal geklärt werden, wie der Straßenverkehr vom sonstigen Leben von Bewohnern einer Ortschaft und von Anwohnern einer Straße ‒ und niemand ist kein Anwohner einer Straße ‒ unterschieden werden kann. Inwiefern ist also der Straßenverkehr eine innerörtliche Verkehrspraxis sui generis, die sich von allen anderen Verkehrsformen von Bewohnerinnen und Bewohnern einer Ortschaft unterscheidet?

Dann müßte die Frage beantwortet werden, wie die verschiedenen grundgesetzlich garantierten Rechtsgüter von Anwohnern und Autoverkehr zu einem Ausgleich gebracht werden können, um dann zum Schluß zu klären, was das für die innerörtliche Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h bedeutet. Ich nehme nicht an, daß Herr Wissing in dieser Hinsicht irgendeine Rechtsgüterabwägung getroffen hat. In der StVG gibt es jedenfalls keine einzige Stelle zu dieser Frage.

Zur StVO: Ich bin kein Autofahrer. Ich bin Fußgänger und Radfahrer. Wenn also die zulässigen 50km/h laut Aussage von Herrn Wissung ein Verfassungsgut darstellen, das, wie ich implizit daraus schließen muß, nicht mit meinen ebenfalls grundgesetzlich geschützten Rechtsgütern abgewogen wurde, muß ich davon ausgehen, daß sich die StVO gegen mich wendet. Mich meint sie nicht. Meine Freiheit ist irrelevant. Schauen wir uns die StVO noch mal genauer an.

In der StVO ist auch von der „Leichtigkeit des Verkehrs“ die Rede. Aber da wird nicht weiter zwischen der Leichtigkeit (Freiheit) der Autofahrer und der Leichtigkeit der Radfahrer und Fußgänger differenziert. Vom Grundgesetz steht da auch kein Wort. Stattdessen geht es um den Abstand zwischen Verkehrszeichen und dem Beginn ihrer Geltung, im Interesse der „Leichtigkeit oder der Sicherheit des Verkehrs“. (Vgl. StVO §§ 41 und 42)

Allerdings ist in §2, Absatz 2, davon die Rede, daß „(o)hne triftigen Grund Kraftfahrzeuge nicht so langsam fahren (dürfen), dass sie den Verkehrsfluss behindern“. Und in Absatz 3 heißt es, daß „die zulässige Höchstgeschwindigkeit auch unter günstigsten Umständen () innerhalb geschlossener Ortschaften für alle Kraftfahrzeuge 50 km/h (beträgt)“.

Was ist damit gemeint, daß „(o)hne triftigen Grund Kraftfahrzeuge nicht so langsam fahren (dürfen), dass sie den Verkehrsfluss behindern“? Welcher Verkehrsfluß ist damit gemeint: der der Kraftfahrzeuge oder der der Fußgänger oder der der Radfahrer? Da die StVO anscheinend was gegen Langsamfahren hat, ist damit wohl nicht die Geschwindigkeit von Radfahrern und schon gar nicht von Fußgängern gemeint. Letztere kommen eher als Behinderung des Verkehrsflusses in Betracht. Tatsächlich muß die betreffende Stelle sogar so verstanden werden, daß jeder Autofahrer, der langsamer als 50 km/h fährt, gegen die StVO verstößt.

Was die Höchstgeschwindigkeit der Autofahrer betrifft, wird ihr aber nirgendwo in der StVO der Rang eines Verfassungsguts zuerkannt; sie ist lediglich ‒ und zwar nur unter günstigsten Umständen ‒ „zulässig“.

So weit also die StVO. Wie ist es aber nun mit dem Standpunkt des Bundesverkehrsministers? Tatsächlich fehlt in seinem Straßenverkehrsgesetz der kommunale Freiraum, innerorts flächendeckend Tempo 30 einzuführen. Und die StVO legt noch einmal extra fest, daß 50 km/h gesetzlich „zulässig“ sind. Alles andere, also das situationsangemessene Fahren ohne dabei die körperliche Unversehrtheit von nicht motorisierten Mitbürgerinnen und Mitbürgern zu bedrohen ist ganz der Kompetenz von Autofahrerinnen und Autofahrern überlassen. Die verhalten sich dabei allerdings tatsächlich gerne so, als ginge es vor allem um die Durchsetzung der ihnen zustehenden 50 km/h im Sinne eines Rechts auf Freiheit.

Ich bin Radfahrer. Meine Freiheit, unversehrt und unbedroht durch Autofahrer durch eine Ortschaft zu radeln, ist nach Ansicht des Herrn Wissing in der eigentlich nur den Abstand von Verkehrszeichen regulierenden „Leichtigkeit des Verkehrs“ nicht inbegriffen. Geschweige denn die Freiheit aller anderen Nicht-Autofahrer, unversehrt und unbedroht zu wohnen, einzukaufen, zu spielen, spazierenzugehen etc.

Wenn das die Quintessenz der StVO ist, sind sie und die StVG offensichtlich grundgesetzwidrig. Oder aber die Auslegung der StVO durch den Bundesverkehrsminister ist grundgesetzwidrig.

Frage: bin ich als potenziell Geschädigter einer fehlenden Rechtsgüterabwägung im StVG und der damit verbundenen Auslegungspraxis der StVO berechtigt, beim Verfassungsgericht dagegen zu klagen? Wenn schon nicht gegen die StVO, so doch vielleicht gegen Herrn Wissing?

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