„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Mittwoch, 29. März 2023

Noch ein paar Beispiele (Montaigne (1580/1998))

Jetzt komme ich doch nochmal auf einen Essay von Montaigne zu sprechen. In dem ersten Essay des zweiten Buchs, „Über die Wechselhaftigkeit unseres Handelns“ (vgl. Essais (1998), S.165ff.), finde ich ein Zitat, das ich vor sieben Jahren in einem Aufsatz von Charlotte Bretschneider, „Zum Beispiel Michel de Montaigne“ (2015), gelesen hatte und nach dem ich bislang insgeheim auf der Suche gewesen bin: „Wir bestehen alle nur aus buntscheckigen Fetzen, die so locker und lose aneinanderhängen, daß jeder von ihnen jeden Augenblick flattert, wie er will ...“ (Essais (1998), S.168, Sp.1) ‒ Dieses Zitat war damals für mich der Anlaß für zwei Vierzeiler über Gebetsfahnen gewesen.

Obwohl mich damals diese Textstelle so berührt hatte und obwohl ich mich jetzt über die Wiederentdeckung in dem Essay gefreut habe, machen doch diese erbärmlichen Beispiele, mit denen Montaigne hantiert, den guten Eindruck gleich wieder zunichte. Um die Wechselhaftigkeit der menschlichen Natur zu veranschaulichen, erzählt er die Geschichte einer jungen Frau, die aus Angst vor einer Vergewaltigung aus dem Fenster springt: „Während der blutigen Wirren in unserem armen Staat berichtete man mir, daß ein junges Mädchen sich ganz in der Nähe des Ortes, an dem ich mich aufhielt, aus dem Fenster gestürzt hatte, um der Vergewaltigung durch einen in ihrem Haus einquartierten Soldaten zu entgehn. Der Sturz war aber nicht tödlich, daher suchte sie ihr verzweifeltes Unternehmen auf andere Art fortzusetzen und sich die Kehle durchzuschneiden; hieran wußte man sie zwar zu hindern, jedoch erst, nachdem sie sich schwer verletzt hatte. Kurz hernach nun gestand sie, daß sie von dem Soldaten keineswegs weiter als mit Anträgen, Umwerbungen und Geschenken bedrängt worden sei; sie habe aber befürchtet, daß er schließlich doch noch Gewalt anwenden würde. Und dazu ihre Worte, ihre Gebärden und das vergoßne Blut ‒ wahrlich eine zweite Lucretia.“ (Essais (1998), S.166, Sp.1 und 2)

Dann aber, so Montaigne, stellte sich heraus, daß die junge Frau keineswegs so züchtig gewesen sei, wie diese Geschichte nahelegt. Sie hatte vielmehr schon einige Männer gehabt. Und er folgert daraus: „Schöner und anständiger Jüngling, wenn dein Eroberungsversuch mißglückt ist, schließ hieraus nicht gleich, die Keuschheit deiner Angebeteten sei unantastbar ‒ der Eselstreiber wird vielleicht sein Schäferstündchen finden.“ (Essais (1998), S.166, Sp.2)

So wird ein Vergewaltigungsversuch erst zu einem Heiratsantrag verniedlicht, und dann wird aus dem Opfer, das vielleicht nur erfolglos von seinem Recht, „Nein!“ zu sagen, hatte Gebrauch machen wollen, eine launische Prostituierte. Ansonsten interessiert sich Montaigne herzlich wenig dafür, was genau da eigentlich vorgefallen ist, daß es einen Menschen zu so einer verzweifelten Flucht veranlaßt haben konnte.

Auch bei den anderen Beispielen, die Montaigne für die Wechselhaftigkeit des Menschen anführt, wird vor allem eines deutlich: sein rigider, eindimensionaler Tugendbegriff. Frauen haben immer züchtig und sittsam zu sein, was sie launischer und wechselhafter Weise natürlich nicht sind; Soldaten haben immer tapfer und tollkühn zu sein (Montaigne bringt gleich mehrere von diesem Schema abweichende Beispiele: selbstverständlich alle launisch und wechselhaft); dann ist da noch der  Mann, der im Kampf sein Leben riskiert, aber sich dann launisch und wechselhaft „wie ein Weib“ verhält, weil er sich über den Verlust „seines Sohns die Haare rauft“; und sogar der ,große‛ Alexander, wie ihn Montaigne immer nennt, muß sich den Vorwurf gefallen lassen, daß er trotz all seiner tollkühnen Tapferkeit zu Zornausbrücken neigte und sogar abergläubisch gewesen sei, weshalb Montaigne den Verdacht äußert, daß dieser Alexander wohl doch eher ein ängstlicher Mensch gewesen sei. (Vgl. Essais (1998), S.166, Sp.2 und S.167, Sp.1 und 2)

Das Thema „Wechselhaftigkeit“ hätte sich zu einer ernstzunehmenden Anthropologie ausbauen lassen, die ihren Namen zu Recht trüge. Manche hätte das gereizt. Charlotte Bretschneider hatte in Montaigne so jemanden zu erkennen geglaubt. Ich kann ihr darin nicht folgen.

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