„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Samstag, 25. März 2023

Montaigne (1580/1998): „wie ein Paar an die Deichsel gespannte Pferde“

Montaigne hat von der ersten Publikation seiner „Essais“ 1580 bis zu seinem Tod 1592 an seinem Buch gearbeitet. Dabei ging es ihm vor allem darum, sich selbst zu verstehen. Ein Anliegen, das ich, so weit es mich selbst betrifft, mit ihm teile. Und auch daß seine Texte ihn bis zum Schluß nicht loslassen, daß er sie ständig nachkorrigierte und ergänzte, entspricht meiner Arbeitsweise in meinem Blog, so daß man durchaus sagen kann, daß es zwischen seinem ,Tagebuch‛ und meinem Weblog keinen Unterschied gibt, was die literarische Gattung betrifft.

Dennoch gibt es einen großen Unterschied in der Methode. Montaigne stellt nicht einfach Gedanken zur Diskussion. Er überfrachtet seine Essays mit so vielen Beispielen, daß die Gedanken, um die es geht, in den Hintergrund treten. Die Anekdoten aus seinem Bekanntenkreis, aus der Gesellschaft und Politik und aus der jüngeren und älteren Geschichte scheinen ihm wichtiger zu sein, als das jeweilige Thema, dem er seine Essays widmet. Anstatt seine Texte durch ständiges Nachkorrigieren zu verbessern, werden sie nur länger; und deshalb auch schlechter.

Montaigne hält ausdrücklich fest, daß es ihm bei seinen Beispielgeschichten nicht um deren historische Richtigkeit geht, ob also alles wirklich so stattgefunden hat, wie er es erzählt, sondern nur um die „Vernunftschlüsse“, die man seinen Beispielgeschichten entnehmen kann. (Vgl. Essais (1998), S.59, Sp.1) Das finde ich an sich akzeptabel. Jede Autorin, jeder Autor hat das Recht auf einen gewissen Anteil an Fiktion, wenn es um die Vermittlung eines wichtigen Gedankens geht. Aber Montaignes „Vernunftschlüsse“ sind nichts anderes als aus willkürlichen Launen hervorgehende Sinnsprüche, denen keine systematische Analyse zugrundeliegt und die im selben Text mal das eine und dann wieder das Gegenteil postulieren, ohne daß dazwischen irgendeine Gedankenentwicklung erkennbar wäre.

In seinem 23. Essay geht es laut Titel darum, daß wir sorgfältig mit Gewohnheitsrechten umgehen sollten. (Vgl. Essais (1998) S.60ff.) Über viele Seiten hinweg führt Montaigne zahlreiche Beispiele für die Schädlichkeit von Gewohnheiten an, in denen es immer um folgende zentrale Aussage geht: „In der Tat ist die Gewohnheit eine herrschsüchtige, dabei schleicherische Schulmeisterin. Ganz verstohlen, auf leisen Sohlen dehnt sie Stück für Stück ihren Machtbereich in uns aus. Aber hat sie nach diesen sanften und bescheidnen Anfängen mit Hilfe der Zeit erst einmal in uns Fuß gefaßt und sich seßhaft gemacht, läßt sie alsbald die Maske fallen und zeigt uns ihr grimmiges und tyrannisches Gesicht, gegen das auch nur den Blick zu heben wir nicht mehr die Freiheit haben.“ (Essais (1998), S.60, Sp.2)

Allmählich beginne ich mich beim Lesen zu fragen, was ich beim Titel des Essays wohl mißverstanden haben könnte, als plötzlich auf den letzten Seiten, ohne erläuternden Übergang, die Verwerflichkeit von „Neuerungen“ (vgl. Essais (1998), S.65ff.) im Zentrum des Textes steht. Althergebrachte Gesetze, so Montaigne, seien durch die Macht der Gewohnheit gerechtfertigt.

„Neuerungen“ hätten immer nur schädliche Folgen, führt Montaigne aus. (Vgl. Essais (1998), S.66, Sp.1) Dabei unterscheidet er zwischen einer „privaten“ und einer „göttlichen“ Vernunft (vg. Essais (1998) S.67, Sp.1), von denen er die erstere den einzelnen Menschen und die zweite den Gesetzen des Staates zuspricht. Anstatt also die Vernunft als eine unteilbare, allem Denken übergeordnete Instanz zu begreifen, reißt er sie in verschiedene Lebensbereiche auseinander und macht außerdem aus dem Gewohnheitsrecht einen religiösen Popanz.

Es bleibt sein Geheimnis, wie die beiden Teile seines Essays zusammenpassen. Immerhin bleibt festzuhalten: so wie Montaigne hier mit dem Begriff der Gewohnheit umgeht, macht er es auch bei allen anderen Begriffen, wie etwa mit dem Begriff des Urteilsvermögens, wo er mal die Unvereinbarkeit von Urteilskraft und Autoritätsgläubigkeit behauptet und dann im Gegenteil, sowohl im selben Essay wie auch im nächstfolgenden, die Unterwerfung unter und die Verehrung von Autoritäten mit der Urteilskraft gleichsetzt.

So bezeichnet Montaigne in dem 26. Essay über die Knabenerziehung das eigenständige Urteilsvermögen als das oberste Prinzip der Erziehung (vgl. Essais (1998) S.78, Sp.2 und S.83f.): „Der Lehrer ermuntere den Zögling, alles durchs eigene Sieb zu schlagen, und nichts setze er ihm lediglich kraft seiner Autorität und seines Ansehns in den Kopf; die Leitsätze des Aristoteles sollen für den Zögling ebensowenig Leitsätze sein wie die der Stoiker oder der Epikureer. Man breite diese ganze Vielfalt der Auffassungen vor ihm aus: er wird dann, wenn er kann, seine Wahl treffen; wenn nicht, möge er weiterzweifeln; nur Narren sind sich immer sicher und ein für allemal festgelegt.“ (Essais (1998), S.83, Sp.2)

Dann stellt Montaigne im selben Essay wieder die Gewöhnung in den Mittelpunkt, wofür er ein besonders drastisches Bild findet: „Körper und Seele, sagt Platon, solle man nicht getrennt voneinander heranbilden, sondern sie wie ein Paar an die Deichsel gespannte Pferde im gleichen Schritt führen.“ (Essais (1998), S.90, Sp.2)

Und im nächsten Essay schreibt Montaigne über historische Persönlichkeiten, wie etwa den „großen heiligen Augustinus“, der allen möglichen Schwachsinn über die Heilkraft von Reliquien von sich gibt, den Montaigne sich nicht entblödet, bis ins Detail nachzubeten: „Selbst wenn jene keine Gründe vorbrächten, würden sie mich allein durch ihre Autorität überzeugen.“ (Essais (1998), S.98, Sp.1)

Da fasse ich mich an den Kopf und sage: „Kürbis gedeihe!“

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