„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Mittwoch, 5. Februar 2020

Sprechverbote: ‚Flüchtling‘

Alle Welt spricht nur noch von ‚Geflüchteten‘.
Was ist mit ‚Säugling‘? – Darf man das jetzt auch nicht mehr sagen?
Oder ‚Liebling‘? – Ist das auch verboten?
Oder ‚Jüngling‘? – Ein schönes altes Wort, das niemand mehr gebraucht. Ein Problem?

Ich bin übrigens selbst ein Flüchtling. Jedesmal, wenn ich mich lesend in ein Buch vertiefe, flüchte ich aus dieser Welt in eine andere.

Sprache lebt von Mehrdeutigkeiten. Ihr Funktionsprinzip ist das der Metapher. Schaffe die Mehrdeutigkeiten ab, und Du schaffst die Sprache ab. ‚Flüchtling‘ könnte negative Konnotationen auslösen? Das kommt darauf an. Manchmal ja und manchmal nein. Wer der Ansicht ist, daß alle Sträflinge dieser Welt zurecht im Gefängnis sitzen, mag das so empfinden. Aber keine Zensur kann solche negativen Konnotationen abschaffen; auch nicht durch die Ersetzung eines Wortes durch ein anderes. Für mich jedenfalls hat das Wort etwas Positives: es deutet auf eine Alternative, eine Option, auf die Möglichkeit eines Entkommens. ‚Geflüchteter‘ hingegen hat in meinen Ohren eher etwas Fatalistisches, und es deutet eher auf einen Verlust als auf einen Gewinn.

Was ist der eigentliche Effekt solcher Sprechverbote? Sie schaffen zusätzliche Kommunikationsbarrieren in einer ohnehin schon kommunikationsgestörten Welt. Auf der einen Seite stehen diejenigen, die das Wort ‚Flüchtling‘ weiterhin verwenden, auf der anderen diejenigen, die ‚Geflüchtete‘ sagen. Wer das eine Wort verwendet, will mit denjenigen, die das andere Wort verwenden, nichts mehr zu tun haben.

Das ist das Schlimmste, was passieren kann. Wer sich nicht mehr traut, mehrdeutige Wörter zu verwenden und ihnen, wie Wittgenstein sagt, durch den Gebrauch allererst einen Sinn zu verleihen, schafft nicht nur die Sprache ab, sondern auch die Kommunikation.

Da fällt mir noch ein fieses Ling-Wort ein: Schmetterling! – Angesichts dessen, womit uns dieses Wort droht, möchte man glatt zum Geflüchteten werden. Doch nein! – Der Duden belehrt uns, daß ‚Schmetterling‘ so viel wie ‚Buttervogel‘ bedeutet.
Uff!

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