„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Mittwoch, 2. Januar 2019

Siri Hustvedt, Die Illusion der Gewissheit, Reinbek bei Hamburg 2018 (2016)

1. Zusammenfassung
2. Methode
3. Binärer Code und Dualismus
4. Sprache und Bedeutung
5. Entwicklungsprozesse

Zu Hustvedts Auseinandersetzung mit dem versteckten platonischen Dualismus der technologieorientierten Leitdisziplinen, der Evolutionspsychologie (vgl. Hustvedt 2018, S.44, 47, 86, 159, 163, 194u.ö.), der Künstlichen Intelligenzforschung (vgl. Hustvedt 2018, S.44, 186ff., 227, 232ff., 290ff.u.ö.) und der Neurowissenschaften (vgl. Hustvedt 2018, S.74ff., 198, 221ff., 334f., 358, 371u.ö) gehören über das ganze Buch verteilte, zum jeweiligen Anlaß passende Methodendiskussionen. Dabei legt Hustvedt ihre eigenen, aus der Literaturwissenschaft und ihrer schriftstellerischen Praxis herrührenden Präferenzen für die Phänomenologie und für die Psychoanalyse offen, „weil sich beide mit gelebter Erfahrung befassen“. (Vgl. Hustvedt 2018, S.375)

Im Unterschied zu der im Mainstream der Lebens- und Menschenwissenschaften populären Beschränkung auf biologische und kulturelle bzw. soziale Entwicklungsprozesse, die darüber hinaus noch entweder einander binär entgegengesetzt werden – nature contra nurture, Anlage contra Umwelt – oder aber auf ein gemeinsames, aus den Informationswissenschaften stammendes computationalistisches Paradigma zurückgeführt werden, das einen neuen Dualismus der Loslösung des ‚Geistes‘ von seinem Substrat beinhaltet, hebt Hustvedt die Bedeutung eines weiteren Entwicklungsprozesses hervor, den der individuellen Person:
„Die individuelle Entwicklung wird meistens ausgespart. ‚Umwelt‘ und genetische ‚Vererbung‘ sind die beiden Kategorien, unter denen Entwicklung subsumiert wird. Dieses rein binäre Programm verhindert, dass all die Veränderungen, die zwischen Geburt und dem Moment, in dem ein Mensch als Zahl in einer Statistik auftaucht, in den Blick rücken.“ (Hustvedt 2018, S.346)
Damit setzt sich Hustvedt von den Mainstreammethodiken der Statistik, der analytischen Philosophie und der Kybernetik (Informationsverarbeitungstheorien) ab. Hustvedt verweist auf das Problem, daß in den Lebens- und Menschenwissenschaften die „Einzelfallforschung“ keine Rolle mehr spielt. (Vgl. Hustvedt 2018, S.112f.) Es werden nur noch statistische ‚Daten‘ gesammelt, wobei in Vergessenheit gerät, daß Daten zum einen keine Fakten sind und zweitens interpretiert werden müssen, was wiederum die Subjektivität des Wissenschaftlers in den Fokus rückt:
„Daten müssen interpretiert werden. In der Wissenschaft müssen Schlüsse gezogen werden, und manche Interpretationen und Schlussfolgerungen sind eben subtiler und klüger als andere, wie jeder Mensch weiß, der viel Zeit mit dem Lesen von Fachartikeln verbringt. Wie subtil die Deutung ausfällt, hängt zudem von vielen Faktoren ab, unter anderem von der Bildung der interpretierenden Person, ihren Vorlieben und Gefühlen.“ (Vgl. Hustvedt 2018, S.149)
Gerade die scheinbar so objektive Erhebung statistischer Daten bleibt also ohne die Berücksichtigung lebensweltlicher Faktoren, also ohne Phänomenologie, problematisch.

Was die analytische Philosophie betrifft, hat sie immerhin den Vorteil, daß wir es hier zumeist mit ernstzunehmenden, bedeutenden Philosophen zu tun haben. Hustvedt zitiert zustimmend John Searles Kritik an der Künstlichen Intelligenzforschung (vgl. Hustvedt 2018, S.239), und sie bezieht sich auf Texte von Thomas Nagel, von denen ich in meinem Blog ebenfalls einen rezensiert habe: „Geist und Kosmos“ (2013) und „Wie ist es eine Fledermaus zu sein?“ (1974) (Vgl. Hustvedt 2018, S.200) – Schon mit der Titel-Frage nach dem subjektiven Erleben einer Fledermaus stellt sich Thomas Nagel in die Tradition der Phänomenologie. Allerdings kann er den analytischen Background nicht wirklich überwinden. Er glaubt an die Möglichkeit und Notwendigkeit einer ‚objektiven‘, von „Einfühlung und Phantasie“ unabhängigen Phänomenologie. Hustvedt widerspricht zurecht:
„Ich glaube, das ist unmöglich; Einfühlung und Phantasie lassen sich nicht von der Phänomenologie trennen ...“ (Hustvedt 2018, S.202)
Am Informationsverarbeitungsmodell kritisiert Hustvedt vor allem die Vorstellung von einer objektiven Kommunikation, in der sich wie in der Boolschen Algebra abstrakte Symbole von ihrer subjektiven Bedeutung trennen lassen. Hustvedt zitiert George Boole:
„All jene, die mit dem aktuellen Stand der Theorie der Symbolischen Mathematik vertraut sind, mögen wissen, dass die Gültigkeit der Analyseprozesse ganz unabhängig von den verwendeten Ausdrücken ist und allein auf den Gesetzen ihrer Kombinatorik beruht.“ (Zitiert nach Hustvedt 2018, S.187)
Diese Trennung von Symbol und Bedeutung bildet das Grundprinzip des Computationalismus: das menschliche Bewußtsein wird als Rechenmaschine modelliert, aber die Modellierungsarbeit wird als solche unkenntlich gemacht. Der Vergleich wird zur Identität: Geist als Maschine. (Vgl. Hustvedt 2018, S.162f. und S.193) Allerdings ist Hustvedt überzeugt, daß sich dieser Computationalismus inzwischen als falsch erwiesen hat und daß die Künstliche Intelligenzforschung seit vielen Jahren in einer Sackgasse steckt, aus der sie nur herausfindet, wenn sie ihre zentrale Prämisse, daß das menschliche Bewußtsein substratunabhängig sei, aufgibt:
„Die Computertechnik wird immer raffinierter und komplexer, dennoch glaube ich, dass der Computationalismus in seiner ursprünglichen, kognitionswissenschaftlichen Variante in den letzten Zügen liegt und als der falsche Weg in die Wissenschaftsgeschichte eingehen wird, der allerdings zeitweilig sehr dogmatische Züge annahm.“ (Hustvedt 2018, S.381)
Ich bin mir da nicht so sicher. Auch wenn der Computationalismus aus wissenschaftlicher Sicht eine Fehlentwicklung darstellt, so ist er doch sehr wirkmächtig. Eine technologieorientierte Gesellschaft neigt dazu, alles nach technologischen Kriterien zu beurteilen, auch sich selbst und auch die Menschen in ihr, die sich selbst wiederum entsprechend beurteilen und nach diesen Kriterien handeln. Wer glaubt, daß Menschen Maschinen sind und daß Maschinen denken können, wird seine eigenen Potenziale nicht mehr erkennen und verwirklichen können. Wer so denkt, wird nicht mehr wissen, was Denken ist. Diese Art der Posthumanität liegt meiner Ansicht nach noch lange nicht „in den letzten Zügen“, sondern beginnt gerade erst.

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