„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Samstag, 5. Januar 2019

Siri Hustvedt, Die Illusion der Gewissheit, Reinbek bei Hamburg 2018 (2016)

1. Zusammenfassung
2. Methode
3. Binärer Code und Dualismus
4. Sprache und Bedeutung
5. Entwicklungsprozesse

In diesem Blog vertrete ich seit dem ersten Blogpost vom 01.04.2010 die Auffassung, daß man den Menschen niemals nur aus einer Perspektive heraus verstehen kann und daß weder starre Formeln noch Wesensdefinitionen gehaltvolle Aussagen über unsere Menschlichkeit beinhalten können. Stattdessen müssen wir den Menschen als einen Anachronismus aus drei verschiedenen Entwicklungsprozessen begreifen: biologisch, kulturell und individuell. In diesem Sinne argumentiert auch Siri Husvedt, wenn sie festhält, daß Entwicklungspsychologen immer nur „Umwelt“ und „Vererbung“ fokussieren:
„Die individuelle Entwicklung wird meistens ausgespart.“ (Hustvedt 2018, S.346)
Hustvedt bezeichnet dieses Vorgehen als „binäre(s) Programm“, weil es verhindert, „dass all die Veränderungen, die zwischen Geburt und dem Moment, in dem ein Mensch als Zahl in einer Statistik auftaucht, in den Blick rücken“:
„Statistisch ist das zweckmäßig. Eine Ziffer am einen oder anderen Ende der Skala ersetzt eine ganze Entwicklungsgeschichte.“ (Hustvedt 2018, S.347)
Auch Fabrizio Benedetti, der zu Placebo-Effeken geforscht hat und auf das Zusammenwirken von individuellen, biologischen und sozialen Faktoren hingewiesen hat, bringt uns hier Hustvedt zufolge mit seiner „‚biopsychosoziale(n)‘ Herangehensweise“ nicht weiter:
„Wenn das Biologische dem Wesen nach tatsächlich sozial und das ‚Psyche‘ Genannte ein dynamisches biologisches Phänomen ist, das sich im Zusammenleben mit anderen herausbildet und durch den Gebrauch der Sprache immer vielschichtiger wird, dann erhält auch dieser Begriff womöglich eine Trennung aufrecht, die kontraproduktiv ist.“ (Hustvedt 2018, S.371)
Siri Hustvedt verweist auf den Umstand, daß im Begriff des ‚Biopsychosozialen“ der genaue Zusammenhang zwischen den drei Ebenen ungeklärt bleiben. Die verschiedenen Ebenen „schweben“ vielmehr „unverbunden übereinander“ (vgl. Hustvedt 2018, S.371):
„Die Frage bleibt, wann und wie aus Kultur Biologie wird. Radikal zugespitzt lautet sie: Inwiefern können biologische Tatsachen kulturell bedingt sein? Oder vielleicht besser: Wie verkörpern sich Vorstellungen?“ (Hustvedt 2018, S.137)
Mit der letzten Frage nach der „Verkörperung“ von Vorstellungen richtet sich der Fokus auf den individuellen, spätestens mit der Geburt beginnenden Entwicklungsprozeß und auf seine Funktion im anachronistischen Dreiklang aus Biologie, Sozialität und Individualität. Hustvedt nennt das wesentliche Moment, das den Zusammenhang zwischen den drei Entwicklungsprozessen ermöglicht, Narrativität. Es geht darum, daß Individuen eine Lebens-Geschichte haben, d.h. daß sie auf je verschiedene Weise den Zusammenhang zwischen den drei Entwicklungsprozessen narrativ organisieren, und das als zentrale Funktion der sinnsuchenden und sinnstiftenden Individuen selbst. Es geht darum sich die eigene Geschichte „als eine Geschichte zu erzählen“. (Vgl. Hustvedt 2018, S.346)

Diese Geschichte und das Erzählsubjekt bilden aber keine isolierten Monaden. Denn dann könnten sie ihre Funktion, die unverbunden ‚übereinander schwebenden‘ Entwicklungsprozesse aus Biologie, Sozialität und Individualität miteinander zu ‚vernähen‘, nicht erfüllen. Das Erzählsubjekt ist intersubjektiv, was die subjektive Perspektive nicht verschleiert, sondern allererst ermöglicht:
„Auch mein Geschlecht, meine Rasse, mein Alter, mein sexuelles Begehren und meine individuellen Gewohnheiten, die Sprache, die ich spreche, und meine früheren Erfahrungen, das alles beeinflusst meine Sicht der Dinge. Die Welt zeigt sich mir von meiner Warte aus, aber diese Perspektive wurde nicht allein von mir geformt. Sie ist abhängig von anderen Menschen und tief mit ihnen verwoben. Sie ist nicht bloß subjektiv, sie ist intersubjektiv.“ (Hustvedt 2018, S.327)
Die individuelle Erzählperspektive ist gleichermaßen persönlich, bewußt und unbewußt, „ein Narrativ, das bei den vorsprachlichen Rhythmen und Mustern aus frühesten Tagen einsetzt, welche untrennbar mit anderen Menschen verknüpft sind, mit jenen ersten Bindungsfiguren, die die Ausformung unserer sinnlichen, muskulären und emotionalen Rhythmen damals prägten, auf denen wiederum die später ausformulierten Erzählstränge beruhen, die den Bogen unserer je einzigartigen Existenz symbolisch aufspannen – weil das so ist, sind wir alle immer schon eng mit der Welt der anderen verwoben“. (Vgl. Hustvedt 2018, S.376)

Damit ist auch Hustvedts Frage nach der „Grenze des Individuums zu dem, was außerhalb von ihm oder ihr liegt“, beantwortet: sie verläuft durch das Individuum hindurch, und sie ist so beweglich und wandelbar wie dessen individuelle Lebensgeschichte. Diese Beweglichkeit der Grenze zwischen Innen und Außen findet ihren je individuellen Ausdruck in der Kinästhetik des Mensch-Weltverhältnisses und in den physiologischen „Anpassungsleistungen des Organismus“ (Hustvedt 2018, S.309), die alle unsere Sinneswahrnehmungen und inneren Empfindungen ununterbrochen begleiten und unterstützen und nicht auf einzelne Aktivitäten des Gehirns begrenzbar sind.

Plessner bezeichnet das als Körperleib. Wenn ich dieses ‚Zusammenspiel‘ aus Biologie, Sozialität und Individualität als anachronistisch bezeichne, versuche ich damit den Umstand zu berücksichtigen, daß dem individuellen Zentrum dieses dreifachen Prozesses weder eine formalisierbare Struktur noch ein Wesen zugrundeliegt. ‚Anachronistisch‘ meint hier Plessners ‚exzentrisch positioniert‘, nämlich auf der Grenze zwischen Innen und Außen, zwischen Biologie, Sozialität und Individualität.

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