„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Dienstag, 1. Januar 2019

Siri Hustvedt, Die Illusion der Gewissheit, Reinbek bei Hamburg 2018 (2016)

1. Zusammenfassung
2. Methode
3. Binärer Code und Dualismus
4. Sprache und Bedeutung
5. Entwicklungsprozesse

Als zentrales Thema ihres Buchs „Die Illusion der Gewissheit“ (2018) bezeichnet Siri Hustvedt, us-amerikanische Literaturwissenschaftlerin und Schriftstellerin, die Bereitschaft, zu zweifeln, und sie plädiert für eine Ambiguitätstoleranz, die es ermöglicht, eigene Überzeugungen zu hinterfragen und daraufhin zu prüfen, woher sie kommen. (Vgl. Hustvedt 2018, S.30) Kritischer Bezugspunkt ist René Descartes’ „cogito ergo sum“, dessen Gewißheitsanspruch zwar ebenfalls einen Primat des Zweifels kennt, aber dieser Zweifel wird getragen von einer abstrakt mathematischen Rationalität und richtet sich ausschließlich auf die körperleiblichen Empfindungen und Wahrnehmungen. Siri Hustwedt hingegen hebt die intuitiv-körperliche Herkunft des Zweifels hervor:
„Der Zweifel, den ich meine, setzt lange bevor er sich zu einem klaren Gedanken formen kann, ein. Er beginnt als leises Gefühl der Unzufriedenheit, ein Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmt, eine noch gestaltlose Ahnung, die, schwebend und gespannt zugleich, nach Ausdruck strebt, um sich schließlich als Frage in einer Sprache zu artikulieren, die ihr Raum bietet.“ (Hustvedt 2018, S.384)
René Descartes (1596-1650) steht mit seinem körperfeindlichen Rationalismus in der altehrwürdigen Tradition eines platonischen Dualismusses, der Körper und Geist einander entgegensetzt und dabei gleichzeitig den Körper im Vergleich zum Geist als bloßen Behälter abwertet und alle mit ihm verbundenen Affekte, die gesamte körperliche Physiologie, als eine Behinderung für die angestrebte rationale Erkenntnissicherheit denunziert. Hustvedt zeichnet in ihrem Buch detailliert den Weg dieses Dualismusses von der Antike bis hin zu den heutigen Künstliche-Intelligenzforschern und Neurophysiologen nach, die so stolz darauf sind, den Dualismus hinter sich gelassen zu haben, tatsächlich aber die alten dualistischen Muster reproduzieren. Dabei werden sie nach Kräften von der Politik und den Medien unterstützt, denn die gesellschaftliche Relevanz zeigt sich gerade in einer besonderen Variante dieses Dualismusses: in der Entgegensetzung von Frau und Mann, in der die Frau den Part des Körpers und der Mann den Part des Geistes einnehmen müssen, verbunden mit einer entsprechenden Abwertung der Frau:
„Der Refrain Nur weil die Geschlechter grundsätzlich unterschiedlich sind, bedeutet das nicht, dass ein Geschlecht dem anderen überlegen wäre, ist heutzutage zwar in aller Munde, doch wir tun gut daran, diesem Refrain zu misstrauen.“ (Hustvedt 2018, S.177)
Bei ihrer gleichermaßen historischen wie den aktuellen Stand der Forschung berücksichtigenden kritischen Reflexion des in verschiedenen Vatianten auftretenden Dualismusses von Körper/Geist, Materie/Information, Materie/Form, Frau/Mann und nicht zuletzt auch Außen/Innen, bezieht sich Hustvedt neben dem schon erwähnten Descartes u.a. auf Forscherinnen und Forscher wie Thomas Hobbes (1588-1679), Margaret Cavendish (1623-1673), Giambattista Vico (1666-1744), Johann Wolfgang Goethe (1749-1832), Charles Darwin (1809-1882), Sigmund Freud (1856-1939), Norbert Wiener (1894-1964), Alan Turing (1912-1954), Thomas Nagel (*1937), Richard Dawkins (*1941) und Steven Pinker (*1954).

Mit Margaret Cavendish stellt Hustvedt eine zeitgenössische Antagonistin von Descartes vor, die an der Einheit von Körper und Geist festhielt und diese Position mit zahlreichen Panpsychisten in der Wissenschaft bis in die Gegenwart hinein teilt. (Vgl. Hustvedt 2018, S.21f. u.ö. und S.385, Anm.11) Interessant ist auch Hustvedts Hinweis auf die enge Verbundenheit Darwins mit Goethe. (Vgl. Hustvedt 2018, S.166ff.) Darwin würdigte an Goethe, daß er viele Aspekte seiner Theorie vorweggenommen hatte. (Vgl. Hustvedt 2018, S.166) Darwin selbst habe in seinem umfangreichen Werk biologische Organismen nie mit Maschinen verglichen (vgl. Husvedt 2018, S.169f.), und er unterscheidet sich darin Hustvedt zufolge von Richard Dawkins, der das „egoistische Gen“ als „atomartige(n) Kodierungsmechanismus“ beschreibt. (Vgl. Husvedt 2018, S.169)

Richard Dawkins und Steven Pinker bilden in Hustvedts Buch die modernen Antagonisten zu Darwin und Goethe und repräsentieren den engen rationalistischen Zugriff auf Biologie und menschliches Bewußtsein im von Wirtschaft, Politik und Medien hochgeputschten naturalistischen Mainstream der Wissenschaft. Angesichts dessen, wie in der Wissenschaftsgeschichte gute Ideen von schlechten Ideen abgelöst wurden und noch in der Gegenwart die Forschung dominieren, bekennt sich Siri Hustvedt zu einer gewissen ‚zynischen‘ Abgeklärtheit:
„Ich gehöre nicht zu denen, die glauben, dass die neuesten Ideen immer die besten sind. Ganz im Gegenteil, meine Lektüren der Wissenschaftsgeschichte haben mich bisweilen eher zynisch auf das blicken lassen, was sich als Fortschritt ausgibt.“ (Hustvedt 2018, S.212)
Siri Hustvedt legt ihre eigene Position zwischen Computationalismus, also der Auffassung vom menschlichen Geist/Gehirn als Rechenmaschine, und Panpsychismus, der Vorstellung, daß organische und anorganische Materie beseelt bzw. begeistet sind, offen. Sie verweist auf ihren eigenen Werdegang, wie sie überhaupt dem biographischen Moment im wissenschaftlichen Erkenntnisprozeß eine hohe Bedeutung zumißt und zeigt, wie bestimmte wissenschaftliche Positionen mit individuellen Persönlichkeitsstrukturen und mit gesellschaftlichen Vorurteilsstrukturen korrespondieren:
„Es wäre aber Unsinn, zu leugnen, dass emotional prägende Ereignisse im Leben keinen Einfluss darauf hätten, in welchem Gebiet man sich spezialisiert und wie man an seine Arbeit herangeht. Die Gründe, warum uns manche Ideen fesseln und andere abstoßen, müssen uns dabei keineswegs bewusst sein.“ (Hustvedt 2018, 372; vgl. auch S.42, 49, 149)
Ihre eigene Präferenz für den intuitiven, vorreflexiven Anteil am wissenschaftlichen Erkenntnisprozeß und ihre Skepsis gegenüber einem abstrakten Rationalismus begründet Hustvedt mit ihrer Arbeit als Schriftstellerin:
„Ich selbst bin der Kunst des Romans tief verbunden, dem Zauber seiner biegsamen Form. Ich glaube fest an den Roman, und im Unterschied zu vielen anderen glaube ich, dass das Lesen von Romanen unseren Wissenshorizont erweitert und sie ein wunderbares Vehikel für neue Ideen sind. Ich verdiene meinen Lebensunterhalt mit dem Schreiben von Romanen. Dass mich die Phänomenologie und Psychoanalyse besonders anziehen, weil sich beide mit gelebter Erfahrung befassen, passt gut zu meinen literarischen Interessen.“ (Hustvedt 2018, S.375)
Es sind deshalb auch bestimmte Randgebiete der wissenschaftlichen Forschung, die Hustvedts besonderes Interesse wecken, weil sie besonderen Aufschluß über das menschliche Bewußtsein geben, und das vor allem insofern als sie bestimmte Fragen aufwerfen; denn Hustvedt interessiert sich weniger für Antworten als für Fragen. Auch das ist ein Merkmal der Mainstream-Wissenschaft: sie ist so sehr auf mögliche Anwendungen und die Entwicklung von Technologien fixiert, daß schnelle Antworten bevorzugt und kaum noch Fragen gestellt werden. Im Zweifel glaubt man lieber, was als gesichert gilt, als sich der Gefahr auszusetzen, auf zeitraubende wissenschaftliche Abwege zu geraten.

Hustvedts besonderes Interesse richtet sich vor allem auf Placeboeffekte, auf Hysterien, auf Konversionsstörungen und Scheinschwangerschaften. (Vgl. Hustvedt 2018, S.44) Diese Phänomene werfen Fragen zum Mensch-Weltverhältnis auf, die den cartesianischen Dualismus und dessen verschiedenen materialistischen Varianten im Physikalismus der Natur- und der Informationswissenschaften in Erklärungsnöte bringen. Was weder in der Kybernetik noch in der Hirnforschung und anderen Bereichen, in denen der Computationalismus besonders ausgeprägt ist, geklärt ist, ist die Frage, wie der ‚Geist‘ bzw. das ‚Bewußtsein‘ oder einfach die ‚Information‘ – ein Begriff der inzwischen weitgehend synonym für Geist oder Bewußtsein steht – mit dem Körper, also dem ‚Substrat‘, wechselwirkt.

Die Frage der Wechselwirkung von Körper und Geist bzw. Information bildet den blinden Fleck in der Aufmerksamkeit der Computationalisten. Ohne die Begriffe und Korrelationen zu definieren, wird einfach wild drauflosgeforscht. Hustvedt faßt den aktuellen Stand dieser Art Forschung nüchtern zusammen:
„Wir wissen nicht, wie psychologische Faktoren mit neurobiologischen Faktoren zusammenhängen. Dieses fehlende Bindeglied hat enorme Ausmaße. Jeder Verweis auf die ‚neuronalen Korrelate, Substrate oder Grundlagen‘ von Angst, Liebe, Erinnerung, Bewusstsein oder eines beliebigen anderen psychischen Zustands schließt dieses aufklaffende Wissensloch bei den Vorgängen zwischen Geist und Gehirn ein.“ (Hustvedt 2018, S.125)
Selten habe ich eine so klare, deutliche, erkenntnistheoretisch und wissenschaftshistorisch gut begründete Kritik der aktuellen Forschung im Bereich der Lebens- und Bewußtseinswissenschaften, also dem interdisziplinären Problembereich von Geistes- und Naturwissenschaften, gelesen. Vor dem Hintergrund meines ganzen bisherigen Blogs empfinde ich Siri Hustvedt als eine Schwester im Geiste und empfehle die Lektüre aufs Wärmste.

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