„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Mittwoch, 5. Dezember 2018

Slavoj Žižek, Disparitäten, Darmstadt 2018 (2016)

1. Methode und Zusammenfassung
2. Verbrennt Schiller!
3. Antihumanismus
4. Zum Realen und dem ganzen Rest
5. Noli excrementum tangere!

Hegels Dialektik, insbesondere der besondere ‚spekulative‘ Dreh einer rückwirkenden Versöhnung mit vergangenen individuellen wie gesellschaftlichen Ereignissen funktioniert nur, weil wir es hier nur mit Bewußtseinsphänomenen zu tun haben. Das gilt so auch noch für Karl Marx, der das Bewußtsein durch das Sein bestimmt sein lassen wollte, dabei aber das ‚Sein‘ – trotz des ganzen Materialismusgeredes – nicht als etwas dem gesellschaftlichen Bewußtsein Äußerliches konzipierte, sondern mit der Ökonomie, der gesellschaftlichen Produktionsweise gleichsetzte. Auch in Žižeks Buch ist nur von solchen gesellschaftlichen Bewußtseinsphänomenen die Rede, vom Klassenkampf, vom Stalinismus und überhaupt von der symbolischen Ordnung. (Vgl. Žižek 2018, S.125f.)

Žižek läßt keinen Zweifel daran, daß ihn eine Grenze nach außen, zur sinnlichen Welt, nicht interessiert. Die symbolische Ordnung ist nur in sich selbst begrenzt, als innersymbolische Differenz, A ist ungleich B und B ist ungleich A; eine Differenz, die, so Žižek, als „differenzielle(r) Charakter() sprachlicher Bezeichnungen“ das „ontologische() Primat“ gegenüber anderen bedeutungsstiftenden Mechanismen der Sprache hat. (Vgl. Žižek 2018, S.221) Der referentielle Charakter von Wörtern, also der Verweis auf etwas, was selbst kein Wort ist, wird von Žižek an dieser Stelle noch nicht einmal erwähnt.

Trotzdem gelingen Žižek gerade auf der Ebene individueller Sinnstiftung Beschreibungen subjektiver Selbstermächtigung, die an Plessners exzentrische Positionalität erinnern. Mit Bezug auf Adam Phillips, einem britischen Psychotherapeuten, beschreibt Žižek die Psychoanalyse als eine Methode zur Befreiung des subjektiven Begehrens aus seinen gesellschaftlichen Zwängen. (Vgl. Žižek 2018, S.249ff.) Demnach geht es in der Psychoanalyse nicht um Heilung, wie es Kritiker ihr immer wieder vorwarfen, mit Verweis auf die fehlende klinische Nachweisbarkeit von angeblichen Heilungserfolgen. Immer wieder wurde der Psychoanalyse Scharlatanerie vorgeworfen.

Adam Phillips hält dagegen, daß es in der Psychoanalyse vor allem um zwei Dinge geht: „das eigene Begehren zurückzugewinnen und zu verstehen, dass es nötig ist, sich nicht zu kennen“. (Vgl. Žižek 2018, S.249) – Helmuth Plessner hätte diesen Satz ohne weiteres mit seiner Anthropologie vereinbaren können. Der Mensch, der „ins Nichts“ gestellt ist (vgl. „Stufen des Organischen“ (1928/1975), S.316), ist mit sich selbst zerfallen (vgl. ebenda, S.321). Er weiß von sich selbst nicht, „ob er es noch ist, der weint und lacht, denkt und Entschlüsse faßt, oder dieses von ihm schon abgespaltene Selbst, der Andere in ihm, sein Gegenbild und vielleicht sein Gegenpol“. (Vgl. ebenda, S.298f.)

Sein Begehren zurückgewinnen zu wollen, ist also letztlich eine vergebliche Aufgabe, und darum geht es bei Phillips’ zweitem Punkt: „es ist nötig, sich nicht zu kennen“. Es geht darum, so Žižek, „dass der Patient sich von dem Bedürfnis nach Selbsterkenntnis befreit und so zum Handeln ohne Selbsterkenntnis befähigt wird“. (Vgl. Žižek 2018, S.249) – Um nichts anderes, um „Handeln ohne Selbsterkenntnis“, geht es auch bei dem, was Plessner mit Friedrich Nietzsche als zweite Naivität bezeichnet. (Vgl. „Die verspätete Nation“ (1959/1935), S.174) Wenn wir in Folge einer Lebenskrise (oder eben aufgrund einer Psychoanalyse) unsere erste Naivität verlieren und erkennen müssen, daß wir nicht das sind, was wir dachten, daß wir seien, geht es nun darum, nicht gleich wieder an eine neue Identität zu glauben, was nur ein Rückfall in die Naivität wäre, sondern zu lernen, so zu leben, als wären wir wir selbst, ohne es zu glauben. Wir müssen, wie Žižek schreibt, unserer inneren Leere gegenüber offen bleiben. (Vgl. Žižek 2018, S.251)

Genau diese Selbstpositionierung uns selbst und der Welt gegenüber bezeichnet Plessner als exzentrische Positionalität. Sie ermöglicht eine zweite Naivität. Hier zeigt sich, wie eng Žižeks Überlegungen an Plessners Anthropologie heranreichen. Um so wichtiger ist es deshalb, auf die fundamentalen Unterschiede hinzuweisen.

Plessners exzentrische Positionalität geht ähnlich wie Žižeks Subjekt aus einem Bruch hervor. Plessner spricht von einem „Hiatus“, Žižek von einer „Lücke“ und auch schon mal von einer „Kluft“. (Vgl. Žižek 2018, S.36) Aber bei Žižek öffnet sich diese Lücke innerhalb der symbolischen Ordnung, nämlich als Differenzsystem von Signifikanten, deren Bedeutungen durch den Unterschied zwischen ihnen gestiftet werden. ‚Frau‘ und ‚Mann‘ unterscheiden sich nicht körperlich-biologisch oder gesellschaftlich-funktional (im Sinne von Gender) voneinander, sondern dadurch, daß die Frau nicht Mann und der Mann nicht Frau ist, so daß sich zwischen ihnen eine Lücke öffnet, die beide mit einem „Phantasma“ voneinander füllen.

Bei Plessner hingegen öffnet sich der Hiatus nicht zwischen einer Reihe von Signifikanten, sondern zwischen uns und der Welt, zwischen Innen und Außen, wenn unser Begehren sich nicht erfüllt. Aus dem unerfüllten Begehren geht die exzentrische Positionalität hervor, die es uns ermöglicht, auf der Grenze zwischen Innen und Außen zu verharren und uns zu beidem ‚neutral‘ zu verhalten. Wir sind unserem Begehren nicht mehr ausgeliefert.

Eine weitere Konsequenz betrifft die Expressivität: unser Sagen (Außen) und Meinen (Innen) kommen nicht mehr zur Deckung, und zwar so fundamental, daß dieser Umstand geradezu zum bedeutungsstiftenden Moment wird. Was wir sagen, hat nur insofern eine Bedeutung, als das, was wir meinen, nicht darin aufgeht. Unser Begehren wird zur ‚Seele‘, zu einem „Geschöpf der Nacht“, das das Tageslicht scheut (vgl. „Grenzen der Gemeinschaft“ (1924), S.32) und das sich aus den gesprochenen Worten zurückzieht, aus Furcht, durchschaut zu werden. Sie bildet ein „Noli me tangere“, ein „Berühr-mich-nicht“. (Vgl. „Grenzen der Gemeinschaft“ (1924), S.65)

Während bei Plessner also die exzentrische Positionalität eine Neutralität beinhaltet, insbesondere gegenüber unserem eigenen Körper, der sowohl ein Außenweltobjekt (Körper) als auch ein Innenweltsubjekt (Leib) ist, also ein Körperleib, wird von Žižek die Außenwelt dämonisiert. Das Subjekt ist ein „unmögliches Objekt, das in seinem ganzen Sein eine Verkörperung seiner eigenen Unmöglichkeit darstellt“. (Vgl. Žižek 2018, S.57) Žižeks Subjekt ist zu keiner Neutralität seiner doppelten Erscheinungsweise gegenüber fähig. Es muß seinen Körper ‚abstoßen‘, es zu einem Abjekt machen, vor dem es sich dann nur noch ekeln kann. (Vgl. Žižek 2018, S.190ff.)

Plessners Seele verwandelt sich also in Žižeks Ekel, und an die Stelle von Plessners Expressivität treten Exkremente, deren Wesen darin besteht, nur noch negativ, als Gestank, auf die Grenze zwischen Innen und Außen verweisen zu können:
„Das Leben ist eine ekelerregende Sache, ein schäbiges Ding, das aus sich selbst herausdrängt, feuchte Wärme absondert, kriecht, stinkt, wächst. Die Geburt eines Menschen ist selbst ein alienartiges Ereignis, ein ungeheuerliches, monströses Geschehen, bei dem ein großer, dummer, haariger Körper aus dem Inneren eines Leibes hervorbricht und herumkriecht.“ (Žižek 2018, S.192)
Wo Plessner die Seele als „Noli me tangere!“ faßt, besteht Žižeks Ekel nur noch aus einem „Berühr das Unberührbare nicht!“. Hygiene und Allergie treten an die Stelle der Expressivität.

In dem Buch „Die Illusion der Gewissheit“ (2018), dessen Besprechung ich für Anfang Januar geplant habe, bezieht sich Siri Hustvedt auf ganz ähnliche Phantasien von Richard Dawkins:
„In ‚Der blinde Uhrmacher‘ (1987) legt Dawkins seine Grundannahmen offen. In der für ihn charakteristischen Deutlichkeit schreibt er: ‚Wenn wir das Leben verstehen wollen, so dürfen wir nicht an vibrierende, pochende Gele und Schlamme denken, sondern an Informationstechniken.‘()“ (Hustvedt 2018, S.183)
Siri Hustvedt verbindet die in dieser Textstelle zum Ausdruck kommende Geringschätzung organischen Lebens mit der Geringschätzung Frauen gegenüber und der Ablehnung der Vorstellung, dieses „Leben beginne ... im Körper einer Frau“. (Vgl. Hustvedt 2018, S.183f.) Die ‚trockene‘, sterile Informationsverarbeitungsmaschinerie soll den feuchten, ‚schmutzigen‘ Stoffwechselprozessen überlegen sein. Hustvedt hält dagegen, und sie übertrifft mit ihrer Eloquenz sogar Žižeks brutalste Männerphantasien und entlarvt sie gleichzeitig auf diese Weise:
„Der Mensch aus Fleisch und Blut ist nicht trocken, sondern feucht. Mir scheint, dass Dawkins’ ‚pochende Gele und Schlamme‘ Platzhalter für den feuchten, lebendigen Embryo oder den ganzen biologischen, stofflichen Körper sind. Mit dieser Umschreibung will er sich alles Feuchte und die enorme Komplexität der Embryonalentwicklung, die ‚näher zu betrachten‘ er ausdrücklich ablehnt, vom Leib halten. Das Computerparadigma des Geistes ... ‚trocknet‘ ihn aus auf handliche algorithmische Formeln. ... Wir Menschentiere nehmen die Welt auf verschiedene Weise in uns auf, beim Essen, Kauen und Atmen. Wir nehmen sie mit den Augen, den Ohren, der Nase auf, und wir schmecken sie auf der Zunge und spüren ihre Beschaffenheit auf unserer Haut. Wir urinieren und defäkieren und erbrechen uns, und wir weinen und spucken und schwitzen und menstruieren, produzieren Milch und Sperma, scheiden Vaginalsekrete aus und Rotz. ... Wir küssen und dringen auf vielerlei erotische Weisen in andere Menschen ein, wir kopulieren, und aus manchen körperlichen Verschlingungen entstehen Kinder. Und wenn eine Frau ein Kind gebiert, stößt sie es aus ihrem Körper heraus. Das Neugeborene tritt mit Blut und anderen Flüssigkeiten beschmiert in die Welt ein. .... Unser organischer Körper verwest, löst sich auf und verschwindet dann aus der Welt.“ (Hustvedt 2018, S.280f.)
Hustvedt bringt es auf den Punkt: Alle Vergleiche biologischer Organismen mit Informationstechniken und Informationsverarbeitung täuschen nur darüber hinweg, daß das Leben seinen Ursprung im Körper einer Frau hat!

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