„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Dienstag, 4. Dezember 2018

Slavoj Žižek, Disparitäten, Darmstadt 2018 (2016)

1. Methode und Zusammenfassung
2. Verbrennt Schiller!
3. Antihumanismus
4. Zum Realen und dem ganzen Rest
5. Vergleich mit Plessner

Zum Kreis der Denker, auf die sich Slavoj Žižek beruft, gehören neben Hegel, Freud und Heidegger auch Julia Kristeva (*1941) und Jacques Lacan (1901-1981). Žižek zufolge entspricht die von Lacan beschriebene Differenz zwischen dem Realen und der Realität Heideggers „ontologischer Differenz“. (Vgl. Žižek 2018, S.29) Was genau das Reale bzw. die Realität ist, wird von Žižek nicht definiert, sondern von den Lesern wird erwartet, daß sie diese Begriffe kennen. Entsprechend dem Gebrauch, den Žižek von ihnen macht, haben wir es bei dem Begriff der Realität mit einer Erfahrungsebene zu tun, die die Phänomenologen als „Lebenswelt“ bezeichnen. Die Realität, in der die Dinge „schlicht und einfach“ sind, „was sie zu sein scheinen“ (vgl. Žižek 2018, S.125), bildet Žižek zufolge ein „imaginäre(s) Gemisch von zurückliegenden Ereignissen und früheren Bewertungen“ (vgl. Žižek 2018, S.304).

Das Reale hingegen besteht aus allem, was in dieser Realität nicht aufgeht, also aus dem ganzen „Rest“. (Vgl. Žižek 2018, S.36) Mit Verweis auf Julia Kristevas „Abjektion“ läßt Žižek das Reale zwischen einem krakenartigen Geschichtsdämon, der unberechenbar die Meeresoberfläche oder die Erdkruste durchbricht und machtvolle Imperien zusammenbrechen läßt, und dem Elend der Geburt als Abscheidung des Kindes vom Mutterleib changieren. (Vgl. Žižek 2018, S.9, 12, 203f.) Für den ontologischen Status dieses Realen findet Žižek drastische Worte: der in der lebensweltlichen ‚Realität‘ nicht aufgehende ‚Rest‘ bildet „ein überschüssiges exkrementelles Element ohne Wert“, vergleichbar den Unberührbaren im indischen Kastensystem. (Vgl. Žižek 2018, S.22) Ein krasses Bild: Ausscheidungen, Sekrete, Geburten und gesellschaftliche Stratifizierung – alles dieselbe ontologische Kategorie! Sogar Christus ist nur eine Abstoßung Gottes von sich selbst. (Vgl. Žižek 2018, S.16)

Anders als bei den universellen Menschenrechten geht es hier nicht darum, die Unberührbaren den anderen Menschen gleichzustellen, sondern darum, „den exkrementellen Status zu verallgemeinern und auf die ganze Menschheit auszudehnen“. (Vgl. Žižek 2018, S.23) Mit anderen Worten: Die Orientierung nach oben, also die Anerkennung der Würde aller Menschen, wird durch eine Orientierung nach unten ersetzt. Niemand ist würdig, weil die Würde selbst verdächtig und im exkrementellen Sinne ‚anrüchig‘ ist.

Das Verhältnis zwischen dem Realen und der Realität bestimmt Žižek im Sinne der ontologischen Differenz als ein Wahrheitsverhältnis, und die Wahrheit befindet sich nicht auf Seiten der Realität, sondern auf Seiten des Realen. Das Reale bildet die „innere Wahrheit“ der „elenden Realität“. (Vgl. Žižek 2018, S.121)

Aus zwei Gründen haben wir es hier trotz der aufgezählten Parallelen zwischen Lacan/Žižeks ‚Realität‘ und der Lebenswelt mit dem Gegenteil einer Phänomenologie zu tun. Aus allgemein phänomenologischer Sicht gibt es weder eine Grenze der Lebenswelt, in dem Sinne, daß sie nicht ‚umfassend‘ genug sei, um alles zu beinhalten, noch gibt es eine innere Wahrheit, auf die die Lebenswelt zurückgeführt werden könnte. Die Lebenswelt ist allumfassend und weder wahr noch falsch. Sie kann zusammenbrechen, aber aus dem Zusammenbruch geht keine Wahrheit hervor.

Der zweite Grund, warum Lacan/Žižeks Realitätsbegriff und die Phänomenologie, um es mit Žižeks Worten zu sagen, ‚disparat‘ zueinander sind, hat mit Helmuth Plessner zu tun und besteht darin, daß Žižek zufolge mit der Realität keine Grenze zwischen Innen und Außen gezogen wird. (Vgl. Žižek 2018, S.203) Die Realität bei Lacan/Žižek bildet nur ein Epiphänomen der symbolischen Ordnung, „welche kein Außen hat (sobald wir in ihr wohnen), weil sie sich immer selbst voraussetzt“. (Vgl. Žižek 2018, 337)

Das menschliche Bewußtsein bzw. die symbolische Ordnung – denn letztlich deckt die symbolische Ordnung bei Lacan/Žižek alles ab, was das menschliche Bewußtsein ausmacht – konstituiert sich also nicht auf der Grenze zwischen Innen und Außen, wie bei Helmuth Plessner, sondern als Sprache, und die ist, sobald sie einmal da ist, immer schon dagewesen. (Vgl. Žižek 2018, S.338) Es gibt kein vorsprachliches Bewußtsein.

Das ist nicht nur im phänomenologischen Sinne nicht akzeptabel. Es stimmt auch etwas mit dieser „selbstbezüglich(en) Totalität“ (Žižek 2018, S.338) der symbolischen Ordnung nicht. In den Momenten, wo sich das Innere nach außen kehrt und das Reale in Form von Exkrementen, eiternden Wunden und anderen Sekreten sichtbar wird, reagieren wir darauf mit Ekel. (Vgl. Žižek 2018, S.190ff.) Dieser Ekel ist die einzige Form, in der Žižek den menschlichen Körper thematisiert. Als Basis und Ort von Bewußtseinserlebnissen kommt er bei ihm nicht vor. Dennoch schimmert gerade hier, im Ekel, etwas bei Žižek durch, ein seelisches Bedürfnis, das wir bereits von Plessner kennen und mit dem ich mich im nächsten und letzten Blogpost befassen will.

Download

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen