„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Samstag, 1. Dezember 2018

Slavoj Žižek, Disparitäten, Darmstadt 2018 (2016)

1. Methode und Zusammenfassung
2. Verbrennt Schiller!
3. Antihumanismus
4. Zum Realen und dem ganzen Rest
5. Vergleich mit Plessner

Schon lange frage ich mich, was das ‚spekulativ‘ in Hegels spekulativer Dialektik eigentlich bedeuten soll. Eine mögliche Erklärung, auf die ich immer wieder stoße, behauptet, ‚spekulativ‘ sei die Negativität, das unverdrossene Sich-Abwenden vom jeweils erreichten Erkenntnisstand, bis hin zum absoluten Geist, der dann aber nicht mehr verneint wird, sondern ein non plus ultra bildet, über das nicht mehr hinaus gegangen werden kann. Aber so richtig verstehen kann ich das Wort damit noch immer nicht.

Inzwischen lege ich mir das Wort etwas anders aus: Spekulation hat etwas mit der Zukunft zu tun. Wer spekuliert, bietet Versionen dessen an, was die ferne Zukunft bringen könnte. Das paßt zur ursprünglichen Bedeutung von ‚specula‘ (lat.), eine Art Spähposten, der nach allem Ausschau hält, was sich am Horizont abzeichnet. Nicht umsonst spricht man auch von Börsenspekulationen. Auch Hegel spekuliert auf der Basis der bisherigen Entwicklung über die Zukunft der Gesellschaft und der Menschheit.

Immanuel Kant hatte Probleme mit solchen Projektionen von vergangenen und aktuellen Daten auf die zukünftige Entwicklung. Er nannte das „progressive Synthesis“ und bevorzugte stattdessen die „regressive Synthesis“, also den Blick zurück in die Vergangenheit, weil wir von ihr eine konkrete Anschauung haben, sogar von der fernsten Vergangenheit in Form von Sedimenten und Fossilien. Mit solchen Anschauungen kann unser Verstand arbeiten.

Der Titel von Hegels „Phänomenologie des Geistes“ (1807) führt deshalb auf die falsche Spur: mit Phänomenologie hat dieses Buch gar nichts zu tun. Spekulation ist kein Bestandteil der Phänomenologie! – Das zeigt sich schon darin, daß bei Hegel der Schein immer falscher Schein ist, und die „Wahrheit“ immer „auf der Seite der Abstraktion, Reduktion und Subtraktion“ liegt. (Vgl. Žižek 2018, S.19) Žižek weist ausdrücklich darauf hin, daß die Hegelsche Dialektik sich nicht für unsere Alltagsintuitionen interessiert:
„Es ist dieser spekulative Kern von Hegels Denken, der ihn zu einem notorisch ‚schwierigen‘ Autor macht: Viele seiner Ausführungen laufen unserem Alltagsverständnis zuwider ...“ (Žižek 2018, S.110)
Wenn es um die derzeit avancierteste wissenschaftliche Disziplin geht, entscheidet sich Žižek gegen die Biologie (Evolutionsbiologie, Biogenetik und Neurowissenschaft) und für die Quantenphysik (vgl. Žižek 2018, S.50ff.), gerade weil sie so durch und durch  kontraintuitiv ist, daß sie kein Mensch verstehen kann und die deshalb sehr viel mit Hegel gemeinsam hat:
„In gewissem Sinne ist auch die moderne Wissenschaft bereits ‚posthuman‘, da sich ihr Universum nicht auf unsere normale menschliche Realität zurückführen lässt. Wie Richard Feyman vor Jahrzehnten sagte, ist niemand imstande, die Quantenphysik wirklich zu ‚verstehen‘, weil ‚verstehen‘ heißt, die Dinge in den Worten unseres Alltagsverständnisses der Realität wiederzugeben – das Quantenuniversum ist und bleibt unserer Lebenswelt für immer fremd, ‚kontraintuitiv‘.“ (Žižek 2018, S.37)
Was Žižek an der Quantenphysik entzückt, ist ihre „Kontrafaktizität“ (vgl. Žižek 2018, S.329ff.), also ihr Widerspruch zu allem bloß Faktischen, sinnlich Erfahrbaren, weshalb er sie hegelianisch deutet und Hegel wiederum quantenphysikalisch.

Ich kann mit so einer anschauungsfreien, ja anschauungswidrigen Philosophie nichts anfangen, weshalb ich bisher aller Hegelei immer aus dem Weg gegangen bin. Wenn ich mich jetzt trotzdem mit Slavoj Žižeks Buch „Disparitäten“ (2016/2018) befasse, so liegt das vor allem an dem Titel, der mich neugierig gemacht hat, obwohl Žižeks wichtigster Gewährsmann Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831) ist. Sowohl der Titel als auch die eine und andere Textstelle bei einem ersten Durchblättern des Buches in der Buchhandlung erinnerte mich an Helmuth Plessner (1892-1985), und ich wollte es genauer wissen.

Wie aber gehe ich jetzt in meiner Rezension mit einem Buch um, dessen wesentlichen Aussagen auf der Basis einer spekulativ-dialektischen Argumentation beruhen? Einer Argumentation, die von sich selbst zugibt, umwegig und für die meisten Menschen schwer bis gar nicht verständlich zu sein? – Indem ich mich nicht auf Žižeks Argumentation einlasse, sondern mich ausschließlich mit einigen seiner Aussagen befasse und prüfe, inwieweit sie mit meinen Anschauungen übereinstimmen oder auch nicht! Ich halte mich an den sogenannten gesunden Menschenverstand, wobei das Wort ‚gesund‘ mißverständlich ist. Mein eigener Anachronismus ist weit entfernt von jeder Vorstellung von Gesundheit.

Aber gerade weil ich meinen eigenen Anachronismus kenne und akzeptiere, kann ich von einer zweiten Naivität (Nietzsche/Plessner) aus darüber urteilen, inwieweit Žižek bestimmte Knackpunkte unserer Zeit trifft. Nur so kann ich vermeiden, selbst zu ‚hegeln‘. Was es mit dieser zweiten Naivität auf sich hat, werde ich im letzten Blogpost detaillierter erläutern.

Mit einem besonders gelungenen Vergleich beschreibt Žižek Hegels Methode: sie hängt wie eine Comicfigur in der Luft, die über einen Abgrund rennt und „erst herunterfällt, wenn sie nach unten schaut“. (Vgl. Žižek 2018, S.135) – Hegels Methode hängt in der Luft, weil sie sich gleich im ersten Denkakt von aller sinnlichen Anschauung abstößt und nur noch von Begriff zu Begriff voranschreitet. Die erste Abstoßung der Sinnlichkeit bezeichnet Hegel als „Gegenstoß“, die darauf folgende dialektische Reflexion bezeichnet Hegel als „absoluten Gegenstoß“, weil sie sich von nun an nur noch von sich selbst abstößt. (Vgl. Žižek 2018, S.109f. und S.162) Žižek vergleicht Hegels Begriffsuniversum mit Jacques Lacans (1901-1981) symbolischer Ordnung, die ebenfalls ‚in der Luft hängt‘ (vgl. Žižek 2018, S.112), weil Lacan zufolge die Bedeutung eines Signifikanten (Wortes) ebenfalls rein negativ bestimmt ist, also durch all jene Signifikanten (Wörter) im gleichen Symboluniversum, die dieser Signifikant nicht ist.

Žižek bezeichnet diese Differenz als „Disparität“ bzw. als „Lücke“. Es ist dieser Begriff der Lücke, der mich neugierig gemacht hatte, weil ich wissen wollte, ob er vielleicht etwas mit Plessners „Hiatus“ zu tun hat. Ich werde im letzten Blogpost darauf zurückkommen.

Im dialektischen Prozeß sind also die Begriffe nicht durch Anschauungen geerdet, sondern sie bedeuten nur etwas, insofern sie etwas anderes nicht sind; sie sind ‚disparat‘ zueinander. Diese Abstoßung vom jeweils Anderen eröffnet nun Žižek zufolge zwischen den Begriffen eine Lücke, eine Leerstelle, die wir mit einem „Schein“ (Hegel) bzw. mit einem „Phantasma“ (Lacan) füllen. Mit Blick auf die Geschlechterdifferenz meint Lacan, daß ‚Frau‘ und ‚Mann‘ keine Gegensätze bilden und sich auch nicht wechselseitig zu einem Ganzen ergänzen, sondern die „Leerstelle“, die sich zwischen der Frau und dem Mann öffnet, wird durch das Phantasma des jeweils anderen ausgefüllt. (Vgl. Žižek 2018, S.17)

Žižek zufolge trifft das auf alle Bewußtseinsphänomene (Begriffe) zu, auch auf gesellschaftliche Phänomene wie den Klassenkampf (vgl. Žižek 2018, S.125) und den Stalinismus (vgl. Žižek 2018, S.126). Hegels dialektische Methode bietet nun die Möglichkeit, alle diese Disparitäten, diese mit Phantasmen gefüllten Leerstellen, aufzuheben, sowohl auf individueller wie auch auf geschichtlicher Ebene. Er nennt das „Versöhnung“. (Vgl. Žižek 2018, S.121) Diese Versöhnung geschieht ‚rückwirkend‘. (Vgl. Žižek 2018, S.127-129) Individuen können sich rückwirkend mit ihrem Leben versöhnen und in gesellschaftlichen Prozessen können rückwirkend frühere Ereignisse uminterpretiert werden. Als negatives Beispiel verweist Žižek auf die nachträgliche Traumatisierung eines Kindheitserlebnisses. Ein Kind beobachtet den Beischlaf seiner Eltern, aber erst mit der beginnenden Pubertät wird die Erinnerung daran traumatisch:
„Die Szene wurde von ihm erst rückwirkend traumatisiert, zu einem traumatischen Realen erhöht, um den Umstand zu  bewältigen, dass es mit seinem symbolischen Universum in eine Sackgasse geraten war (keine Antworten auf das Rätsel der Sexualität finden konnte).“ (Žižek 2018, S.131)
Im positiven Sinne kann eine Psychoanalyse dazu beitragen, Kindheitserlebnisse so umzuinterpretieren, daß die Klienten ihrem Begehren gegenüber frei werden und es so unabhängig von der Sexualmoral ihrer Gesellschaft wieder leben können. (Vgl. Žižek 2018, S.249ff.)

Was auf individueller Ebene einleuchtet, ist aber auf historisch-gesellschaftlicher Ebene problematisch. Hegel meinte tatsächlich, daß eine Versöhnung mit der gesellschaftlichen Entfremdung möglich sei, und zwar nicht im Sinne einer Überwindung der Entfremdung bzw. im Sinne einer Überwindung der betreffenden gesellschaftlichen Verhältnisse, sondern in dem Sinne, daß wir die Entfremdung neu interpretieren. Demnach leiden wir nicht einfach unter der Entfremdung, so als wäre sie etwas uns Äußerliches und Fremdes und als hätte es uns als die, die wir sind, schon vor der Entfremdung gegeben:
„Es gibt kein Selbst, das der Entfremdung bereits zugrundeliegt. Das Selbst entsteht erst durch seine Entfremdung, die Entfremdung ist sein Konstitutionsmerkmal (oder, um es mit Lacan zu sagen, das Subjekt ist konstitutiv ‚gebarrt/ausgestrichen‘).“ (Žižek 2018, S.49)
Wollten wir die Entfremdung einfach abschaffen, würden wir auch uns selbst abschaffen. Indem wir uns also ‚rückwirkend‘ mit der historisch-gesellschaftlichen Entfremdung versöhnen, versöhnen wir uns mit uns selbst.

Der Zynismus, der dieser Versöhnungsfigur zugrundeliegt, wird deutlich, wenn wir diese rückwirkende Versöhnung auf historische Ereignisse wie die französische Revolution oder, noch bedenklicher, den Holocaust beziehen. Die Versöhnung geht regelrecht über Leichen, denn all die Toten, die diesen historischen Ereignissen zum Opfer gefallen sind, haben nichts mehr von der Versöhnung. Žižek hält deshalb ausdrücklich fest, daß der Holocaust von solchen Versöhnungsversuchen ausgenommen werden muß. Weder ist der Holocaust eine bloße „Pathologie“, die „nicht in den angestammten Bereich des Geistes gehört“, noch läßt er eine Versöhnungsperspektive zu. (Vgl. Žižek 2018, S.144)

Žižek scheint der Ansicht zu sein, daß Hegels Versöhnungsbegriff nach wie vor aktuell ist und nur nicht auf den Holocaust angewendet werden dürfe. Wenn aber der Holocaust eine dialektische Sackgasse bildet, dann verliert die spekulative Dialektik mit ihrem universellen Anspruch ihre Gültigkeit. Eine bloß partielle Versöhnung ist bei Hegel nicht vorgesehen. Hinzu kommt, daß nach wie vor all die anderen Opfer der Geschichte zu Opfern einer Versöhnung der (noch) Lebenden mit sich selbst gemacht werden.

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