„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Sonntag, 2. Dezember 2018

Slavoj Žižek, Disparitäten, Darmstadt 2018 (2016)

1. Methode und Zusammenfassung
2. Verschont Heidegger! Verbrennt Schiller!
3. Antihumanismus
4. Zum Realen und dem ganzen Rest
5. Vergleich mit Plessner

Slavoj Žižek legt eine bedenkliche Neigung an den Tag, zwielichtigen Geistesgrößen einen Persilschein auszustellen und dafür andere mit makellosem Ruf mit großem verbalem Pomp von ihrem ehrbaren Sockel zu stoßen. Konkret handelt es sich hierbei, in dieser Reihenfolge, um Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831), Martin Heidegger (1889-1976) und Johann Christoph Friedrich von Schiller (1759-1805).

Hegels Wahnsinn: Ein Kapitel seines Buches hat die Überschrift „Gegen die Versuche, Hegel wieder zu normalisieren“ (Žižek 2018, S.109ff.). Ich bin schon im vorangegangenen Blogpost auf Žižeks Sympathie für Wissensformen eingegangen, die für Menschen, die über einen ‚normalen‘ Verstand verfügen, unverständlich sind. Aus diesem Grund favorisiert Žižek z.B. auch die Quantenphysik gegenüber anderen, für unser modernes Leben nicht minder konstitutiven Fachgebieten. (Vgl. Žižek 2018, S.329ff.) So ist es für Hegel auch keineswegs von Nachteil, wenn Žižek ihn als „notorisch ‚schwierigen‘ Autor“ bezeichnet (vgl. Žižek 2018, S.110), was er sogar noch steigert, indem er von „Hegels Wahnsinn“ spricht (vgl. Žižek 2018, S.109f.).

Anstatt Hegel daraus einen Strick zu drehen, beharrt Žižek entgegen den Versuchen z.B. von Robert Brandem (2017), Hegel verständlicher zu machen, darauf, daß es gerade dieser „Wahnsinn“ sei, der die Wahrheit von Hegels Denken ausmache. Alle Normalisierungsversuche nehmen Hegel Žižek zufolge den letzten spekulativen Dreh, der Žižeks Ansicht nach darin besteht, daß es Hegel gar nicht um die Zukunft der Menschheitsentwicklung gehe, sondern um ihre Vergangenheit, nämlich um die Versöhnung mit ihr. (Vgl. Žižek 2018, S.110)

Heideggers Kriminalität: Ich bin auf Žižeks These schon im vorangegangenen Blogpost eingegangen und will es an dieser Stelle bei diesem Hinweis belassen. Daran, worum genau es Hegel ging oder nicht, liegt mir nichts. Was mich aber tatsächlich aufmerken läßt, ist Žižeks Versuch, Heidegger von jeglicher politischen Verantwortung für sein Philosophieren während des Nationalsozialismus (und danach) freizusprechen. Das entsprechende Kapitel trägt die Überschrift „Warum Heidegger nicht kriminalisiert werden sollte“. (Vgl. Žižek 2018, S.279ff.) Hegels Wahnsinn also soll unangetastet bleiben, Heidegger hingegen muß entkriminalisiert werden?

Mit ‚Kriminalisierung‘ ist die vermeintliche Skandalisierung der Heideggerschen Philosophie im Zuge der Publikation der ersten vier schwarzen Hefte, den privaten Notizen Heideggers „von 1931 bis in die frühen 1960er Jahre“ gemeint. „(A)ngeblich“, so Žižek, bezeugen diese Notizen „seinen Antisemitismus und ebenso seine anhaltende Treue dem Vorhaben der Nazis gegenüber“. (Vgl. Žižek 2018, S.280) Mit der rhetorischen Verwendung des Wortes „angeblich“ erweckt Žižek den Eindruck, daß an diesen Vorwürfen gegen Heidegger nichts dran sei. Tatsächlich leitet sie aber nur die Verharmlosung der folgenden von Žižek aufgelisteten Belege aus den Notizen und anderen Schriften Heideggers ein, aus denen eindeutig und unbestreitbar hervorgeht, daß wir es bei Heidegger mit einem ausgewachsenen und überzeugten Alt-Nazi und Antisemiten zu tun haben.

Letztlich muß auch diese Aufzählung der inzwischen allseits bekannten Textstellen als Teil von Žižeks Verharmlosungsstrategie verstanden werden; denn so erscheint Žižek als unabhängiger Beobachter, dessen abschließendes Urteil,
  • daß Heideggers Antisemitismus im Werkganzen „verhältnismäßig marginal“ sei (vgl. Žižek 2018, S.281),
  • „dass sich sein Gedankengebäude nicht auf irgendeinen nationalsozialistischen Kern reduzieren lässt“ (vgl. Žižek 2018, S.283)
  • und daß dieses Gedankengebäude „genuin ‚unentscheidbar‘“ sei „und ... mithin unterschiedliche Lesarten zu(lässt)“ (vgl. ebenda),
einen seriösen und plausiblen Eindruck vermittelt.

Worum genau aber handelt es sich bei den von Žižek tatsächlich zugegebenen antisemitischen und nationalsozialistischen Inhalten? – Hier eine kurze Zusammenfassung: Heidegger warf Hitler vor, der „innere(n) metaphysischen Größe“ des Nationalsozialismus nicht gerecht geworden zu sein. (Vgl. Žižek 2018, S.280) Zu dieser metaphysischen Größe gehört der Barbarismus (also inklusive Judenvernichtung). (Vgl. Žižek 2018, S.281) Insgesamt war Hitler also in Heideggers Augen nicht nationalsozialistisch genug. Außerdem ist nach Heideggers Ansicht das „Weltjudentum“ der Hauptschuldige an der „technologische(n) Zersetzung des Seins in seiner Totalität“, weshalb es auch selbst schuld an den nationalsozialistischen Vernichtungslagern ist, die, so gesehen, „als Akt der jüdischen Selbstvernichtung verstanden werden“ können. (Vgl. Žižek 2018, S.282)

Was Heideggers Umdeutung des Holocaust als „Akt der jüdischen Selbstvernichtung“ betrifft, zeigt sich auch Žižek selbst als entsetzt und er bezeichnet sie als „obszön“. (Vgl. Žižek 2018, S.282) Mit aller wünschenswerten Deutlichkeit hält Žižek fest, daß es sich beim Holocaust um einen „Teil der ureigensten Geschichte des Geistes“ handelt, den wir mit keiner relativierenden Pathologisierung aus dieser Geschichte wegdiskutieren können und auch nicht dürfen. (Vgl. Žižek 2018, S.144) Trotzdem hindert ihn das nicht daran, Heidegger den erwähnten Persilschein auszustellen:
„Gegen die ständigen Forderungen, Heideggers Denken glattweg als kriminell einzustufen, sollte man darauf bestehen, dass er ein wirklich klassischer Philosoph ist.“ (Žižek 2018, S.284)
Schillers Protofaschismus: Ist vielleicht schon mancher über Žižeks Generösität gegenüber Heidegger erstaunt, so verblüfft es vollends, wenn er direkt im Anschluß an Heidegger in dem Kapitel „Die Geburt des Faschismus aus dem Geiste des Schönen“ (vgl. Žižek 2018, S.285ff.) über Schiller den Stab bricht und ihn als Protofaschisten entlarvt (vgl. Žižek 2018, S.285). Dabei scheut Žižek auch vor drastischen Formulierungen nicht zurück. Schillers „Lied von der Glocke“ habe es Žižek zufolge verdient, „öffentlich verbrannt zu werden“; denn:
„Darin ist alles enthalten, was eine Konterrevolution faschistischer Prägung ausmacht.“ (Žižek 2018, S.285)
Nun will ich keineswegs „Das Lied von der Glocke“ verteidigen. Allerdings muß man es auch nicht gleich verbrennen wollen – eine Formulierung, mit der sich Žižek, der sich gerade noch mit Heideggers nationalsozialistischen Verstrickungen auseinandergesetzt hat, in eine unsägliche Tradition stellt. Es reicht völlig, wenn man sich die treffenden Parodien im Wikipedia-Artikel zum „Lied von der Glocke“ ansieht. Dieses Gedicht ist es einfach nicht wert, als ein konterrevolutionäres Manifest faschistischer Prägung dämonisiert zu werden. Tatsächlich scheint der unmittelbare Übergang von Heidegger zu Schiller nur Teil von Žižeks Verharmlosungsstrategie zu sein. Vor dem Hintergrund einer Dämonisierung Schillers erscheinen Heideggers ‚Fehltritte‘ nicht mehr als so schwerwiegend.

Wirklich ärgerlich ist es aber, daß Žižeks Attacke auf Schiller verbunden ist mit einer Attacke auf den Neuhumanismus, was wiederum einer in seinem Buch zum Ausdruck kommenden insgesamt humanismusfeindlichen Einstellung entspricht. Generell wirft Žižek dem Humanismus vor, mit seinem Universalitätsverständnis den Menschen auf ein allgemeines Modell zu reduzieren und so alles, was nicht in dieses Modell paßt, als ‚inhuman‘ zu diffamieren. (Vgl. Žižek 2018, S.37) Ausgerechnet Kant soll Žižek zufolge ein erster Humanismuskritiker gewesen sein, weil er den empirischen Menschen vom reinen Vernunftssubjekt trennt. (Vgl. ebenda)

Es ist nicht zuletzt der von ihm rehabilitierte Heidegger, von dem wir uns Žižek zufolge über die Unzulänglichkeiten des Humanismusses „belehren lassen“ müssen:
„Für Heidegger etwa ist der traditionelle metaphysische Humanismus selbst nicht imstande, das Wesen des Menschseins zu erfassen; daher sind die humanistischen Proteste gegen die Herrschaft der Technik letztlich vergeblich.“ (Žižek 2018, S.38)
Was nun den Neuhumanismus betrifft, für den speziell Schiller steht, so ist Žižek zufolge dessen protofaschistische Gesinnung – neben Schillers persönlicher Frauenfeindschaft, wie sie u.a. im „Lied von der Glocke“ zum Ausdruck kommt (vgl. Žižek 2018, S.286) – vor allem in dessen ästhetischer Einstellung zur Französischen Revolution begründet. (Vgl. Žižek 2018, S.308f.) Žižek beruft sich dabei auf Philippe Lacoue-Labarthe (1940-2007), demzufolge „die Anfänge des Faschismus in dieser ästhetisch motivierten Zurückweisung der jakobinischen Schreckensherrschaft“ liegen. (Vgl. Žižek 2018, S.308) Damit ist nun nicht nur Schiller, sondern der ganze Neuhumanismus politisch verdächtig und wird vor das Tribunal gezerrt – wie gesagt, nachdem zuvor Heidegger ein Persilschein ausgestellt worden war!

Tatsächlich hatten die Neuhumanisten auf den Terror der Französischen Revolution reagiert und versucht, eine Antwort darauf zu finden. Dabei waren durchaus nicht alle so staatsfromm und frauenfeindlich, wie Žižek es Schiller vorwirft. Wilhelm von Humboldt (1767-1835) hatte nach einer Reise durch das zerstörte Frankreich seine Bildungstheorie entwickelt. Tatsächlich hielt er es für sinnvoll, nicht auf Revolutionen zu setzen, die nur zerstörte Erde hinterlassen, sondern auf Reformen, und er hoffte dabei auf aufgeklärte Monarchen wie Friedrich Wilhelm III. (1770-1840). Aber seine Staatsauffassung war gleichermaßen liberal und kritisch, und Humboldt unterschied sehr genau zwischen dem Staat und der Gesellschaft.

Ich will hier nicht weiter in die Details gehen und eine Apologie des Neuhumanismusses liefern. Ich will nur den Punkt verdeutlichen, daß es nicht angeht, Schiller und mit ihm den ganzen Neuhumanismus für protofaschistisch zu erklären, aber ausgerechnet Heidegger als klassischen Philosophen anzuerkennen. Zum Schluß noch einmal Žižek:
„Das bringt uns zurück zu Schillers Ästhetisierung der Politik, die vor den Schrecken der Revolution bewahren soll: In Bezug auf die Französische Revolution ‚bringt (er) zum Ausdruck, worauf eine ganze Generation setzt: Dass wir keine solche Revolution brauchen. Dass sich der explosionsartige Umschlag der Politik in Terror nur durch eine ästhetische Revolution verhindern lässt. Dass wir der Freiheit nur durch das Schöne näherkommen.‘() Damit aber fängt der Faschismus an – Hegel dagegen geht es nicht darum, Terror zu verhindern oder dessen Ausbrüchen vorzubeugen, sondern darum, zu akzeptieren, dass er notwendig ist und durchlaufen werden muss.“ (Žižek 2018, S.308f.)
Der Faschismus fängt also damit an, daß Schiller den „Umschlag der Politik in Terror“ mit den Mitteln einer „ästhetischen Revolution verhindern“ wollte? – Also meiner naiven Auffassung nach ist da Hegel, demzufolge der Terror geschichtlich „notwendig ist und durchlaufen werden muss“, viel protofaschistischer als Schiller!

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