„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Donnerstag, 3. Januar 2019

Siri Hustvedt, Die Illusion der Gewissheit, Reinbek bei Hamburg 2018 (2016)

1. Zusammenfassung
2. Methode
3. Binärer Code und Dualismus
4. Sprache und Bedeutung
5. Entwicklungsprozesse

Eine Frage wird in Siri Hustvedts Buch immer wieder hartnäckig wiederholt: Wie genau beeinflußt der ‚Geist‘, die ‚Kultur‘, die ‚Information‘ die Neuronen im Gehirn? Dabei deckt sie auf, daß die Terminologie, deren sich die Künstliche-Intelligenzforscher und die Neurowissenschaftler bedienen, einen erstaunlichen Mangel an präzisen Definitionen aufweist und von alltagssprachlichen Wendungen durchsetzt ist. Wenn etwa bei dissoziativen Persönlichkeitsstörungen von „physiologische(n) Unterschiede(n) zwischen der einen und der anderen Persönlichkeit“ die Rede ist, fragt Hustvedt nach, wie das „einzuordnen (ist) im Hinblick auf Körper und Geist – oder in diesem Fall mehrere Geister in einem Körper?“ (Vgl. Hustvedt 2018, S.135) – Oder wenn in der kognitiven Verhaltenstherapie positive Gedanken dazu beitragen sollen, den körperlichen Zustand von Patienten zu verbessern, weist Hustvedt darauf hin, daß hier implizit davon ausgegangen wird, daß Gedanken „etwas vom Körper Verschiedenes“ sind. (Vgl. Hustvedt 2018, S.36)

Selbst wenn Neurowissenschaftler den „psychosozialen Kontext“ in ihrem Forschungsdesign berücksichtigen und explizit von der „Körper-Geist-Einheit“ sprechen, bleibt die Frage nach dem genauen Verhältnis von Körper und Geist ungeklärt, und der Verdacht, daß auch hier von einem impliziten Dualismus ausgegangen werden muß, ist noch nicht ausgeräumt:
„Bestärkt oder unterläuft diese Wortbildung die Trennung von Körper und Geist? ... Lässt sich der geistige Stoff vom Körper-Stoff trennen, und wenn ja, wie können sie denn zusammenspielen?“ (Hustvedt 2018, S.124f.)
Drei Begriffe spielen hier auf problematische Weise ineinander und beeinflussen sich gegenseitig: der Begriff der Differenz, der binäre Code und der platonisch-cartesianische Dualismus von Körper und Geist. Der Begriff der Differenz spielt in der vom jungen Wittgenstein begründeten sprachanalytischen Tradition der angelsächsischen Philosophie eine zentrale Rolle. Inzwischen ist er zum postmodernen Dekonstruktivismus und zur feministischen Genderdebatte weitergewandert. Diese beiden Varianten des Dekonstruktivismusses diskutiert Hustvedt anhand des Buchs „Becoming Undone“ (2011) von Elisabeth Grosz, Professorin für Frauenstudien an der Duke University. (Vgl. Hustvedt 2018, S.175ff.) Auch hier beklagt Hustvedt das Fehlen von Definitionen:
„Bis zum Ende des Buchs erschließt sich mir nicht, was Grosz unter Natur und Biologie, diesen unendlich wandelbaren Begriffen, versteht, vielleicht, weil sie festlegende Definitionen bewusst vermeidet.“ (Hustvedt 2018, S.180)
Hustvedt verweist auf die prekäre Bedeutung von zwar undefinierten, aber dennoch starren, unbeweglichen Differenzen im Umkreis der Körper-Geist-Problematik. Solche Differenzen beinhalten immer eine dualistische Abwertung des einen Aspekts gegenüber dem anderen:
„Der Refrain Nur weil die Geschlechter grundsätzlich unterschiedlich sind, bedeutet das nicht, dass ein Geschlecht dem anderen überlegen wäre, ist heutzutage zwar in aller Munde, doch wir tun gut daran, diesem Refrain zu misstrauen.“ (Hustvedt 2018, S.177)
Das wäre der eigentliche Inhalt bzw. Zweck jeden Dualismusses: Abwertung bzw. Aufwertung eines Aspekts gegenüber dem anderen. Somit bestünde das eigentliche Dilemma „von Monismus und Dualismus“ (vgl. Hustvedt 2018, S.44) auch nicht darin, sich für das eine gegen das andere entscheiden zu müssen, sondern darin, daß Monismus und Dualismus dasselbe sind! Denn überall dort, wo Künstliche-Intelligenzforscher und Neurowissenschaftler behaupten, keine Dualisten zu sein, haben sie sich für eine Seite des Zusammenhangs von Körper und Geist, nämlich für die Information –, einer Variante des platonischen Geistes – entschieden und blenden die andere Seite, nämlich den Körper, aus. Dabei verwenden sie die beiden Begriffe weiter, denn in der grammatischen Struktur ihrer Forschungsdesigns müssen sie weiterhin Körper und Geist einander gegenüberstellen und syntaktisch miteinander verbinden: das Eine wirkt immer irgendwie auf das Andere ein! – Ihr scheinbarer naturalistischer Monismus bildet also tatsächlich einen verschleierten cartesianisch-platonischen Dualismus.

Zu diesem verschleierten Dualismus trägt auch der digitale Code des Computationalismusses bei. Seine binäre Struktur unterstützt das Differenzdenken, das nur noch schwarz/weiß aber keine Grautöne mehr kennt. Claude Levi-Strauss hatte schon auf die binäre Struktur des wilden Denkens der sogenannten Primitiven und deren Ähnlichkeit mit der heutigen Wissenschaft hingewiesen. Levi-Strauss war davon überzeugt gewesen, daß jede sprachliche Bedeutung aus der Setzung von Gegensätzen hervorgeht.

Hustvedt führt den Begriff des Binären auf die Macy-Konferenzen zwischen 1946 und 1953 unter der Schirmherrschaft von Josiah Macy zurück. (Vgl. Hustvedt 2018, S.231ff.) Auf diesen Macy-Konferenzen haben sich Kybernetiker um eine Definition des Begriffs ‚digital‘ und ‚analog‘ bemüht. Diese beiden Begriffe sollten den Unterschied zwischen ‚diskret‘ und ‚analog‘ bezeichnen. (Vgl. Hustvedt 2018, S.232) Der Begriff der Diskretion entspricht dem der Differenz und bezeichnet eine starre Lücke zwischen zwei aufeinanderfolgenden Zuständen. Der Begriff des Analogen bezeichnet einen kontinuierlichen Prozeß, etwa das Fließen von Wasser.

Die Teilnehmer der Konferenzen waren sich Hustvedt zufolge alles andere als einig darüber, „was dieser Unterschied bedeutete“. (Vgl. Hustvedt 2018, S.232) John von Neumann hielt fest:
„Der Gebrauch der Begriffe analogisch und digital ist in der Wissenschaft derzeit uneinheitlich. ... In fast allen Bereichen der Physik funktioniert die Wirklichkeit, auf die man sich bezieht, analog. Die digitale Methode ist ein menschliches Artefakt um der Beschreibung willen.“ (Zitiert nach Hustvedt 2018, S.233)
Man war sich damals also durchaus bewußt, daß man hier mit problematischen Begriffen hantierte, die die Wirklichkeit nicht abbildeten. Inzwischen aber ist der binäre Code, also das digitale Prinzip, zum Mainstream-Dogma erhoben worden:
„Die Form des Geistes wird auf die propositionale Logik (wahr/falsch – DZ) verkürzt. ... Der Grundgedanke ist, dass jeweils dasselbe Gesetz am Werk ist, dass die Physiologie und Psychologie des Menschen von einer universellen binären Wirklichkeit regiert werden.“ (Hustvedt 2018, S.223)
Der menschliche Organismus ist eine informationsverarbeitende Maschine und Nervenzellen funktionieren digital. – Basta!

Das Denken in binären Strukturen unterstützt also die Neigung des Menschen, in Gegensätzen zu denken und dabei immer eine Seite abzuwerten, was evolutionsgeschichtlich im Sinne einer Entscheidungshilfe möglicherweise durchaus nützlich gewesen sein mag. In der Wissenschaft sollte man sich aber dessen bewußt sein, daß die Wirklichkeit immer komplexer und auch fließender ist als ein Forschungsdesign. So viel Reflexionsbereitschaft sollte schon möglich sein.

Zum Schluß nochmal zum Dualismus von Außen und Innen, den Hustvedt ebenfalls zu den verschiedenen Varianten von Körper und Geist zählt. (Vgl. Hustvedt 2018, S.44) Wir kennen ihn in diesem Blog schon von Helmuth Plessner, der den Menschen exzentrisch zwischen Innen und Außen positioniert. Also auch hier ein weiterer Dualismus? – Eben nicht. Der Dualismus besteht in der Abwertung einer Seite. Plessner spricht aber lediglich von einer Änderung des Blickwinkels, der gegenüber der exzentrisch positionierte Mensch ‚neutral‘ ist. Der exzentrisch positionierte Mensch kann sich auf der Grenze zwischen Innen und Außen bewegen und muß deshalb keine propositionslogischen Wertungen vollziehen.

Ganz ähnlich definiert Hustvedt die kinästhetische Struktur des menschlichen Weltverhältnisses, also des menschlichen Verhältnisses zum Außen:
„Das menschliche Gehirn ist ein dynamisches Organ im Körper eines Individuums, der sich in ständiger Wechselwirkung befindet mit allem, was außerhalb dieses Körpers liegt.“ (Hustvedt 2018, S.79)
Darauf werde ich im folgenden Blogpost noch einmal näher eingehen.

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