„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Sonntag, 24. Oktober 2010

Helmuth Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie, Berlin/New York 1975 (1928)

1. Dingphänomene
2. Zwei Anmerkungen zu den Dingphänomenen (A & B)
3. Lebensphänomene: Pflanzen
4. Lebensphänomene: Tiere
5. Lebensphänomene: Menschen (A, B & C)
6. Entwicklungsphänomene

Auch wenn also, wie im letzten Post erwähnt, mit der geschlossenen Form der Tiere eine neue, sich über die Ebenen anorganischer Materie und der Pflanzenwelt erhebende organische Stufe, eine „Hebung des Existenzniveaus des organisierten Körpers“ einhergeht (vgl.S.243), so beinhaltet die geschlossene Form in sich doch noch einmal eine vor dieser „Hebung“ liegende, der Pflanzenwelt selbst sehr nahestehende und der Umwelt gegenüber offene Organisationsform. Es gibt zur Fortbewegung befähigte, sich von organischer Materie ernährende Tierformen, deren Organisation weitgehend dezentralisiert ist, also auf ein nervöses Zentralorgan verzichtet: „Dies ist der Weg möglichster Deckung gegen das Feld [„Positionsfeld“, sprich ‚ökologische Nische‘ – DZ] durch Umgehung des Bewußtseins.“ (S.241)

Die eigentliche neue Seinsstufe geht mit der zentralisierten Organisationsform einher, die das wesentliche Moment der voll entwickelten tierischen Existenzform bildet: „... der [tierische – DZ] Organismus faßt sich streng zentralistisch unter der Herrschaft seines Zentralnervensystems zusammen und sucht den Vollzug der einzelnen Funktionen unter seine Kontrolle zu bringen. Dies ist der Weg möglichsten Eindringens in das Feld durch Einschaltung des Bewußtseins.“ (S.241)

Das Bewußtsein tritt also zum „Vollzug der einzelnen Funktionen“ des tierischen Organismusses hinzu. Um diese Funktionen unter seine Kontrolle zu bringen, unterbricht es die reflektorische Unmittelbarkeit zwischen Reiz und Reaktion: „Der nervöse Apparat ist nur das Mittel der Unterbrechung zwischen dem Gesamtkörper und – dem Körper, als sensorischmotorischem Antagonismus, der die Fülle der Organe umspannt.“ (S.244) – An die Stelle von „Reiz“ und „Reaktion“ treten nun „Merken“ und „Wirken“, die als Bewußtseinsphänomene überhaupt nur Sinn machen, wenn es „eine Hemmung der durch den Reiz hervorgerufenen Erregung gibt, ehe sie in die der Bewegung dienenden Organe abfließt. ... Merken ist gehemmter, Wirken enthemmter Erregung äquivalent. Zwischen beiden spannt sich die Sphäre des Bewußtseins, durch welche hindurch der Übergang vom Merken in’s Wirken stattfindet. So ist sie die raumhaft innere Grenze, ist die zeithafte Pause zwischen dem von außen Kommenden und dem nach außen Gehenden, der Hiatus, die Leere, die binnenhafte Kluft, durch die hindurch auf den Reiz die Reaktion erfolgt.“ (Vgl.S.245)

Das tierische Bewußtsein verwirklicht sich in einer ganzen Bandbreite von ihm zur Verfügung stehenden Spielräumen, die zwischen dem schon erwähnten reflexhaftem Reiz-Reaktionsmuster, das praktisch gar keinen Spielraum übrig läßt und deshalb auch kein Bewußtsein beinhaltet, und den Instinkten mit ihren artspezifischen Verhaltensspielräumen liegt, die auch schon das „Korrektiv der Erfahrung“ beinhalten können. (Vgl.S.246) Die damit einhergehenden, zunehmenden Freiheitsgrade ergeben das bekannte Dilemma, wie es z.B. Kleist in seinem „Marionettentheater“ beschrieben hat: „Die Präzision der Durchführung wächst mit der Kontrolle über den Gegenstand und die zu ihm passenden oder nicht passenden Phasen der Aktion. Aber ebenso wirkt die Kontrolle der eigenen Bewegung hemmend auf ihren Ablauf. Die Aufmerksamkeit wird von dem Objekt der Bewegung auf die Bewegung als Objekt herübergezogen. Zersplitterung ist die unvermeidliche Folge: die Unbefangenheit ist dahin, der sichere Ausgang der Handlung, welche volle Hingabe an’s Objekt erfordert, in Frage gestellt.“ (S.250f.)

Schon das tierische Bewußtsein, dem die letzte Abhebung gegenüber sich selbst noch fehlt und das sich in der vorwiegenden Unmittelbarkeit seiner Aktionen verwirklicht, hat also schon an dem Dilemma teil, das mit dem Bewußtsein einhergeht: zunehmende Kontrolle und Freiheit mit einem zunehmenden Verlust an innerer „Unbefangenheit“ erkaufen zu müssen: „Der Antagonismus von Handlung und Bewußtsein ist es, den die Natur vor Augen hat, wenn sie, solange es irgend geht, die Bewegungen des eigenen Körpers dem Blick des Bewußtseins entzieht. ... Selbst bis zu der kompliziertesten Form des Menschen bleibt das Prinzip in Geltung, gewisse Zonen des Körpers unter autonomen Systemen unabhängig von der Zentralkontrolle des Gehirns zu halten und sie damit dem spontanen Zugriff zu entziehen.“ (S.251)

Diese im Grunde ökonomische Begründung für dem Bewußtsein entzogene sensorische und motorische Prozesse scheint mir eine überzeugende Antwort auf das von Neurophysiologen aufgeworfene Problem der Willensfreiheit zu sein. Die meßbare ‚Verspätung‘ des Bewußtseins gegenüber körperlichen Reaktionen kann durchaus kompatibel mit der Willensfreiheit sein. Denn Willensfreiheit ist nicht gleichbedeutend mit völliger Kontrolle über alle unsere leiblichen Befindlichkeiten. Im Gegenteil würde diese völlige Kontrolle letztlich nur die Willensfreiheit behindern oder gar wieder aufheben. Um dieser Willensfreiheit willen müssen vielmehr lebensnotwendige Prozesse und sogar Entscheidungen der Kontrolle unseres Bewußtseins entzogen bleiben. Damasio bezeichnet Entscheidungsprozesse, die sich am Bewußtsein vorbei vollziehen, als „rasche Kognition“. (Vgl. Descartes’ Irrtum. Fühlen, Denken und das menschliche Gehirn, Berlin 5/2007, S.V) Dieser Begriff meint mehr als nur die physiologischen Prozesse unterhalb der Bewußtseinsschwelle. Er bezieht auch Lernprozesse ein, die sich in Form von ‚Haltungen‘ (Habitus) verleiblichen. Was einmal Ergebnis eines bewußten Lernprozesses gewesen ist, wird für passende Gelegenheiten bewahrt und dann ohne neue mühsame Entscheidungsfindung angewandt. Aber ob es sich nun um phylogenetische oder um ontogenetische Gedächtnisformen handelt, die diese rasche Kognition ermöglichen, ob um Instinkte oder um Erfahrungen, – ihnen allen ist gemeinsam, Willensfreiheit zu ermöglichen und nicht zu verunmöglichen. Es geht um eine Entlastung des Bewußtseins, nicht um seine Verabschiedung.

Das Bewußtsein, das die Tiere mit dem Menschen gemeinsam haben, ist also noch reine Unmittelbarkeit und in der einfachen Positivität ihrer Bedürfnisse befangen. Da sie noch nicht zur Negation fähig sind (vgl. meine erste Anmerkung zu den Dingphänomenen), können sie sich von dieser Unmittelbarkeit noch nicht distanzieren, sich noch nicht von ihr zu einem Bewußtsein ihrer selbst abheben. Deshalb nehmen sie auch noch keine einzelnen konkreten Dinge wahr, sondern Korrelate ihrer Bedürfnisse und Triebe; diese bilden das „Netz, in dem sich die Welt fängt. ... Tritt ein Datum in der Merksphäre auf, so präsentiert es sich als Signal, nicht als Objekt. Objekte enthält nur die Sphäre der Aktion, nämlich Beute, Nahrung, Feind, Begattungspartner, Schlupfwinkel ...“ (vgl.S.246).

Das Tier kennt deshalb nur „Feldverhalte“, in denen es seine Bedürfnisse verwirklicht (vgl.S.272), und keine „Sachverhalte“: „Soweit das einzelne Konkretum des Dinges Gestalt und Angriffspunkt ist, ist es auch für das Tier da; soweit es für sich bestehende Wirklichkeit, bleibende Sache, echter Gegenstand ist, bleibt es ihm verborgen.“ (S.275) – Deshalb gibt es für das Tier, was dem Menschen fehlt, echte Spontaneität: „Im unmittelbaren Beginnen lebt das Tier wesenhaft impulsiv, spontan bewegt es seine Glieder, agiert es und reagiert es auf Reize. Zugleich hat es in diesem Strukturmoment der Positionalität die Möglichkeit der Wahl, die dem spontanen Akt strukturgemäß vorausgehen kann. Auch hier wieder muß man alle ethischen und metaphysischen Reflexionen beiseite lassen. Wählen heißt im Stande des Schwankens sein.“ (S.240)

Der Spielraum des Tieres beinhaltet weder metaphysische noch ethische Implikationen. Es gibt eine gewisse „Breite“ an Verhaltensalternativen, die dem Tier zur Befriedigung seiner Bedürfnisse zur Verfügung stehen. (Vgl.S.262f.) Innerhalb dieser Breite hat es seine schwankende Wahl.

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