„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Donnerstag, 28. Oktober 2010

Helmuth Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie, Berlin/New York 1975 (1928)

1. Dingphänomene
2. Zwei Anmerkungen zu den Dingphänomenen (A & B)
3. Lebensphänomene: Pflanzen
4. Lebensphänomene: Tiere
5. Lebensphänomene: Menschen
(A, B & C: Außenwelt, Innenwelt und Mitwelt)
6. Entwicklungsphänomene

Mit der exzentrischen Positionalität geht nicht nur eine Anhebung der Lebensphänomene auf ein neues Existenzniveau einher. Mit der neuen Stufe eröffnen sich vielmehr gleich drei neue Seinsformen, deren Erscheinungswelten unabhängig von einander bestehen, die aber gleichwohl ein Ganzes bilden: „Positional liegt ein Dreifaches vor: das Lebendige ist Körper, im Körper (als Innenleben oder Seele) und außer dem Körper als Blickpunkt, vom dem aus es beides ist. Ein Individuum, welches positional derart dreifach charakterisiert ist, heißt Person. Es ist das Subjekt seines Erlebens, seiner Wahrnehmungen und seiner Aktionen, seiner Initiative. Es weiß und es will. Seine Existenz ist wahrhaft auf Nichts gestellt.“ (S.293)

Diese dreifache Charakterisierung der Person entspricht den drei Sinnsphären der Außenwelt (vgl.S.293-295), der Innenwelt (S.295-302) und der Mitwelt (vgl.S.302ff.), die Plessner mit dem Bewußtsein, der Seele und dem Geist korreliert: „Denn in Reinheit gefaßt, unterscheidet sich Geist von Seele und Bewußtsein. Seele ist real als die binnenhafte Existenz der Person. Bewußtsein ist der durch die Exzentrizität der personalen Existenz bedingte Aspekt, in dem die Welt sich darbietet. Geist dagegen ist die mit der eigentümlichen Positionsform geschaffene und bestehende Sphäre und macht daher keine Realität aus, ist jedoch realisiert in der Mitwelt, wenn auch nur eine Person existiert.“ (S.303)

Im folgenden werde ich auf diese verschiedenen Sinnsphären, die Plessner als jeweils für sich autonome Erscheinungswelten konzipiert, eingehen. Zunächst also die Außenwelt:

A) Die Außenwelt, die Welt der toten und lebenden Körper, die Plessner u.a. auch als „Natur“ bezeichnet, ist der Bereich der einfachen Dingphänomene, womit der „Aspekt“ gemeint ist, „in dem die Welt sich darbietet“, also eben als Dingwelt: „Der Exzentrizität der Struktur des Lebewesens entspricht die Exzentrizität der Lage oder der unaufhebbare Doppelaspekt seiner Existenz als Körper und Leib, als Ding unter Dingen an beliebigen Stellen des Einen Raum-Zeitkontinuums und als um eine absolute Mitte konzentrisch geschlossenes System in einem Raum und einer Zeit von absoluten Richtungen.“ (S.294)

In dieser Sphäre als „Ding unter Dingen“ hebt sich das Bewußtsein exzentrisch über der Gegenüberstellung von Körper und Leib und von Leib und Ding. Es ist der Vollzug der Grenze zwischen Innen und Außen (vgl.S.100f.) in der Form des Habens (vgl.S.237f.u.ö.). Das Bewußtsein hat seinen Leib, wie es sein Wissen von den Gegenständen hat, als inneren Vollzug der Realität oder – wie Plessner auch schreibt – als Realisierung der Grenze (vgl.S.135 u.ö.): „Beide Aspekte bestehen nebeneinander, vermittelt lediglich im Punkt der Exzentrizität, im unobjektivierbaren Ich. Wie dieses ‚hinter‘ Körper und Leib den Fluchtpunkt der eigenen Innerlichkeit, des Selbstseins ausmacht, die Grenze, an welche nur asymptotische Annäherung möglich ist, so zeigt auch das Ding in der Außenwelt dieselbe Struktur, als die Erscheinung eines nicht ausschöpfbaren Seins, als das Gefüge von Schale und Kern. ... Die Mitte wird Fluchtpunkt, das X der Prädikate, der Träger der Eigenschaften. Hierauf beruht schließlich die für alle Realität wesentliche Notwendigkeit der einseitigen Erscheinung oder der abgeschatteten Darstellung, das Überschußmoment am Gegebenen, sofern es als seiende Wirklichkeit erfaßt wird.“ (S.295)

B) So wie mit dem Bewußtsein von der Außenwelt der Doppelaspekt aus Körper und Leib einhergeht, beinhaltet auch das Bewußtsein von der Innenwelt, die Seele, einen Doppelaspekt aus Seele und Erlebnis. (Vgl.S.295) Beiden Doppelaspekten ist das Vorhandensein eines objektiven Substrates gemeinsam: der Körper bzw. die Dinge auf der einen Seite und die Empfindungen – als „Grenzdatum der Ein- und Ausmündungszone meiner selbst als eines Körpers unter Körpern und als eines Ichs in diesem Körper mit Sinnes- und Bewegungsorganen“ (vgl.S.58f.) – auf der anderen Seite.

Dennoch fallen die beiden Realitätstypen der Außen- und Innenwelt nicht zusammen: „Denn läßt sich hier auch an der Erscheinungsweise [der Außenwelt – DZ] die ganze Skala von reiner Zuständlichkeit einer nur tragenden und begleitenden Umwelt bis zu reiner Gegenständlichkeit einer für sich bestehenden Dingwelt durchlaufen, so doch niemals am Sein selbst. In der Innenwelt dagegen gibt es eine Skala des Seins. Da gibt es das ‚mir zu Mute Sein‘ ebenso wie das ‚Etwas Sein‘. Es liegt im Wesen der Positionalität des im Hier-Jetzt Stehens (und gleichzeitigen Exzentrizität der Distanz zu dieser Position), daß das Selbstsein eine Skala des Seins von reiner Hingenommenheit und Selbstvergessenheit bis zum versteckt vorhandenen verdrängten Erlebnis zeigt.“ (S.296) – Wenn wir also auch in bezug auf die Innenwelt von ‚Gegenständen‘ sprechen können, so unterliegt die Präsenz dieser Gegenstände doch den mal zufälligen, mal willkürlichen Zuständen des subjektiven Bewußtseins.

Plessner kennzeichnet die Seele „als vorgegebene Wirklichkeit der Anlagen, die sich entwickelt und Gesetzen unterworfen ist“, z.B. in Form von Temperamenten und charakteristischen Persönlichkeitsausformungen (Haltungen, Habitus). Das Erlebnis beschreibt Plessner als „die durchzumachende Wirklichkeit des eigenen Selbst im Hier-Jetzt, worin mich keiner ersetzen und wovon mich keiner als der Tod lösen kann (und sogar das ist nicht gewiß).“ (Vgl.S.296)

Überhaupt gibt es aufgrund der die exzentrische Positionalität kennzeichnenden Negativität und der vermittelten Unmittelbarkeit für den Menschen nur wenige Gewißheiten hinsichtlich seiner Innenwelt: „Für den Menschen gilt das Gesetz der Exzentrizität, wonach sein im Hier-Jetzt Sein, d.h. sein Aufgehen im Erleben nicht mehr in den Punkt seiner Existenz fällt. Sogar im Vollzug des Gedankens, des Gefühls, des Willens steht der Mensch außerhalb seiner selbst.“ (S.298) – Das „Zeugnis der inneren Evidenz“ kann nicht über den „Zweifel an der Wahrhaftigkeit des eigenen Seins“ hinweghelfen, „so daß niemand von sich selber weiß, ob er es noch ist, der weint und lacht, denkt und Entschlüsse faßt, oder dieses von ihm schon abgespaltene Selbst, der Andere in ihm, sein Gegenbild und vielleicht sein Gegenpol.“ (S.298f.)

Es ist also die Innenwelt die „Zerfallenheit mit sich selbst, aus der es keinen Ausweg, für die es keinen Ausgleich gibt“ (vgl.S.299), es sei denn als ‚Kultur‘ (vgl.S.321): „Ortlos, zeitlos, ins Nichts gestellt schafft sich die exzentrische Lebensform ihren Boden. Nur sofern sie ihn schafft, hat sie ihn, wird sie von ihm getragen.“ (S.316)

C) Die Mitwelt unterscheidet sich nun von Außenwelt und Innenwelt dahingehend, „daß ihre Elemente, die Personen, kein spezifisches Substrat liefern, welches stofflich über das von Außenwelt und Innenwelt an sich schon dargebotene hinausginge. Ihr Specificum ist die Lebendigkeit und zwar in ihrer höchsten, der exzentrischen Form. Das spezifische Substrat der Mitwelt beruht also doch nur auf ihrer eigenen Struktur.“ (S.302) – Die Substrate der Außen- und der Innenwelt bestehen, wie schon erwähnt, in Körpern und Dingen auf der einen Seite und in den Empfindungen als sinnlichem Pendant zu den physiologischen Prozessen unseres Körpers auf der anderen Seite. Die Mitwelt aber setzt sich aus Personen zusammen, denen selbst kein Substrat zugrundeliegt. Die Neurophysiologen würden hier von einem fehlenden Korrelat im Zentralnervensystem sprechen, obwohl man natürlich die Spiegelneuronen als ein solches Korrelat ansprechen könnte. Aber Spiegelneuronen ‚spiegeln‘ wiederum nur Empfindungen, also die Substrate der Innenwelt. Sie ‚spiegeln‘ weder Geist noch Kultur, und diese Phänomene, die im Grunde eins sind, sind es, die Plessner als Mitwelt bezeichnet.

Das Fehlen eines Substrates kann man auch als Unmöglichkeit verstehen, mitweltliche Phänomene auf eine ‚unmittelbare Evidenz‘ zurückzuführen. Plessner hält dem entgegen, daß schon das Verhalten kleiner Kinder auf die Ursprünglichkeit dieser Übertragung auf gleichermaßen leblose wie lebendige Dinge hinweist. (Vgl.S.300f.) Was nun die Struktur der Mitwelt betrifft, so besteht diese darin, daß sich dem Menschen aufgrund der mit seiner exzentrischen Positionalität einhergehenden Doppelaspektivität von Körper/Leib und Seele/Erlebnis die Unterscheidung zwischen individuellem Ich, als eigenem Leib, und allgemeinem Ich, als alle anderen Leiber einschließlich des eigenen, aufnötigt. Außerdem führt die konstitutive „Ort-Zeitlosigkeit der eigenen Stellung“ zu einer inneren Freiheit des Menschen sich selbst und anderen gegenüber, die ihn zur Identifikation mit den anderen (Menschen wie Dingen) befähigt. (Vgl.S.300)

Das „allgemeine Ich“ bzw. die „Wir-form des eigenen Ichs“ bildet also die von Plessner auch als „geistige(r) Charakter der Person“ beschriebene Struktur der Mitwelt, als „einheitliche(s) Umgriffensein und Umgreifen der eigenen Lebensexistenz nach dem Modus der Exzentrizität.“ (S.303)

Anders als Bewußtsein (Außenwelt) und Seele (Innenwelt) macht der Geist aufgrund der reinen Strukturhaftigkeit der Mitwelt also zwar keine eigene Realität aus, wird aber in der Mitwelt realisiert, „wenn auch nur eine Person existiert“. (Vgl.S.303) So ist zwar die Person als natürliche und seelische Existenz eine eigenständige Realität, und es bedarf nur einer Person, um Geist zu realisieren; zugleich gilt aber, daß die Person als Person nur als Element einer Mitwelt Bestand haben kann: „Die Mitwelt trägt die Person, indem sie zugleich von ihr getragen und gebildet wird.“ (S.303) Deshalb hat der Mensch den Geist nicht, wie er seinen Leib und seine Seele hat, sondern der Geist ist die Sphäre, „kraft deren wir als Personen leben“. (Vgl.S.304)

Zugleich erhebt sich der Geist über die Differenz von Subjektivität und Objektivität, ohne doch dabei, wie bei Hegel, zu einer absoluten Substanz zu werden. (Vgl.S.305) Diese Überwindung der Subjekt-Objekt-Differenz zeigt sich in der Ersetzung des individuellen durch ein allgemeines Ich und in der damit einhergehenden Entindividualisierung von Standorten: „Wollte man für die sphärische Struktur der Mitwelt ein Bild gebrauchen, so müßte man sagen, daß durch sie die raumzeitliche Verschiedenheit der Standorte der Menschen entwertet wird. Als Glied der Mitwelt steht jeder Mensch da, wo der andere steht. In der Mitwelt gibt es nur Einen Menschen, genauer ausgedrückt, die Mitwelt gibt es nur als Einen Menschen. Sie ist absolute Punktualität, in der alles, was Menschenantlitz trägt, ursprünglich verknüpft bleibt, wenn auch die vitale Basis in Einzelwesen auseinandertritt. Sie ist die Sphäre des Einander und der völligen Enthülltheit, in der alle menschlichen Dinge sich begegnen.“ (S.304f.)

Durch diese Verallgemeinerung des Ich und seine raumzeitliche Standortlosigkeit, erhalten die „Ergebnisse menschlichen Tuns“ ein „Eigengewicht“, eine „Ablösbarkeit vom Prozeß ihrer Entstehung“, ohne das bzw. die „der letzte Sinn, die Herstellung des Gleichgewichts: die Existenz gleichsam in einer zweiten Natur, die Ruhelage in einer zweiten Naivität nicht erreicht“ wird. (Vgl.S.311)

Für Plessner ist mit dieser Kennzeichnung des geistigen Ichs keine Abwertung der individuellen Person verbunden, die ja „dreifach charakterisiert“ ist: neben die Mitwelt müssen Außenwelt und Innenwelt treten, um eine Person zu ergeben. Erst diese drei machen Personhaftigkeit aus, ohne sie doch aus ihnen – wie Plessner schreibt – ‚komponieren‘, sprich: ‚machen‘ zu können: „Das letzte Element dieser Sphäre [des Geistes – DZ] ist die Person als Lebenseinheit, die in analytischer, objektivierender Betrachtung wohl in Natur, Seele und Geist ... dekomponierbar, aber niemals aus ihnen komponierbar ist.“ (S.306)

Dennoch ist die absolute Vertretbarkeit und Ersetzbarkeit des Einzelnen in der Sphäre des Geistes (vgl.S.343) Plessner zufolge Grund für eine „metaphysische Beschämung“ und Anlaß zur „Demut“ (vgl.S.344). Die „der konkreten Gemeinschaft vorgelagerte Vertretenheit und Ersetztheit jedes Einzelnen durch jeden Anderen in Form des Wir“ wird so zu dem „Hintergrund, von dem sich der Einzelne als Individualität abhebt.“ (Vgl.S.344)

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