„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Montag, 3. Juli 2017

Ernst Peter Fischer, Treffen sich zwei Gene. Vom Wandel unseres Erbguts und der Natur des Lebens, München 2017

1. Acht Argumente gegen den genetischen Determinismus
2. Genotyp und Phänotyp: Strukturalität und Phänomenalität
3. Exkurs zu Rückseiten und Hintergründen
4. Genotyp und Phänotyp: Entwicklungsebenen
5. Technologischer Determinismus
6. Ethik, Wissenschaftskritik und Medienschelte

Am Beispiel des katholischen Ordenspriesters Gregor Mendel (1822-1884), der in seinem Klostergarten mit Erbsen experimentierte und dabei den Vererbungsgesetzen von genetisch bedingten Eigenschaften auf die Spur kam, verweist Fischer auf die Erhaltung von Eigenschaften, auch wenn sie zeitweise nicht sichtbar sind. Mendel, so Fischer, war mit dem physikalischen Grundsatz von der „Erhaltung der Energie“ vertraut, und er übertrug ihn nun auf die biologische Vererbbarkeit von Eigenschaften:
„Und so nahm er an, dass seine hypothetischen Erbelemente ebenfalls erhalten blieben, also auch dann noch vorhanden waren, wenn sie keine Wirkung nach außen zeigten.“ (Fischer 2017, S.34)
Das erinnert nicht von ungefähr an Heisenbergs im vorangegangenen Blogpost zitiertes „chemisches Element“, das ebenfalls „nach allen möglichen chemischen oder physikalischen Prozessen schließlich immer wieder das gleiche Element bleibt und die gleichen Eigenschaften aufweist“. (Vgl. Fischer 2017, S.145f.) Mendel spricht an dieser Stelle von dominanten und rezessiven ‚Erbelementen‘, die in der Generationenfolge je nach ihrer Kombination im Phänotyp bestimmte Eigenschaften zutagetreten lassen oder nicht, ohne daß diese Eigenschaften verloren gehen.

Dieser strukturalistische Erklärungsansatz findet seine Entsprechung in der Phänomenologie. Edmund Husserl (1859-1938) unterschied zwischen „Innenhorizonten“ und „Außenhorizonten“ von Phänomenen. Außenhorizonte haben sichtbare Vorderseiten und nicht sichtbare Rückseiten, die beweglich sind und mit dem Standort des Beobachters wechseln. Vorderseiten können also zu Rückseiten werden und sich dem Blick des Beobachters entziehen, und Rückseiten können zu Vorderseiten und sichtbar werden, wenn der Beobachter seinen Standort wechselt.

Innenhorizonte beziehen sich auf die innere Beschaffenheit von Phänomenen, die dem Beobachter nicht ohne weiteres zugänglich sind, die aber prinzipiell sichtbar gemacht werden können, wenn man etwa einen Stein spaltet und seine Stücke uns jetzt sein bislang verborgenes Inneres zuwenden. Hier kommen wir in den Bereich der Strukturen, die uns nur durch trickreiches Verhalten (Experimente) oder durch Gewaltanwendung zugänglich sind.

Weitere phänomenologische Begriffe sind Vordergrund und Hintergrund. Hintergründe unterscheiden sich von Rückseiten dadurch, daß sie sichtbar bleiben, aber unserer Aufmerksamkeit, die sich auf den Vordergrund richtet, entgehen. Rückseiten sind also prinzipiell unsichtbar, können aber zu Vorderseiten werden, während Hintergründe prinzipiell sichtbar sind, sich aber unserer Aufmerksamkeit entziehen.

Ein Phänomen bildet also als Außenhorizont ein dynamisches Gestaltganzes mit strukturellen Implikationen (Innenhorizonte). Beides, Phänomenalität (Außenhorizont) und Strukturalität (Innenhorizont), bedingt sich wechselseitig: Umweltbedingungen wirken über die äußeren Eigenschaften auf die inneren Zustände, und die inneren Zustände wirken über die äußeren Eigenschaften auf die Umwelt. Haben wir es nicht nur mit lebloser Materie, sondern auch mit belebten, empfindsamen Körpern zu tun, dem Plessnerschen Körperleib, so bewegen sie sich auf der Grenze zwischen Innen und Außen und aus Vorderseiten werden Vordergründe und aus Rückseiten werden Hintergründe. Von jetzt an ist es weniger eine Frage der räumlichen Kinästhesen als vielmehr eine Frage der subjektiven Aufmerksamkeit, was wir fokussieren und was nicht.

Mit der subjektiven Aufmerksamkeit erhält die Differenz zwischen Innen und Außen jetzt eine expressive Komponente, die Fischer mit der Kunst- und Bildungsmetapher aufgreift. (Vgl. Fischer 2017, S.83, 161) Fischer verweist auf die Alchemie, die der inneren Natur der Materie auf die Spur kommen wollte, um sie zu läutern und zu reinigen, ein Vervollkommnungsstreben, das die Alchemie mit der heutigen Gentechnologie teilt, nur daß es hier nicht mehr um die Befreiung der Natur geht, sondern um ihre Unterwerfung. (Vgl. Fischer 2017, S.254) Fischers Kunst- und Bildungsmetapher ersetzt den bisherigen Strukturalismus der Lebenswissenschaften durch Expressivität: an die Stelle von Programmen und Codes treten infinitesimale Zellaktivitäten, deren Telos bzw. deren Sinn der lebendige Mensch ist. An dieser Stelle beende ich meinen Exkurs.

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