„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Mittwoch, 5. Juli 2017

Ernst Peter Fischer, Treffen sich zwei Gene. Vom Wandel unseres Erbguts und der Natur des Lebens, München 2017

1. Acht Argumente gegen den genetischen Determinismus
2. Genotyp und Phänotyp: Strukturalität und Phänomenalität
3. Exkurs
4. Genotyp und Phänotyp: Entwicklungsebenen
5. Technologischer Determinismus
6. Ethik, Wissenschaftskritik und Medienschelte

Das Gen wurde lange Zeit als „fest umrissene Struktur“ auf den Chromosomen im Zellkern einer Zelle (vgl. Fischer 2017, S.181) und als „Kausalfaktor“, der die Entwicklung eines Organismusses steuert (vgl. Fischer 2017, S.146), verstanden. Dieses deterministische Verständnis von Genen wurde im Verlauf des 20. Jhdts. so populär, daß es, wie Fischer schreibt, zu einem „inflationäre(n) Gebrauch des Wortes“ führte:
„In den Medien und im Gespräch werden Gene beispielsweise verantwortlich gemacht für Blutkrankheiten, Krebs, Aggression, Neugierde, Untreue, Sprache, Intelligenz, Haarfarbe, Leseschwäche, Alkoholismus, Homosexualität, Musikalität, Schizophrenie, Langlebigkeit, Augenfarbe, Mordlust, Altruismus, Egoismus, Glücksfähigkeit und Assistentendasein.“ (Fischer 2017, S.15)
Inzwischen sprechen viele Gründe gegen eine solche Auffassung vom Gen (vgl. meinen Post vom 01.07.2017):
„Natürlich ist die klassische Auffassung von Genen als klaren Kausalfaktoren mit festem Ort und sauber definierten Aufgaben mit den meisten neuen Kenntnissen nicht mehr vereinbar.“ (Fischer 2017, S.143)
Stattdessen sei es besser, das Gen als einen „dynamischen Prozess“ zu verstehen, wie Fischer die Biologin Kirsten Schmidt zitiert. (Vgl. Fischer 2017, S.15) Fischer selbst schlägt in Anspielung auf den aristotelischen „unbewegten Beweger“ vor, das Gen als „bewegte(n) Beweger“ zu bezeichnen. (Vgl. Fischer 2017, S.144) Es ist Fischer zufolge auch nicht mehr sinnvoll, sich das Gen als vom Rest des Zellgeschehens isoliert vorzustellen, im Sinne eines Informationsspeichers, der seine Informationen unverändert bewahrt, ungeachtet dessen, was um ihn herum passiert. Das ‚Gen‘ umfaßt vielmehr das Gesamt der Zellaktivitäten:
„Das Gen als dynamisches Geschehen in der Zelle löst zwangsläufig eine wirbelnde und wabernde Vorstellung aus, bei der Gene Proteine machen, die Gene machen, die Proteine machen, die Gene machen, die Proteine machen, und man würde allmählich gern wissen, wo da Anfang und Ende sind. Vielleicht kann man so etwas gar nicht finden und sollte sich eher endlose Schleifen und Kreisläufe im Innern der Zelle vorstellen ...“ (Fischer 2017, S.96f.)
Fischer bezeichnet den Kreislauf aus Genen und Proteinen auch als „infinitesimal“, in Anlehnung an die Mathematik, um damit die Anfang- und Endlosigkeit der zellulären Genesen zu illustrieren und gleichzeitig zu erklären, warum man sie dennoch ‚berechnen‘ und technologisch beeinflussen kann:
„So kann auch die in der Fachwelt als Infinitesimale bezeichnete mathematische Größe beliebig klein werden, und man kann mit ihr präzise rechnen. Wenn in philosophischen Texten von der Berechenbarkeit der Welt die Rede ist, dann meinen die Gelehrten damit den Umgang der Wissenschaft mit dem Infinitesimalen, dem die Moderne folglich ihre entscheidende Prägung verdankt.“ (Fischer 2017, S.97)
Die Infinitesimale ist keine „ontologische Größe“, sondern bezeichnet einen Prozeß des Verschwindens (vgl. Fischer 2017, S.97), wie ihn Fischer auch auf das Gen bezieht, das wie das Atom in dem Moment, wo man es zu zählen begann, vor den Augen der Wissenschaftler verschwand. Fischer vergleicht das Gen also mit „Größen“, „die es nicht als solides, sondern nur als dynamisches Etwas gibt und die sogar verschwinden können, wenn sie ihre Schuldigkeit getan haben“. (Vgl. Fischer 2017, S.96)

Damit bleibt eigentlich nur noch das „Ende des Gen-Determinismus“ zu konstatieren, der, wie Fischer schreibt, das „Ende des Atom-Determinismus“ wiederholt. (Vgl. Fischer 2017, S.145) Doch stattdessen findet das Gegenteil statt: die Menschen halten am Gen-Determinismus fest. Sie haben eine seltsame „Vorliebe“ „für die Unfreiheit“, wie Fischer irritiert feststellt:
„Viele Menschen zeigen eine merkwürdige Angst vor der Freiheit. Das offenbart sich unter anderem auch in dem bereitwilligen Akzeptieren von neurowissenschaftlichen Befunden, die bei ihnen dadurch Zweifel an der Freiheit des Willens wecken, dass sie ein vor der eigentlichen Handlung eintretendes Bereitschaftspotenzial nachweisen. Als ob der Mensch vollkommen frei wäre und etwa auf Essen und Atmen verzichten könnte.“ (Fischer 2017, S.312)
Wir haben es hier offensichtlich mit der von Immanuel Kant beschriebenen selbstverschuldeten Unmündigkeit zu tun:
„Viele Zeitgenossen lassen sich und andere gern an die genetische Leine legen, um den eigenen Müßiggang oder das persönliche Versagen auf Biologisches abzuwälzen und jede Verantwortung von sich weisen zu können, weil es so schön bequem ist.“ (Fischer 2017, S.311)
Der Glaube an den Determinismus schützt die Menschen also davor, Verantwortung für ihr Leben übernehmen zu müssen. Darin werden sie durch die Wissenschaft selbst unterstützt, die mit den neuen Verfahren des „Gene-Editing“ (Fischer 2017, S.241) den alten Gen-Determinismus in Form eines neuen Gen-Technologie-Determinismusses wieder aufleben läßt. Mit anderen Worten: standen Technologien früher für mehr Freiheit der Menschen, so verwandeln sie sich jetzt im Gefolge des Perfektionsdrangs, wie Fischer schreibt, in eine „Vollkommenheit in Unfreiheit“. (Vgl. Fischer 2017, S.254)

Was soll die neue Gen-Technologie nicht alles ermöglichen! Fischer zitiert ausführlich Jennifer Doudna, die Entdeckerin von CRISPR:
„2016 hat Jennifer Doudna in einem TED-Beitrag über CRISPR gesprochen. Darin hat sie dringend von unüberlegten Eingriffen in die Gene mit ihrer Methode abgeraten und empfohlen, auf Geschäfte damit zu verzichten. Während ihrer Präsentation warf sie das Bild eines Babys an die Wand und erklärte an dessen Körperteilen, an welchen Stellen sich das Gene-Editing optimierend einsetzen lässt. Man kann ein geringeres Risiko für die Alzheimer-Demenz, den Brustkrebs und einen Schlaganfall anstreben, man kann ein perfektes Sehvermögen, das absolute Gehör und hohe Intelligenz auf die genetische Wunschliste setzen, man kann die Körperlänge beeinflussen, und manches mehr. Jennifer Doudna forderte aber die Biotechniker auf, mit diesen Anwendungen zurückhaltend zu sein, bis zum einen die Technik ausreichend erforscht ist und sich zum anderen ein Konsens in ethischen Fragen abzeichnet.“ (Fischer 2017, S.241)
Es ist absurd: Gerade eben beginnt man sich in der Wissenschaft ernsthaft darauf zu einigen, daß es keinen Gen-Determinismus gibt, da ermöglicht genau diese Wissenschaft einen Gen-Determinismus in Form der Gen-Technologie. Was die ‚Gene‘ selbst nicht können, nämlich das Erscheinungsbild und das Schicksal eines Individuums kausal zu determinieren, – genau das wird dem Gene-Editing zugetraut, und zwar bis hin zu so gleichermaßen komplexen wie fundamentalen Bewußtseinsqualitäten wie der Intelligenz.

Dabei gerät in Vergessenheit, daß wir es auch hier wieder nur mit einer Statistik, also mit Wahrscheinlichkeiten zu tun haben. Stattdessen füttern die Wissenschaftler sowohl mit ihren Versprechen wie auch mit ihren Warnungen die deterministischen Erwartungen von ehrgeizigen ‚Eltern‘, die ihre ‚Sprößlinge‘ in verbesserte Ausgaben ihrer selbst verwandeln möchten.

Natürlich geht es Jennifer Doudna darum, genau davor zu warnen! Das ist der Grund, daß sie einen Aufschub für das Gene-Editing fordert, um vorher einen „Konsens in ethischen Fragen“ anstreben zu können. Dennoch glaubt auch sie an die gentechnologische Machbarkeit von Intelligenz, obwohl es ebenso wenig eine allgemein anerkannte Definition für Intelligenz wie eine für Gene gibt. (Vgl. meinen Blogpost vom 30.10.2015)

Auch Fischer hakt hier nicht nach und läßt die problematische Verbindung von Genen und Intelligenz unhinterfragt so stehen. Ihn stört vor allem, daß die Gentechnologie Menschen die gentechnischen Instrumente in die Hand gibt, über das Leben anderer Menschen zu bestimmen. Fischer argumentiert dabei von der menschlichen ‚Seele‘ aus. Die Seele eines Menschen, so Fischer, besteht in dessen Einzigartigkeit:
„Menschen müssen einzigartig erscheinen, um von Mitmenschen eine Seele zugewiesen zu bekommen ...“ (Fischer 2017, S.290
Die Gentechnologie setzt aber „maßgeschneiderte Kinder in die Welt“, was sie ihrer Einzigartigkeit, ihrer „Unverwechselbarkeit“ und damit ihrer Seele beraubt. (Vgl. Fischer 2017, S.291) Fischer fordert, „nein zu dem Streben nach Vollkommenheit zu sagen“:
„Dazu gehört das große Nein zum Eingreifen in das Leben der Anderen, die eine Gemeinschaft ausmachen“. (Fischer 2017, S.291)
Dabei versäumt Fischer es allerdings, die Wissenschaft in die Verantwortung zu nehmen. Ganz im Gegenteil lehnt er eine solche Verantwortung der Wissenschaft für ihre Forschung explizit ab. Dazu mehr im nächsten Post.

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