„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Samstag, 18. Mai 2013

Claude Lévi-Strauss, Das wilde Denken, Frankfurt a.M. 1973 (1962)

1. Wildes Denken und kultiviertes Denken
2. Gegensatzpaare als Bedeutungsträger
3. Infra-Struktur und Lebenswelt
4. Primäre und sekundäre Qualitäten
5. Geschichte zwischen Chronologie und Anachronismus

Viele große Denker schreiben in einer seltsam verklausulierten Sprache und rechtfertigen sich oft genug damit, daß ihr Sprachstil besonders sachangemessen sei, so als hätten sie diese Sprache eigens für das Thema, das sie behandeln, erschaffen müssen. Die Anschaulichkeit bleibt dabei meistens auf der Strecke. Der Leser muß sich in den Sprachstil einarbeiten, wie der Initiand in einen esoterischen Ritus. Auch Lévi-Strauss mutet seinen Lesern einen solchen Sprachstil zu, wobei bei ihm aber auf eine besondere Weise deutlich wird, daß Sachangemessenheit und Esoterik auf dasselbe hinauslaufen: auf Formelhaftigkeit. Mathematisches und magisches Denken stimmen nämlich in der Überzeugung überein, daß sich die wesentlichen Momente der natürlichen Weltereignisse auf mathematische ‚Strukturen‘ zurückführen und mittels ‚Formeln‘ bzw. Algorithmen kontrollieren lassen.

Dabei unterscheidet sich das ‚magische‘ bzw. ‚wilde‘ Denken vom ‚kultivierten‘ Denken vor allem durch seine ‚Umständlichkeit‘ bzw. ‚Umwegigkeit‘ – ähnlich dem umständlichen und umwegigen Sprachstil von Lévi-Strauss –, mit der es die Naturwelt der Pflanzen und Tiere und die Kulturwelt des Menschen zueinander in Beziehung setzt (vgl. Lévi-Strauss 1973, S.29f.), während die in der Form der Mathematik auf die Spitze getriebene denkerische Kultiviertheit alles Menschliche ohne weiteres auf die Biologie reduziert; insbesondere auf die „chromosomische(n) Formeln“ unseres Erbgutes (vgl. Lévi-Strauss 1973, S.161f.), das wir ja zum größten Teil mit Pflanzen und Tieren gemeinsam haben.

Aufgrund der Umwegigkeit des wilden Denkens beschreibt Lévi-Strauss es auch als eine Art von Bastelei („bricolage“; vgl. Lévi-Strauss 1973, S.29ff.). Der Bastler muß ja ebenfalls in seiner Werkstatt mit den Werkzeugen und mit dem Material zurecht kommen, das vorhanden ist, während dem Ingenieur im Verbund mit der modernen Wissenschaft die technologischen Mittel zur Verfügung stehen, sich über die Umstände zu erheben (vgl. Lévi-Strauss 1973, S.32) und sie nach Belieben zu manipulieren. Der Bastler muß sich also den Umständen mehr anpassen und eben Umwege machen. Und solche Umwege geht auch der sogenannte ‚Wilde‘ bzw. ‚Primitive‘, wenn er Strukturelemente seiner natürlichen Umwelt – „als seien es die Elemente einer Nachricht“ (vgl. Lévi-Strauss 1973, S.309) – mit Strukturelementen seiner sozialen Lebenswelt verknüpft und so Mythen und Riten nicht etwa ‚konstruiert‘, wie ein planmäßig vorgehender Ingenieur, sondern zusammenbastelt, wie es eben gerade paßt: „Die signifikanten Bilder des Mythos sind, wie die Materialien des Bastlers, Elemente, die sich nach zwei Kriterien definieren lassen: sie haben gedient, als Wörter einer geformten Rede, die von der mythischen Reflexion ‚demontiert‘ wird, so wie ein Bastler einen alten Wecker demontiert; und sie können noch dienen, zum gleichen Gebrauch oder zu einem anderen Gebrauch, sofern man sie ihrer ersten Funktion entkleidet.“ (Vgl. Lévi-Strauss 1973, S.49)

In diesem Zitat ist zwar nur von den signifikanten Bildern innerhalb eines Mythos die Rede. Diese signifikanten Bilder, als „abgeleitete Reihe“, sind aber wiederum der „ursprünglichen Reihe“ der pflanzlichen und tierischen Umwelt entlehnt: „Die ursprüngliche Reihe ist immer da, bereit, als Bezugssystem zu dienen, um die Wandlungen, die sich in der abgeleiteten Reihe vollziehen, zu interpretieren oder zu korrigieren.“ (Lévi-Strauss 1973, S.269)

Grundsätzlich hält Lévi-Strauss fest, daß der Unterschied zwischen dem Bastler und dem Ingenieur nur ein gradueller ist und daß beide, Bastler, Zauberer und Priester auf der einen Seite, Ingenieure und Wissenschaftler auf der anderen Seite, dasselbe tun: eine Struktur über die Wirklichkeit zu legen, so wie man ein ‚Gitter‘ über einen unverständlichen Text legt, um durch die Lücken des Gitters hindurch einzelne Worte hervorzuheben, die einen verständlichen Satz ergeben. (Vgl. Lévi-Strauss 1973, S.92, 175)

Auch die Mathematik bildet letztlich nichts anderes als ein solches „‚apriorisches‘ Gitter“ (Lévi-Strauss 1973, S.175), und somit kommt im wilden Denken ein ursprünglicher Glaube an den Determinismus zum Ausdruck, der sich auch im mathematischen Determinismus des kultivierten Denkens widerspiegelt. (Vgl. Lévi-Strauss 1973, S.22) Eine weitere Parallele zur modernen Wissenschaft besteht Lévi-Strauss zufolge in der beständigen Aufmerksamkeit des ‚Wilden‘ bzw. ‚Primitiven‘ für seine natürliche Umwelt, in seiner „beharrliche(n) Schulung aller Sinne“, in seinem „Scharfsinn“, „der auch vor der methodischen Analyse tierischer Auswürfe nicht zurückschreckt, um ihre Ernährungsgewohnheiten kennenzulernen, usw.“ (Lévi-Strauss 1973, S.69)

Ein historisches Beispiel für diese menschheitsgeschichtlich frühe Form einer wissenschaftlichen Neugier bildet das „neolithische Paradox“. (Vgl. Lévi-Strauss 1973, S.26) Im Neolithikum traten plötzlich „wesentliche Fertigkeiten der Zivilisation“ wie „Töpferei, Weberei, Landwirtschaft und Tierzucht“ in Erscheinung: „... für all dies bedurfte es zweifellos einer wirklich wissenschaftlichen Geisteshaltung, einer unentwegten und stets wachen Neugier, eines Hungers nach Erkenntnis aus Freude an der Erkenntnis, denn nur ein kleiner Bruchteil der Beobachtungen und Experimente (bei denen man voraussetzen muß, daß sie zunächst und vor allem durch die Freude am Wissen inspiriert waren) konnten zu praktischen und unmittelbar verwendbaren Ergebnissen führen.“ (Lévi-Strauss 1973, S.27)

Der Sammeleifer des frühen Menschen erstreckte sich also keineswegs nur auf die unmittelbaren Dinge der täglichen Lebenserhaltung, eine Lebensform, für die sich die Bezeichnung „Jäger und Sammler“ eingebürgert hat, sondern auch auf ein umfassendes, über die täglichen Lebenserfordernisse weit hinausreichendes Wissen über die Welt: „Dieser Drang nach objektiver Kenntnis ist einer der am meisten vernachlässigten Aspekte des Denkens derer, die wir ‚Primitive‘ nennen. Wenn er sich auch selten auf Wirklichkeiten jener Bereiche richtet, mit denen sich die moderne Wissenschaft befaßt, schließt er dennoch vergleichbare intellektuelle Verfahren und Methoden der Beobachtung ein. In beiden Fällen ist das Universum mindestens ebensosehr Gegenstand des Denkens wie Mittel zur Befriedigung von Bedürfnissen.“ (Lévi-Strauss 1973, S.13)

Die mineralische, botanische, animalische, meteorologische und astronomische Umwelt dient dem ‚Wilden‘ bzw. ‚Primitiven‘ aber nicht nur als unerschöpflicher Gegenstand seiner Neugier, sondern auch als Vorlage für die Struktur bzw. das Gitter, das sein wildes Denken über die Wirklichkeit legt. Indem er seine Umwelt klassifiziert, also zu einem komplexen Artensystem ordnet, wird dieses Ordnungssystem zugleich zu dem sozialen System aus Verwandtschafts- und Funktionsverhältnissen der menschlichen Gesellschaft in Beziehung gesetzt. Die Ordnung der Natur, vergleichbar dem Linnéschen System, wird zum „Modell“ für die Gesellschaftsordnung.

Lévi-Strauss hat dabei eine ganz eigenartige Vorstellung von der Funktionsweise eines Modells. Das Hauptkennzeichen eines Modells besteht ihm zufolge darin, ein verkleinertes Bild von der Wirklichkeit zu liefern, so wie eine Miniatur wie etwa „Schiffe in Flaschen“ oder die japanischen Bonsaibäumchen. (Vgl. Lévi-Strauss 1973, S.36) Sogar die Kunst besteht Lévi-Strauss zufolge darin, Verkleinerungen von der Wirklichkeit zu schaffen. (Vgl. Lévi-Strauss 1973, S.39f.) Mit ‚Verkleinerung‘ ist ganz allgemein der „Verzicht auf bestimmte Dimensionen des Objekts“ gemeint (vgl. Lévi-Strauss 1973, S.37), was zunächst ganz offensichtlich die räumliche Dimension betrifft: ein verkleinertes Modell, etwa ein Miniaturauto, ist nicht so groß wie das reale Auto. Weitere Dimensionen, auf die im Modell verzichtet werden kann, sind „Farben“, „Gerüche“ oder „fühlbare Eindrücke“. (Vgl. Lévi-Strauss 1973, S.37) So gibt etwa ein Landschaftsgemälde nur die Farben der Landschaft wieder, während Gerüche, Geräusche und Tastempfindungen fehlen.

Den ästhetischen Genuß an solchen kunstvollen Modellen führt Lévi-Strauss darauf zurück, daß wir die verkleinerten Modelle in die Hand nehmen können, wie etwa eine Puppe, und nun mit ihnen ‚spielen‘ können: „... in der Verkleinerung erscheint die Totalität des Objekts weniger furchterregend; aufgrund der Tatsache, daß sie quantitativ vermindert ist, erscheint sie uns qualitativ vereinfacht. Genauer gesagt, diese quantitative Umsetzung steigert und vervielfältigt unsere Macht über das Abbild des Gegenstandes; durch das Abbild kann die Sache erfaßt, in der Hand gewogen, mit einem einzigen Blick festgehalten werden.“ (Lévi-Strauss 1973, S.37)

Wieder haben wir hier die Perspektive des Bastlers bzw. Ingenieurs, die Dinge ‚machen‘ bzw. kontrollieren wollen. Im Grunde bildet Lévi-Straussens Strukturalismus nur eine besondere Form des Konstruktivismus. In seiner Anthropologie fühlt sich der Mensch nur unter Dingen bzw. in einer Umwelt wohl, die er selbst konstruiert hat bzw. deren Konstruktionsbedingungen er verstanden hat. Es handelt sich dabei um eine statische Welt, deren Erhaltungsbedingungen wir ständig vor Störungen aller Art schützen müssen, eine Welt der Homöostase, deren kybernetische Mechanismen wir ständig warten und reparieren müssen.

Wenn das wilde Denken jetzt also das Wissen von seiner komplexen Umwelt, an dessen Vervollständigung der ‚Primitive‘ immerzu arbeitet, dazu nutzt, um die menschliche Kulturwelt zu ordnen und zu stabilisieren, so entnimmt es diesem umfassenden Wissen willkürlich einzelne Details – eine Pflanze oder nur den Teil einer Pflanze, ein Tier oder nur eine seiner Lebensäußerungen, etwa den Laut seiner  Rufe oder Schreie, die an irgendetwas in der menschlichen Lebenswelt erinnern –, und korreliert dieses Detail mit einem Ereignis aus der menschlichen Lebenswelt. So wird dieses Detail zu einer „Nachricht“ – die „Welt des Primitiven (oder des sogenannten Primitiven)“ besteht „hauptsächlich aus Nachrichten“ – für denjenigen, der gerade zufällig des Weges kommt, etwa eine schwangere Frau, deren Blick zufällig auf eine Melone fällt, und die nun glaubt, daß diese Melone jetzt in eine unzerstörbare Beziehung zu ihrem ungeborenen Kind getreten ist, was für sein künftiges Leben bedeutet, daß es ganz spezielle Ernährungstabus beachten muß.

Wie das wilde Denken dabei natürliche Vorkommnisse mit kulturellen Bezügen belegt, zeigen folgende Beispiele: „Der aufgeregte Schrei des Hähers (Platylophus galericulatus Cuvier) erinnert, sagen sie, an das Knistern der Glut und verheißt also Erfolg beim Abbrennen des Grases; der Alarmruf eines Trogon (Harpactes diardi Temminck), der mit dem Röcheln eines gewürgten Tieres verglichen wird, verheißt eine gute Jagd, während man vom Alarmschrei des Sasia abnormis Temminck glaubt, er verscheuche die schlechten Geister, die die Felder heimsuchen, indem er sie gleichsam abschabe, weil er dem schabenden Geräusch eines Messers ähnelt. Ein anderer Trogon (Harpactes duvauceli Temminck) verheißt mit seinem ‚Lachen‘ den Erfolg von Handelsexpeditionen und erinnert mit seinen roten, glänzenden Hals- und Rückenfedern an den Glanz, der mit siegreichen Kriegen und fernen Reisen verbunden ist. Es ist klar, daß dieselben Einzelheiten ganz andere Bedeutungen hätten erhalten oder daß andere charakteristische Züge derselben Vögel jenen hätten vorgezogen werden können.“ (Lévi-Strauss 1973, S.69f.)

Sein ganzes immenses Wissen reduziert der ‚Primitive‘ also zum Zweck der Regulierung seiner Lebenswelt auf eine begrenzte Reihe von willkürlich ausgewählten Merkmalen, die modellartig mit der menschlichen Lebenswelt in Beziehung gesetzt werden. Dabei kommt es nur auf die Form dieser Merkmale an, die irgendeine Analogie zur menschlichen Lebenswelt bilden. Wenn man jetzt aber meint, daß das ja nun gar nichts mehr mit unserer modernen Wissenschaft zu tun habe, so übersieht man den strukturellen Determinismus und den Systemcharakter dieser Merkmale. Indem die Umwelt dem ‚Primitiven‘ ständig solche Nachrichten ‚sendet‘, reguliert sie sein individuelles und soziales Leben und erhält es auf diese Weise in einem Gleichgewicht. Und da diese Nachrichten Teil eines formalen Systems sind, bilden sie Algorithmen, so, als hätten wir es mit Computerprogrammen zu tun: wenn sich in dem einen System, der Kulturwelt, bestimmte Dinge ereignen, und parallel dazu in dem anderen System, der Naturwelt, ebenfalls bestimmte Dinge ereignen, dann hat das bestimmte Konsequenzen für die betroffenen Individuen oder sozialen Gruppen.

Wir haben es also tatsächlich mit Formeln zu tun, und ich neige dazu, in diesem Zusammenhang von einer analogischen Mathematik zu sprechen, womit im Unterschied zur narrativen Mathematik, von der hier in diesem Blog auch schon mal die Rede gewesen war (vgl. meine Posts vom 31.08.2011 und vom 24.03.2013), nicht der Zeitfaktor gemeint ist, der den statischen mathematischen Formeln hinzugefügt wird. Ganz im Gegenteil dient die analogische ‚Mathematik‘ des wilden Denkens ja der Aufrechterhaltung zeitloser Zustände. Sie soll ja gerade verhindern, daß etwas passiert und daß sich etwas verändert. ‚Analogisch‘ will ich diese Mathematik nennen, weil sie ihre Strukturelemente der natürlichen Umwelt willkürlich entnimmt, wobei der Gegenstand selbst, in seiner konkreten Gestalt, keine Rolle mehr spielt (vgl. Lévi-Strauss 1973, S.50, 92f.u.ö.) und nur noch eine formale Funktion in einem „divinatorischen System“ (Lévi-Strauss 1973, S.70) übernimmt, so daß es zu seiner Interpretation der „Anstrengung von Mathematikern“ bedarf (vgl. Lévi-Strauss 1973, S.281).

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