„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Dienstag, 7. Mai 2013

Getreu die wirkliche Erfahrung zur Aussprache bringen!

Edmund Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie, Hamburg 3/1996 (1935/36)

1. „Jedermann, der diese Methode verstehen und zu üben vermag“
2. Gewißheit jenseits allen Zweifels
3. „Daten und Datenkomplexe“
4. Geschichte als Sedimentation
5. Zweite Naivität

Obwohl wir es bei der Lebenswelt als der transzendentalen Möglichkeitsbedingung jeder Wissenschaft, also auch der Naturwissenschaft (vgl. Husserl 3/1996, S.53f., 64, 75f.), nur mit einem „empirischen Gesamtstil“ zu tun haben, mit einer Gewohnheitskausalität (vgl. Husserl 3/1996, S.31), letztlich also mit einem „Schwanken des bloß Typischen“ (vgl. Husserl6/1996, S.24), weist Husserl ihr den Status einer Letztbegründung, eines „letzten Seinssinns“ zu (vgl. Husserl 3/1996, S.75f.). Wie sich dieser letzte Seinssinn in eine, von einer „Urstiftung“ des europäischen Menschentums in der Renaissance (vgl. Husserl 3/1996, S.12ff.) bis zur „Endstiftung“ einer „finalen Harmonie“ (vgl. Husserl 3/1996, S.79f.) reichenden, noch unvollendete Entwicklungslinie einordnet, wird von Husserl nicht weiter ausgeführt.

Immerhin haben wir es bei seinem Buch zur „Krise der europäischen Wissenschaften“ nur mit einer „Einleitung“ zu tun, so daß man dem Autor zugute halten kann, daß die entsprechenden Antworten in einem der nachfolgenden Bände gegeben worden wären, wenn er sie denn noch geschrieben hätte. Außerdem weist Husserl schon in dieser Einleitung selbst auf die Funktionärskaste hin, die für diese letzten Sinnfragen und damit für die Rettung des europäischen Menschentums zuständig ist: die Philosophen (vgl. Husserl 3/1996, S.17 u.ö.): „Wir  sind eben, was wir sind, als Funktionäre der neuzeitlichen philosophischen Menschheit, als Erben und Mitträger der durch sie hindurchgehenden Willensrichtung ...“ (Husserl 3/1996, S.78)

Ich habe so meine Probleme mit Letztbegründungen (vgl. meinen Post vom 11.07.2012) und mit die Geschichte durchziehenden Willensrichtungen (vgl. meinen Post vom 06.08.2010). Dennoch spricht Husserl einen wichtigen Aspekt der Geschichtlichkeit des menschlichen ‚Seins‘-Sinns an, den ich allerdings nicht als Seinssinn, sondern als Prozeß-Sinn verstehe: die Sedimentation. Husserl zufolge fügen sich über die Sedimentation von „Sinnes-Implikationen“ (Husserl 3/1996, S.56) die Generationen zu „generativ und sozial verbundenen Menschheiten“ (Husserl 3/1996, S.15) zusammen. Auch ich sehe das so; nur glaube ich aber nicht, daß sich diese Verbundenheit zu einer „Kette“ fügt. (Vgl. Husserl 3/1996, S.79f.)

Die von Husserl angesprochene „Kette der Denker“ beruht auf der Voraussetzung einer „latenten“ (Husserl 3/1996, S.14) bzw. „verborgenen Vernunft“ (Husserl 3/1996, S.56), die sich aus diesen Sedimenten wie ein Goldschatz bergen läßt: im Sinn einer „verborgenen Einheit intentionaler Innerlichkeit, welche allein Einheit der Geschichte ausmacht“ (vgl. Husserl 3/1996, S.80). Die Entbergung dieser latenten Vernunft verleiht Husserl zufolge der ‚goldenen‘ Kette der Denker die Weihe einer „apodiktischen Methode“. (Vgl. Husserl 3/1996, S.79)

Ich denke nun aber ganz im Gegenteil, daß die ‚Sedimente‘ nicht das Material für das Schmieden einer solchen apodiktisch zwingenden Kette liefern. Wir haben es hier nicht mit einer wie auch immer zu bergenden ‚Vernunft‘ zu tun – etwa im Habermasschen Sinne eines rekonstruierenden Zugangs zu historischen Entwicklungsdynamiken. (Vgl. meinen Post vom 20.01.2013; vgl. auch meinen Post vom 10.09.2012) Die in der individuellen Ontogenese fortwirkenden ‚Sedimente‘ bilden kein „Telos“ (vgl. Husserl 6/1996, S.17, 77) biologischer, kultureller und  psychologischer Entwicklungsprozesse, sondern einen Anachronismus. Diesen Anachronismus verstehe ich analog zu Plessners exzentrischer Positionalität als ein Herausfallen des Menschen aus der Zeit, in der er sich zugleich handelnd verwirklicht; also gleichzeitig innerhalb wie außerhalb der Zeit.

Darin steckt keinerlei Vernunft, nur die Freiheit des Denkens und der Entscheidung, und das ist nicht wenig. Erst in der Freiheit des Denkens und Entscheidens entsteht Vernunft, nicht umgekehrt. So könnte man auch sagen, daß die Unvernunft die Vernunft begründet. Jedenfalls wird die Vernunft nicht in Sedimenten bewahrt und kann auch nicht über die Zeiten hinweg aus ihnen herausgegraben oder gefischt werden.

Im Grunde kommt Husserl selbst ganz nahe an diesem Anachronismus heran, wenn er das Verfahren beschreibt, mit dem seiner Ansicht nach die „Funktionäre der neuzeitlichen philosophischen Menschheit“ (Husserl 3/1996, S.78) vorgehen müssen und das ganz und gar nichts Apodiktisches an sich hat. Demnach stehen „wir“, also die Funktionärsphilosophen, „in einer Art Zirkel“:
„Das Verständnis der Anfänge ist voll nur zu gewinnen von der gegebenen Wissenschaft in ihrer heutigen Gestalt aus, in der Rückschau auf ihre Entwicklung. Aber ohne ein Verständnis der Anfänge ist diese Entwicklung als Sinnesentwicklung stumm. Es bleibt uns nichts anderes übrig: wir müssen im ‚Zickzack‘ vor- und zurückgehen; im Wechselspiel muß eins dem anderen helfen. Relative Klärung auf der einen Seite bringt einige Erhellung auf der anderen, die nun ihrerseits auf die Gegenseite zurückstrahlt. So müssen wir ... beständig historische Sprünge machen, die also nicht Abschweifungen, sondern Notwendigkeiten sind. Notwendigkeiten, wenn wir, wie gesagt, diejenige Aufgabe der Selbstbesinnung auf uns nehmen, welche aus der ‚Zusammenbruchs‘-Situation unserer Zeit, mit ihrem ‚Zusammenbruch der Wissenschaft‘ selbst, erwachsen ist.“ (Husserl 3/1996, S.63)
Fast allem, was Husserl hier zur Methode einer Geschichtsvergewisserung sagt, kann ich zustimmen. Sehr schön beschreibt er den Zickzack-Weg, der der anachronistischen Natur des Menschen entspricht, in der sich nichts einfach logisch aus irgendetwas anderem ergibt, sondern alles vielfach miteinander verknüpft ist. Gerade die allzu stromlinienförmigen, allzu glatt in ihre ‚Zeit‘ passenden Zeitgenossen machen auf mich oft den Eindruck, nicht ganz da zu sein, während diejenigen, die mit ihrer Zeit kämpfen, mit ihr im Streit liegen und unter ihr leiden, und die manchmal denken, sie lebten in der falschen Zeit, mit beiden Beinen in der Mitte des Lebens stehen.

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