„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Dienstag, 21. Mai 2013

Claude Lévi-Strauss, Das wilde Denken, Frankfurt a.M. 1973 (1962)

1. Wildes Denken und kultiviertes Denken
2. Gegensatzpaare als Bedeutungsträger
3. Infra-Struktur und Lebenswelt
4. Primäre und sekundäre Qualitäten
5. Geschichte zwischen Chronologie und Anachronismus

Ich hatte schon auf Husserls Differenzierung zwischen direkt mathematisierbaren und nicht direkt mathematisierbaren Qualitäten der Sinneswelt hingewiesen, wobei zu den direkt mathematisierbaren Qualitäten nur die Raum-Zeit-Gestalt der physischen Körper gehört, von der aus aber, so die wissenschaftliche Hoffnung, die übrigen Sinnesqualitäten indirekt mit mathematisiert werden können, so daß sich die gesamte empirische Mannigfaltigkeit in eine „universale idealisierte Kausalität“ überführen ließe. (Vgl. meinen Post vom 04.05.2013)

Einen ganz ähnlichen Ausblick eröffnet auch Lévi-Strauss: „Schon streben Physik und Chemie danach, wieder qualitativ zu werden, d.h. auch den sekundären Qualitäten Rechnung zu tragen, die, wenn sie erklärt sein werden, wiederum Mittel der Erklärung werden; und vielleicht tritt die Biologie in Erwartung dieser Vollendung auf der Stelle, um dann ihrerseits das Leben erklären zu können.“ (Lévi-Strauss 1973, S.35)

An dieser Stelle geht Lévi-Strauss tatsächlich noch einen erheblichen Schritt weiter als Husserl, der sich bei der umfassenden Mathematisierbarkeit nur auf Sinnesqualitäten bzw. mit Instrumenten erweiterte und aufgerüstete Sinnesqualitäten bezieht, so daß die Wissenschaftler mit hochspezialisierten Meßverfahren in subatomare oder makrokosmische Bereiche vorstoßen können. Lévi-Straus geht über diese empirischen Bereiche hinaus, indem er glaubt, daß die Wissenschaft auch für das Leben selbst eine empirische bzw. materielle Erklärung wird geben können. Sogar geistige Phänomene wie das Denken hält Lévi-Strauss prinzipiell für mathematisierbar, weil auch das Denken letztlich nur ein ‚Ding‘ sei: Die „Sätze der Mathematik spiegeln ... das freie Funktionieren des Geistes wider, d.h. die Tätigkeit der Zellen der Hirnrinde, die von allem äußeren Zwang frei sind und nur ihren eigenen Gesetzen gehorchen. Da auch der Geist ein Ding ist, unterrichtet uns das Funktionieren dieses Dings über die Natur der Dinge: selbst die reine Reflexion läuft auf eine Interiorisierung des Kosmos hinaus.“ (Lévi-Strauss 1973, S.285 (Anm.))

Lévi-Strauss ist sich der anti-humanistischen Konsequenzen eines solchen rigiden Materialismusses durchaus bewußt, und er hält ausdrücklich fest, daß es nicht „das letzte Ziel der Wissenschaften vom Menschen“ sei, „den Menschen zu konstituieren, sondern das, ihn aufzulösen“. (Vgl. Lévi-Strauss 1973, S.284) Somit verfolgt Lévi-Strauss als Ethnologe eine paradoxe Anthropologie: den Menschen zu erklären, indem alles Menschliche aus den Erklärungszusammenhängen eliminiert wird. Alle „Kultur“ und „schließlich das Leben“ sollen auf ihre „physikochemischen Bedingungen“ zurückgeführt werden. Auf dem Weg dorthin macht Lévi-Strauss zufolge die Ethnologie nur den ersten Schritt. Es überrascht, daß Lévi-Strauss am Ende all dieser wissenschaftlichen Reduktionen dennoch weiter von einer „allgemeinen Menschheit“ sprechen will. Allerdings hat diese Vorstellung „nichts mehr mit der zu tun, die man vorher von ihr hatte“. (Vgl. Lévi-Strauss 1973, S.285)

Es müßte sich hierbei wohl um eine ‚Menschheit‘ handeln, die nicht mehr aus Menschen besteht, ähnlich der Luhmannschen ‚Gesellschaft‘. Deshalb kann Lévi-Strauss dem Vorwurf, ein Antihumanist zu sein, nicht entgehen. Es ist schon eine seltsame Neugier, die diesen Ethnologen in die vor der zivilisierten Welt verborgenen Dörfer treibt, um die dort lebenden Menschen gleichzeitig zu erforschen und „aufzulösen“; was immerhin den unvermeidlichen Effekt solcher Besuche von außen recht gut beschreibt.

Methodisch wie ideologisch rechtfertigt Lévi-Strauss seine menschenfeindliche Wissenschaft mit dem wilden Denken dieser ‚Primitiven‘ selbst. Denn auch dem wilden Denken ist ein ursprünglicher Glaube an den „globalen und integralen Determinismus“ zueigen, der alle Ereignisse der Natur und der Kultur gleichermaßen umfaßt. (Vgl. Lévi-Strauss 1973, S.23) Indem schon das wilde Denken reduktionistisch verfährt und „physische und semantische Eigenschaften“ gleichsetzt (vgl. Lévi-Strauss 1973, S.308), hat es den gleichen Zugang zur Welt wie eine Wissenschaft, die sich als Informationstheorie versteht. Wo die Menschheit ihren Ausgang genommen hat, in den totemistischen Klassifikationssystemen, dorthin kehrt sie am Ende mit der wissenschaftlichen Zivilisation wieder zurück: „Bis in die Mitte unseres Jahrhunderts hat es gedauert, bis sich lang getrennte Wege kreuzten: derjenige, der auf dem Umweg der Kommunikation zur physischen Welt Zugang findet, und derjenige, der, wie man seit kurzem weiß, auf dem Umweg der Physik zur Welt der Kommunikation Zugang findet. Der gesamte Prozeß der menschlichen Erkenntnis gewinnt so den Charakter eines geschlossenen Systems.“ (Lévi-Strauss 1973, S.310)

Worin Husserl noch eine Krisis gesehen hatte, in der Ablösung der mathematischen Wissenschaft von der menschlichen Lebenswelt, sieht Lévi-Strauss ihre Erfüllung und ihre Rückkehr zu den Ursprüngen der Menschheit, nämlich als dieser Menschheit immer schon zugrundeliegende mathematische Infrastruktur, die sich für die individuellen Menschen noch nie wirklich interessiert hat und am Ende tatsächlich auf sie verzichten kann.

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