„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Mittwoch, 22. Mai 2013

Claude Lévi-Strauss, Das wilde Denken, Frankfurt a.M. 1973 (1962)

1. Wildes Denken und kultiviertes Denken
2. Gegensatzpaare als Bedeutungsträger
3. Infra-Struktur und Lebenswelt
4. Primäre und sekundäre Qualitäten
5. Geschichte zwischen Chronologie und Anachronismus

Die Struktur bzw. das System dient immer der Aufrechterhaltung einer Gegenwart. Ihr diskontinuierliches, weil aus Gegensatzpaaren zusammengesetztes „Gitter“ dient der Verhinderung von Diskontinuität. Diese die Kontinuität der Gegenwart bedrohende Diskontinuität bedrängt die Gegenwart mit „Ereignissen“ (vgl. Lévi-Strauss 1973, S.35f.), wie sie z.B. die Geburt von Kindern darstellt. Andere die Kontinuität bedrohende Ereignisse stellen „Hungersnöte, Epidemien und Kriege“ dar. (Vgl. Lévi-Strauss 1973, S.181) Das „Ereignis“ bildet einen „Modus der Zufälligkeit“, und die totemistischen Klassifikationssysteme dienen der Aufrechterhaltung eines „prekären“, jederzeit vom Zusammenbruch bedrohten „Gleichgewicht(s) zwischen Struktur und Ereignis, zwischen Notwendigkeit und Zufälligkeit, zwischen Interiorität und Exteriorität“. (Vgl. Lévi-Strauss 1973, S.44)

Da das Ereignis also die Struktur ‚stört‘, ihr Veränderungen aufzwingt, auf die sie wiederum mit die Stabilität wiederherstellenden Anpassungen antworten muß, steht das Ereignis auch für „Geschichte“ bzw. „Diachronie“, während die Struktur im Dienst einer auf Dauer gestellten Gegenwart für „Synchronie“ steht. Synchronie und Diachronie sind „in einen ständig erneuerten Konflikt verwickelt, bei dem es scheint, als müsse jedesmal die Diachronie siegreich daraus hervorgehen.“ (Vgl. Lévi-Strauss 1973, S.181) Zwischen der Geschichte und den Klassifikationssystemen gibt es, wie Lèvi-Stauss sich ausdrückt, „so etwas wie eine tief eingewurzelte Antipathie“. (Vgl. Lévi-Strauss 1973, S.268)

Dennoch gibt es klassifikatorische Elemente des wilden Denkens, die keine Totems bzw. Eponyme bilden und die der individuellen Persönlichkeit ihres jeweiligen Trägers gegenüber nicht gleichgültig sind, sondern ganz im Gegenteil das Individuum noch über dessen Tod hinaus ‚verkörpern‘: „... der Tschuringa bringt ... den greifbaren Beweis, daß der Vorfahre und sein lebender Nachkomme ein und dasselbe Fleisch sind.“ (Lévi-Strauss 1973, S.278)

Die australischen Tschuringas, spindelförmige, bearbeitete oder unbearbeitete Stücke aus Holz oder anderen Materialien, stellen von einem Ahn gestiftete Erbstücke dar, die von Generation zu Generation weitergegeben werden, wobei sie hauptsächlich in Verstecken aufbewahrt werden: „Man holt sie in regelmäßigen Abständen heraus, um sie zu besichtigen und mit ihnen zu hantieren, und bei jeder dieser Gelegenheiten poliert man sie, fettet sie ein und bemalt sie, nicht ohne Gebete und Beschwörungsformeln an sie zu richten.“ (Lévi-Strauss 1973, S.274)

Lévi-Strauss meint, daß diese Behandlung der Tschuringas an unseren Umgang mit alten Familienerbstücken und Urkunden erinnert, die wir auf dem Dachboden in Truhen oder im Salon in Vitrinen aufbewahren. Als solche „Urkunden“ haben sie die Funktion, Ereignisse und die mit ihnen einhergehenden Veränderungen in die Kontinuität einer Familientradition zu integrieren. In den Urkunden wird der „Widerspruch zwischen einer vollendeten Vergangenheit und einer Gegenwart, in der sie weiterlebt, überwunden. Die Urkunden sind das verkörperte Wesen der Ereignishaftigkeit.“ (Lévi-Strauss 1973, S.280)

An dieser Beschreibung der Funktion von Urkunden fällt insbesondere auf, daß die Urkunden nur eine Beziehung zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart herstellen. Die Vergangenheit dient tatsächlich vor allem dazu, ein weiteres Mal die Gegenwart zu stabilisieren. Es gibt über die Urkunden keinen Bezug zu einer unbekannten Zukunft. Der Umgang mit „Ereignissen“ ist letztlich doch nur ein klassifikatorischer, nämlich chronologisch datierender, wie Lévi-Strauss selber am Beispiel der modernen Geschichtswissenschaft zeigt: „Die Besonderheit der historischen Erkenntnis liegt nicht in dem Fehlen eines Code, was illusorisch ist, sondern in dessen besonderer Natur: er besteht in einer Chronologie.“ (Lévi-Strauss 1973, S.297)

Die Geschichtswissenschaft klassifiziert also mittels historischer Daten in Form von Jahreszahlen und ihrer Zuordnung zu Epochen. Dabei reduziert sie die zwei Reihen (Natur und Kultur) des totemistischen Klassifikationssystems auf eine einzige Reihe: „... wenn sich eine Gesellschaft für die Geschichte entscheidet, wird die Klassifizierung in endliche Gruppen unmöglich, weil die abgeleitete Reihe (die Kultur – DZ), statt eine ursprüngliche Reihe zu reproduzieren (die Natur – DZ), mit ihr verschmilzt, um eine einzige Reihe zu bilden, bei der jeder Ausdruck abgeleitet ist in bezug auf den, der ihm folgt. Anstelle einer ein für alle Mal gegebenen Homologie zwischen zwei Reihen, die jede für sich endlich und diskontinuierlich ist, postuliert man eine kontinuierliche Entwicklung innerhalb einer einzigen Reihe, die Ausdrücke in unbegrenzter Anzahl aufnimmt.“ (Lévi-Strauss 1973, S.269)

Indem also bestimmte Gesellschaften, wie in Europa oder Asien (vgl. Lévi-Strauss 1973, S.268), sich nicht an totemistischen Klassifikationssystemen mit ihrem begrenzten Repertoire an Positionsklassen (vgl.(Lévi-Strauss 1973, S.230), sondern an einer linearen, zur Zukunft hin offenen Geschichte orientieren, ermöglichen sie einen nahezu unbegrenzten Zugang von immer neuen und immer zahlreicheren Generationen. Die Geschichte wird zu einer Fortschrittsgeschichte.

Aber das chronologische Prinzip der Geschichtsschreibung verdeckt genau diese zukunftsoffene Ereignishaftigkeit der Geschichte. Mit der an den Totemismus des wilden Denkens erinnernden ‚Benennung‘ von Ereignissen mit Jahreszahlen und ihrer klassifikatorischen Zuordnung zu Epochen erweckt sie den Eindruck einer Bändigung und Kontrolle der Geschichte: „Die chronologische Kodierung aber verschleiert eine Natur, die weit komplexer ist, als man es sich vorstellt, wenn man die Daten der Geschichte in Form einer einfachen linearen Reihe begreift.“ (Lévi-Strauss 1973, S.298)

Anders als das totemistische Klassifikationssystem kann diese chronologische Geschichtsschreibung niemals in ein endgültiges Geschichtssystem münden: „Eine wahrhaft totale Geschichte würde sich selbst neutralisieren: ihr Produkt wäre gleich Null.“ (Lévi-Strauss 1973, S.296)

Quer zur großen, ‚epochalen‘ Geschichte liegt die „biographische und anekdotische Geschichte, die ganz unten auf der Stufenleiter steht“. (Vgl. Lévi-Strauss 1973, S.300) Diesen individuellen Lebensgeschichten wächst erst über ihre Einordnung „en bloc“ in die große Geschichte einer Epoche ein historischer Sinn zu. Lévi-Strauss macht hier den Unterschied zwischen einer „schwachen“ und einer „starken“ Geschichte. (Vgl. ebenda) Aber trotz dieser Differenzierung zwischen einer „schwachen“ und einer „starken“ Geschichte wird das auf die große Geschichte hinzielende ‚Einschachteln‘ von lokalen Untergruppenereignissen in immer höhere Klassen von Geschichtsereignissen niemals zu einer „Totalgeschichte“ führen können. (Vgl. Lévi-Strauss 1973, S.301)

Letztlich geht es in Lévi-Straussens auch an dieser Stelle wieder recht umständlichen Darstellung der Unterschiede und der Parallelen zwischen der Synchronie eines totemistischen Klassifikationssystems und der Diachronie einer geschichtsoffenen Zivilisation darum, daß beide Gesellschaftssysteme eben ‚Systeme‘ bilden. Es geht in ihnen also immer und allererst um die Bändigung und Kontrolle von Ereignissen bzw. Zufällen, die in einem System immer den Charakter von Störungen annehmen. Dabei wird noch einmal auf eine besondere Weise deutlich, daß wir es beim Menschen mit einem Anachronismus zu tun haben, der sich jeder Synchronisierung wie Diachronisierung verweigert. Insofern möchte man fast heiter den immer wieder erneuerten Versuchen des wilden und des kultivierten Denkens zuschauen, diesen Menschen zu ignorieren bzw. ihn – als „letzte(m) Ziel der Wissenschaften“ – aufzulösen. (Vgl. Lévi-Strauss 1973, S.284)

An dieser Stelle formuliert Lévi-Strauss eine Einsicht, die an die in diesem Blog schon so oft erwähnte zweite Naivität erinnert. Dabei beschreibt er die lebensweltliche Naivität als eine Form der Involviertheit in die Infrastruktur; eine Involviertheit, die er als „Interiorität“ bezeichnet: „Man sage uns aber nicht, der Mensch müsse sich von dieser Interiorität lösen. Das steht nicht in seiner Macht, und die Weisheit besteht für ihn darin, sich selbst dabei zuzusehen, wie er sie lebt, und doch zu wissen (aber in einem anderen Register), daß das, was er so vollkommen und intensiv lebt, ein Mythos ist ...“ (Lévi-Strauss 1973, S.294) – Dem habe ich nichts hinzuzufügen.

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