„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Sonntag, 12. Juni 2022

Glück statt Würde?

Nach meinem letzten Blogpost zum Podcast „Lanz & Precht“ habe ich mir nun auch Prechts Buch „Von der Pflicht. Eine Betrachtung“ (2021) gekauft und gelesen. Dieses Buch ist wie bislang alle Bücher, die ich von Precht gelesen habe, kenntnisreich geschrieben, man lernt einiges über antikes und modernes politisches Denken, und es beinhaltet einen klaren Standpunkt. Aber zur Schattenseite gehören zahlreiche Verkürzungen und begriffliche Ungenauigkeiten, die der schwungvollen, launigen Formulierkunst des Autors geschuldet sind. Von einem Philosophen hätte ich mir mehr Arbeit am Begriff erwartet, auch im Rahmen eines Essays und auch wenn das bedeutet hätte, Abstriche an der Lesbarkeit des Essays zu machen.

Vor allem das erste Kapitel hat mich enttäuscht. (Vgl. Precht 2021, S.7-34) Über weite Passagen des Textes hinweg fehlt die Reflexion von Begrifflichkeiten völlig. Der Text erschöpft sich darin, die verschiedenen Gedankenverwirrungen der heutigen ‚Querdenker‘ langatmig und ironisch nachzuerzählen. Das führt zu begrifflichen Kurzschlüssen, wie z.B. beim Wahrheitsbegriff: „Letzte Evidenz für absolute Wahrheit ist die Authentizität, mit der sie gefühlt wird.“ (Precht 2021, S.31f.)

So vereinzelt wie dieser auf die ‚Querdenker‘ gemünzte Satz ohne weitere Ergänzung in den Raum gestellt ist, frage ich mich als Leser, was Precht mir damit sagen will? Wie steht Precht zum Wahrheitsbegriff? Ist er vielleicht der Meinung, daß es so etwas wie absolute Wahrheit gibt, vielleicht nicht im Sinne Platons, aber vielleicht im Sinne heutiger Faktengläubigkeit (als wären Fakten der Notwendigkeit, interpretiert zu werden, enthoben), und daß die ‚Querdenker‘ nur auf falsche Weise, nämlich gefühlsmäßig an Wahrheit glauben? Wie steht Precht zum Pluralitätskonzept von Hannah Arendt? – An solchen Stellen habe ich den Eindruck, daß Precht nur holzknüppelartig auf die ‚Querdenker‘, die für ihn ein bequemes Opfer bilden, eindrischt, ohne dem philosophischen Anspruch seiner Thesen zum Pflichtbegriff gerecht zu werden.

Noch so eine problematische Stelle: „Die Bundesrepublik Deutschland ist nicht wertneutral und ihr Grundgesetz kein moralisch unbeschriebenes Blatt.“ (Precht 2022, S.37) – Da der Staat durch das Grundgesetz definiert wird, muß ich daraus schließen, daß das Grundgesetz nicht wertneutral ist. Das ist aber definitiv falsch. Das Grundgesetz soll nach weitgehend übereinstimmender Aussage der Verfassungsrechtler vor allem sicherstellen, daß die Bürger ihre eigenen Werte leben dürfen, weshalb der Staat sich aus allen Wertentscheidungen herauszuhalten hat. Es geht um Schutzrechte für Bürgerinnen und Bürger. Das ist der Kern der Verpflichtung des Staates auf Wertneutralität!

Diese Wertneutralität kann man natürlich auch als eine Art ‚Wert höherer Ordnung‘ verstehen, aber dann handelt es sich um einen formalen Wert, dessen materiale Füllung mit konkreten gelebten Werten jeder einzelnen Bürgerin, jedem einzelnen Bürger überlassen bleibt. Nun führt Precht genau solche formalen Prinzipien, wie sie vor allem die staatliche Organisation betreffen, als Werte an, die belegen sollen, daß der Staat nicht wertneutral sei: „Staatsstrukturprinzipien, das Sozialstaatsprinzip, das Bundesstaatsprinzip und das Rechtsstaatsprinzip“. (Vgl. Precht 2021, S.37)

Zugegeben, das Sozialstaatsprinzip geht über das rein Organisatorische hinaus. Zusammen mit den „Staatszielen“, die Precht ebenfalls nennt, haben wir es hier tatsächlich mit materialen Werten zu tun. Hier werden über die Bürger hinweg Wertentscheidungen getroffen. Das ändert aber nichts daran, daß die Wertneutralität des Staates ein hohes Verfassungsgut ist. Hier kommen wir in den Bereich der Güterabwägung hinein, die dazu führt, daß die Fürsorgefunktion des Staates legitimerweise seine Wertneutralität bis zu einem gewissen Grad einschränken darf.

Was hingegen niemals Teil der staatlichen Güterabwägung sein darf, ist die Unantastbarkeit der Würde des Menschen. Als ‚Wert‘ kann man diese Menschenwürde eigentlich gar nicht bezeichnen, obwohl sie gemeinhin gerne als oberster Wert, der über allen anderen ‚Werten‘ steht, bezeichnet wird. Tatsächlich läßt das Grundgesetz keine Relativierung der Menschenwürde zu, anders als bei den anderen Grundrechten (‚Werten‘), die das Grundgesetz aufführt. Kant hat die Würde des Menschen begrifflich daran festgemacht, daß wir den Menschen nie nur als Mittel, sondern immer auch als Selbstzweck behandeln müssen. Diese Gleichzeitigkeit von Mittel und Selbstzweckhaftigkeit ist ein Spagat und im täglichen Leben schwer umzusetzen. Deshalb gerät die Menschenwürde ja auch so leicht unter die Räder. Sie wird dann eben doch wieder relativiert.

Die ganzen im Grundgesetz aufgeführten Grundrechte dienen letztlich nur dazu, genau das möglichst zu verhindern. Denn sie alle hängen irgendwie mit der Menschenwürde zusammen. Und sie alle sind formaler Natur! Keines legt fest, wie die Bürgerinnen, Bürger, ihr Leben zu führen haben.

Nehmen wir die verschiedenen ‚Freiheiten‘: Meinungsfreiheit, Forschungsfreiheit, das Recht auf freie Persönlichkeitsentwicklung etc. Freiheit ist letztlich die Luft, die die Menschenwürde zum Atmen braucht, der Raum, um sich zu entfalten. Ohne Freiheit keine Würde. Die grundgesetzlich garantierten Freiheiten gewährleisten, daß Menschen nicht zu Mitteln der Willkür von Institutionen gemacht und rücksichtslos gesellschaftlichen Zwängen unterworfen werden. Wenn aber z.B. Gegner des Tempolimits von der freien Fahrt für freie Bürger schwafeln, fragt man sich zu Recht, was das mit der Menschenwürde zu tun hat. Freiheit und Würde haben einen tieferen, genuin menschlichen Sinn. Es ist Aufgabe unserer Lebensführung, herauszufinden welchen.

Wenn das Grundgesetz die Menschenwürde zum einzigen ‚Wert‘ erhebt, der keiner Relativierung unterliegt, keiner Güterabwägung, sagt das etwas über das Menschenbild des Grundgesetzes aus. Dieses Menschenbild stellt Individualrechte ins Zentrum, und erst in zweiter Linie kommen auch Gruppenrechte zur Sprache. Precht aber erklärt dieses Menschenbild mit Verweis auf Kant für veraltet! (Vgl. Precht 2021, S.73) Kant, so Precht, der der Urheber des modernen Begriffs der Menschenwürde ist, lebte noch in einer Zeit, wo das Lebensrecht und das Glück des einzelnen Menschen nichts zählten. Die Menschen waren Ständen, Zünften, Religionsgemeinschaften und nicht zuletzt Fürstentümern zugeordnet. Um sie vor staatlicher bzw. fürstlicher Willkür zu schützen, entstand die Vorstellung von Menschenrechten, die in den Anfängen vor allem weißen Männern vorbehalten waren, aber nach und nach universalisiert wurden.

Lebte Kant heute, so suggeriert Precht, entschiede er sich wohl eher für das Glück als höchstem Wert. (Vgl. Precht 2021, S.73) Was Precht hier verschweigt, ist, daß bei Kant das Glück eng mit der Würde zusammenhängt. Lebte Kant heute, würde er sich also wohl eher fragen, ob die Menschen heute, die den Planeten zugrunderichten und auf Kosten der nachfolgenden Generationen leben, überhaupt glückswürdig sind.

Jedenfalls behauptet Precht, daß die heutigen Demokratien sich vor allem durch ihre Fürsorge, ihren Einsatz für das Glück von Bürgerinnen und Bürgern legitimieren. Deshalb sei die Bundesrepublik Deutschland ja auch ein Wohlfahrtsstaat. (Vgl. Precht 2021, S.38f.) Precht zeichnet hier geradezu paradiesische Verhältnisse in den westlichen liberalen Demokratien, und würde er das nicht später durch eine realistischere Darstellung der engen Verbindung zwischen Wohlfahrtsstaat und modernem Kapitalismus wieder ins rechte Bild rücken (vgl. Precht 2021, S.117-140), nähme ich ihm das wirklich übel.

Aber der Umstand bleibt bestehen, daß Precht die Menschenwürde als oberstem Grundwert durch das Glück ersetzt sehen möchte.

Kommen wir zum letzten Punkt, den ich Precht vorwerfe. Im Zusammenhang mit dem Glückskonzept führt Precht Foucaults Begriff der Biopolitik ein. (Vgl. Precht 2021, S.42ff.) Der Staat soll sich um das Leben seiner Bürgerinnen und Bürger sorgen, also, so Precht, ‚Biopolitik‘ betreiben. Damit öffnet Precht die Büchse der Pandora, denn ich bezweifle sehr, daß man zwischen einer guten (um das Leben der Menschen besorgten) Biopolitik und einer faschistischen (das Auslöschen lebensunwerten Lebens besorgenden) Biopolitik unterscheiden kann. Beide sind, auf verschiedene Weise, gefährlich. Jede Biopolitik führt letztlich zum Ende einer die individuelle Lebensführung respektierenden staatlichen Wertneutralität.

Das macht den Pflichtbegriff, dem Precht seinen Essay gewidmet hat, so problematisch. Das Zentrum des Prechtschen Verständnisses von Biopolitik bildet ein Gewebe wechselseitiger Pflichten zwischen Staat und Bürgern. Dieses Pflichtverständnis soll, wie Precht mit Verweis auf Cicero schreibt, die Grundlage alles (politischen) Handelns bilden. (Vgl. Precht 2021, S.89) Später ergänzt Precht, daß die von ihm gemeinte Pflichterfüllung nicht ohne phronesis, also nicht ohne Urteilskraft zu haben ist. (Vgl. Precht 2021, S.95) Wie Precht selbst, wieder an einer anderen Stelle – man muß sich diese Stellen mühsam zusammensuchen –, hervorhebt, ist diese Urteilskraft eine genuin individuelle Leistung: „Jeder Staatsbürger hat das moralische Recht, ja sogar die moralische Pflicht, sich zu entpflichten, wenn die (staatlich – DZ) angewiesene Pflicht der humanitas widerspricht!“ (Precht 2021, S.103) – Es gibt sozusagen eine individuelle Pflicht zum „Widerstand gegen staatliche Willkür“. (Vgl. ebenda)

Kant spricht hier von der Autonomie des individuellen Verstandes, und Hannah Arendt macht aus genau diesen Gründen die individuelle Urteilskraft – und nicht die Pflicht – zur eigentlichen Grundlage politischen Handelns. Wenn hier von Pflicht die Rede wäre, dann nur im Sinne einer Pflicht zum denken!

Der immensen politischen Bedeutung, die hier der Urteilskraft und dem individuellen Verstand zuwächst, widerspricht der Begriff der Biopolitik.

Ein Beispiel für gute Biopolitik ist Precht zufolge das Agieren des Staates während der Corona-Pandemie: „Die moderne Biopolitik in der Covid-19-Pandemie ist nicht, wie vielfach plakatiert, ‚der größte Zivilisationsbruch seit 1945‘, sondern der Versuch, einen solchen durch massenhaftes leichtfertiges Sterbenlassen zu verhindern.“ (Precht 2021, S.54)

Genau mit diesen Worten können aber auch sogenannte Lebensschützer gegen Abtreibung argumentieren und sich gerechtfertigt fühlen, gewalttätig gegen schwangere Frauen vorzugehen. In beiden Fällen, in Sachen Pandemie und in Sachen Abtreibung, haben wir es mit Individualrechten zu tun, mit Rechten des Individuums gegen Gesellschaft und Staat! Im Falle eines Schwangerschaftsabbruchs geht es um die Individualrechte einer lebendigen Person gegenüber den Individualrechten eines Embryos, das ohne diese Person überhaupt nicht lebensfähig wäre. Egal, in welche Worte man diesen Sachverhalt zu fassen versucht – ich habe meine Worte gewählt – hier müssen offensichtlich Rechte und Werte ausgehandelt werden, und in diesem Aushandlungsprozeß hat das Embryo seine Lobby. Aber die schwangere Frau hat nur eine Lobby: das Grundgesetz.

Biopolitik unterscheidet nicht zwischen Schutzbedürftigen in einer Pandemie und Schutzbedürftigen bei einem Schwangerschaftsabbruch. Biopolitik hat in beiden Fällen nichts zu suchen.

Precht verhandelt aber nun den Pflichtbegriff auf zwei Ebenen: auf der Ebene der Biologie (Recht auf Leben) und auf der Ebene der Gesellschaft (Solidarität). Die individuelle Urteilskraft thematisiert er, anders als Hannah Arendt, nur als Ergänzung zum Pflichtbegriff (vgl. Precht 2021, S.95, 98, 102f., 104), während er die individuellen Schutzrechte des Grundgesetzes als veraltet darstellt. So gerät ihm alles politische Handeln zu einem Entweder-Oder, ohne Ausblick auf ein mögliches Drittes: „massenhygienisches Verhalten“ (gut) oder Rebellion dagegen (schlecht), Solidarität (gut) oder Auslese (schlecht), Verantwortung oder Verantwortungslosigkeit. Alles aber, so Precht, gut oder schlecht, ist Biopolitik. (Vgl. Precht 2021, S.62f.) Man soll sich für die gute Biopolitik entscheiden.

Dem kann ich nicht folgen.

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