„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Freitag, 3. Mai 2019

Jason W. Moore/Raj Patel, Entwertung. Eine Geschichte der Welt in sieben billigen Dingen, Berlin 2018

1. Strategien der Entwertung
2. Entwertung und Mehrwert
3. Fußabdrücke

Moore und Patel versäumen es, individuelle und gesellschaftliche Verantwortung auf eine Weise zu differenzieren, die das individuelle Handeln nicht abwertet. Das zeigt sich an der Stelle, wo sie auf den individuellen ökologischen Fußabdruck zu sprechen kommen, der bei US-Amerikanern bei durchschnittlich vier Planeten und bei Deutschen bei durchschnittlich 2,5 Planeten liegt, die wir bräuchten, wenn alle Menschen unseren Lebensstil übernehmen würden. (Vgl. Moore/Patel 2018, S.268)

Die Bedeutung, die diese Berechnung für die individuelle Verantwortung hat, wird von Moore/Patel gleich wieder relativiert, indem sie auf die Gentrifizierung hinweisen, die die Menschen aus den Städten mit ihren kurzen Arbeits- und Versorgungswegen vertreiben, ohne auf dem Land ein entsprechendes öffentliches Verkehrssystem vorzufinden, das es ihnen erlaubt, auf den konventionellen, mit fossilen Brennstoffen betriebenen Individualverkehr zu verzichten. (Vgl. Moore/Patel 2018, S.269) Moore/Patel werfen dem Denken in Fußabdrücken vor, den eigentlichen Verursacher für dieses ökologische Dilemma, den Kapitalismus, durch die Fokussierung auf den individuellen Konsum zu verschleiern. (Vgl. Moore/Patel 2018, S.268) Das eigentlich Problem ist also das ‚System‘ und nicht das ‚Individuum‘:
„Die Erkenntnis, um die es uns geht, ist keine individuell-therapeutische, sondern eine institutionelle und systemische.“ (Moore/Patel 2018, S.274)
Das individuelle Handeln ist also allenfalls therapeutisch und fördert lediglich das persönliche Wohlbefinden? – Seit November vergangenen Jahres gehen tausende Franzosen auf die Straße und blockieren Autobahnzufahrten, weil die französische Regierung die Mineralölsteuer angehoben hat, um den Treibstoff zu verteuern. Millionen auf dem Land lebende Franzosen, die stundenlange Anfahrtswege zu ihrer Arbeitsstelle haben und lange Einkaufswege bewältigen müssen und dafür auf das Auto angewiesen sind, fanden das gar nicht lustig.

Aber was sind ‚lange‘ Versorgungswege? Ich lebe auf dem Land. In dem Dorf, in dem ich lebe, gibt es keine Geschäfte, noch nicht einmal eine Kirche. Der Bus kommt zweimal am Tag vorbei. Trotzdem fahre ich mit dem Rad, jedes Jahr zehntausend Kilometer, auf den Tag runtergerechnet 27,4 km, und zwar jeden Tag. Es mag sein, daß das nichts für jedermann und auch nicht für jede Frau ist, vor allem, wenn man eine Familie zu versorgen hat. Aber die Grenzen individuellen Handelns lassen sich weiter ziehen, als es viele, die in ihren motorisierten Blechkabinen durch die Gegend rollen, vorstellen können und auch wollen. Die individuelle Verantwortung für richtiges Handeln sollte jedenfalls nicht voreilig relativiert werden. Es gibt ein richtiges Leben im falschen!

Gerade bei den ‚Gelbwesten‘ wird die zwielichtige Motivationslage von gesellschaftlichen Bewegungen deutlich, die sich gegen die notwendigen klimapolitischen Veränderungen stemmen und dabei naiv die eigene individuelle Notlage mit menschenfeindlichen Ressentiments vermengen. Also ja, – hier bedarf  es einer individuellen Therapie, nämlich als Rückbesinnung auf eine persönliche Verantwortung, die zwischen berechtigten Bedürfnissen und kollektiven Pathologien zu unterscheiden weiß. Das Problem ist nicht das ‚System‘, sondern die das ‚System‘ vollziehenden Individuen.

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