„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Mittwoch, 1. Mai 2019

Jason W. Moore/Raj Patel, Entwertung. Eine Geschichte der Welt in sieben billigen Dingen, Berlin 2018

1. Strategien der Entwertung
2. Entwertung und Mehrwert
3. Fußabdrücke

Jason W. Moore, Dozent für Weltgeschichte, Soziologie und Ökologie an der Universität von Binghamton, und Raj Patel, Research Professor an der University of Texas, beschreiben in ihrem Buch „Entwertung“ (2018) Strategien der Verbilligung von Ressourcen, ohne die die „kapitalistische Ökologie“ (vgl. Moore/Patel 2018, S.155f., 241 u.ö.), wie die beiden Autoren die enge Verbindung des Kapitalismus mit dem „Netz des Lebens“ nennen (vgl. Moore/Patel 2018, S.40), nicht möglich wäre. Diese Strategien der Verbilligung bilden zugleich Strategien der Entwertung und richten sich auf die Natur, Geld (in Form billiger Kredite), Arbeit, Fürsorge, Nahrung, Energie und Leben, insbesondere menschliches Leben. Diese Entwertungsstrategien haben unseren Planeten insgesamt umgeformt und den bisherigen erdgeschichtlichen Epochen eine neue Epoche hinzugefügt: das Anthropozän, das aber Moore/Patel zufolge besser „Kapitalozän“ heißen sollte, da es nicht die Menschen schlechthin seien, die diese Epoche hervorgebracht hätten, sondern der Kapitalismus. (Vgl. Moore/Patel 2018, S.13)

An zwei Beispielen macht das Autorenpaar deutlich, was ‚Verbilligung‘ bzw. ‚Entwertung‘ meint: am Hähnchen und an der Geschichte der Insel Madeira. Die heutigen Hähnchen sind Moore/Patel zufolge nicht mehr dieselben Tiere wie vor hundert Jahren:
„Diese Tiere können kaum noch laufen, sind innerhalb von wenigen Wochen schlachtreif, tragen besonders viel Fleisch und werden in Mengen aufgezogen und geschlachtet, die für unser Ökosystem von Bedeutung sind (mehr als 60 Milliarden Vögel pro Jahr).() Betrachten wir das als ein Beispiel für billige Natur.“ (Moore/Patel 2018, S.14)
Zur Entwertung der Tiere kommt die Entwertung der menschlichen Beziehungen derjenigen, die in den Produktionsprozeß von Hähnchenfleisch eingebunden sind. Moore/Patel fassen die verschiedenen Momente dieses Produktionsprozesses,
  • die schlechte Bezahlung der Arbeiter,
  • die ungesunde Arbeit am Fließband einschließlich der dadurch notwendig werdenden Fürsorge durch deren Familien,
  • die Versorgung der Konsumenten mit billiger Nahrung,
  • den mit der Produktion verbundenen Methanausstoß (Klimaerwärmung),
  • die staatliche Subventionierung
  • und das Franchising-System
  • und die Geringschätzung tierischen und menschlichen Lebens
mit folgenden Worten zusammen:
„Den sozialen Kämpfen um Natur, Geld, Arbeit, Fürsorge, Nahrung, Energie und Leben, die mit den Hühnerknochen des Kapitalozäns verbunden sind, kommt ein so großer Stellenwert zu, dass nicht das Auto oder das Smartphone das ikonische Symbol der Moderne ist, sondern der Chicken McNugget.“ (Moore/Patel 2018, S.15f.)
An der Insel Madeira zeigen Moore/Patel, wie ein Öko-System seit seiner Entdeckung und Kolonisierung im 15. Jhdt. vollkommen zugrundegerichtet wurde. (Vgl. Moore/Patel 2018, S.25ff.) Ursprünglich war die Insel dichtbewaldet gewesen. Innerhalb von 80 Jahren war die Insel vollständig entwaldet, weil die Bäume zunächst für den Schiffbau und dann als Brennmaterial für die Zuckerrohrproduktion gebraucht wurden. Insbesondere der Zuckerrohranbau wurde dabei Moore/Patel zufolge zur Blaupause für die industrielle Produktion in Fabriken:
„Madeira wurde zu einem Experimentierfeld, auf dem man die Grenzen menschlicher Widerstandsfähigkeit und Kraft auslotete und neue Ordnungs-, Prozess- und Spezialisierungstechnologien erprobte, wie sie Jahrhunderte später in den industriellen Fabriken in England zum Einsatz kommen sollten. ... Obwohl nur wenig über die Sklavenaufstände in Madeira bekannt ist, wissen wir doch, dass am Ende des Zuckerbooms die in der Sklaverei und der Plantagenwirtschaft angewandten Methoden verfeinert und über den Atlantik exportiert wurden ...“ (Moore/Patel 2018, S.43f.)
Von Anfang an ist die kapitalistische Ökologie also nicht etwa eine ausschließlich auf Lohnarbeit beschränkte Ausbeutungsform gewesen, mit deren Hilfe der Kapitalist seinen Mehrwert erwirtschaftet. Zur Verbilligungsstrategie gehörte auch die direkte Sklaverei:
„Die Sklaverei trat auf Madeira zwar nicht zum ersten Mal auf, wohl aber die moderne Sklaverei. Die Letztere zeichnet aus, dass die Sklaven zur landwirtschaftlichen Massenproduktion herangezogen und aus ihrer Verwurzelung in die Gesellschaft gerissen wurden. ... Sklaven als Teil der Natur und nicht als Teil der Gesellschaft zu behandeln, erwies sich für die Investoren als ein erfolgreicher Schachzug.“ (Moore/Patel 2018, S.45)
Mit einem aktuellen Beispiel für moderne Sklaverei haben wir es übrigens bei den Flüchtlingen zu tun, die das Mittelmeer zu überqueren versuchen, um nach Europa zu gelangen. Jan-Philipp Scholz beschreibt in seinem Buch „Menschenhandel, Migrationsbusiness und moderne Sklaverei“ (2019), wie diese oft genug als Wirtschaftsflüchtlinge bezeichneten Menschen auf ihrem Weg allen möglichen zweifelhaften, profitorientierten Interessengruppen Geld einbringen, nicht nur auf offensichtliche Weise den Schleppern, sondern auch den Staaten, die sie durchwandern, weil die dortigen Machthaber mit Hilfe von EU-Geldern dazu gebracht werden sollen, sie aufzuhalten. So landen die Flüchtlinge in KZ-artigen Lagern, in denen sie mißbraucht, als billige ‚Arbeitskräfte‘ eingesetzt und umgebracht werden, wenn die Lager voll sind, um Platz zu schaffen für neue Flüchtlinge. Diejenigen, die es nach Europa geschafft haben, werden von ihren Herkunftsländern vor allem deshalb nicht zurückgenommen, weil sie diese mit Devisen versorgen, wenn sie ihre Familien mit Geld versorgen, das sie in den Aufnahmeländern unter menschenunwürdigen Arbeitsbedingungen verdienen. Außerdem sind die korrupten Machthaber in den Herkunftsländern froh, wenn sie die vorwiegend jungen Leute, die für sie eine potentielle Gefahr sind, los sind. Auch die ‚Wirtschaftsflüchtlinge‘ sind also ein Beispiel für kapitalistische Ökologie. – Über all das sind übrigens die europäischen Politiker, auch die deutschen, bestens informiert.

Die Unterscheidung zwischen Natur und Gesellschaft war ein wichtiges ideologisches Instrument bei der Entwertung menschlichen Lebens, das von der Wissenschaft und von der Religion unterstützt wurde. Im Bereich der Wissenschaft entwickelte der Schwede Carl von Linné (1707-1778) eine Nomenklatur, in der er den homo sapiens nach verschiedenen Varietäten (Rassen) ausdifferenzierte, denen er außerdem bestimmte Charaktereigenschaften zuordnete, die eine Hierarchisierung von Menschengruppen ermöglichte:
„Die Naturwissenschaften lieferten die Begründung für eine ethnische Einordnung, die wiederum die koloniale Mission der Zivilisierung legitimierte. Linnés Typologie war verantwortlich dafür, dass Menschen sich das Recht herausnahmen, nicht nur andere Menschen wie Eigentum und Schuldverschreibungen zu behandeln, sondern sich auch an die Spitze einer Hierarchie zu setzen, die diese Menschen einem staatlichen Herrschaftsgefüge unterwarf.“ (Moore/Patel 2018, S.248)
Religiöse Unterstützung erhielt dieses Klassifikationssystem durch Papst Nikolaus V., der 1455 dem portugiesischen König erlaubte, alle Feinde des christlichen Glaubens zu versklaven. Diese Erlaubnis bezog man dann auch auf die indigenen Völker in den Kolonien, die das Evangelium nicht kannten, so daß zu deren Versklavung bloße Unwissenheit ausreichte:
„Was Menschen wussten oder nicht wussten, wurde für die Beschaffung von Arbeitskräften und den Umgang mit ihnen relevant.()“ (Moore/Patel 2018, S.125)
Im Rahmen der „Encomienda“ wurde die Zwangsarbeit der Eingeborenen damit gerechtfertigt, daß sie auf diese Weise zum Christentum ‚erzogen‘ werden sollten:
„Letztlich ermächtigte gerade die Fürsorgepflicht für die Seelen der Eingeborenen die Kolonisatoren dazu, ihnen ihr Land wegzunehmen und sie im Dienste der Zivilisation darauf arbeiten zu lassen.“ (Moore/Patel 2018, S.127)
Wir haben es bei den Entwertungsstrategien der kapitalistischen Ökologie Moore/Patel zufolge hauptsächlich mit einer Vielzahl von Grenzziehungen zu tun, sowohl an den Rändern der Nationalstaaten, die andere Länder unterwarfen und kolonisierten, zunächst europäische Länder wie Irland und Polen, und dann die anderen Kontinente, die beiden Amerikas, Afrika, Asien, Australien; wie auch innerhalb der Nationalstaaten selbst, entlang der Grenzen zwischen Gesellschaft und Natur, Mann und Frau und öffentlich und privat. (Vgl. Moore/Patel 2018, S.167)

Im Grunde geht es bei diesen Grenzziehungen um jenen historischen Prozeß, den Karl Marx als ursprüngliche Akkumulation bezeichnet hatte, nämlich um die Einfriedung von allgemeinen Gütern und Rechten, von Allmenden bzw. commons, die allen Menschen gleichermaßen zugänglich waren. (Vgl. Moore/Patel 2018, S.117, 120, 127) Die sieben billigen Dinge, die Moore/Patel aufzählen und kapitelweise abhandeln, sind ursprünglich nichts anderes als solche Allmenden, die die kapitalistische Ökologie in Privateigentum verwandelt, von dem die meisten Menschen ausgeschlossen werden, um von nun an als Sklaven bzw. Lohnarbeiter ihr Leben fristen zu müssen. Die wichtigste ‚Einfriedung‘ bildet die Natur selbst, zu der eben auch die meisten Menschen gezählt werden, Weiße wie Nicht-Weise, aber vor allem eben Nicht-Weiße, und außerdem die Frauen. Gender ist ein wichtiges Thema in dem Buch von Moore/Patel. (Vgl. Moore/Patel 2018, S.152ff.) Der Natur gegenüber steht die Gesellschaft bzw. der ‚zivilisierte‘ Teil der Menschheit, hauptsächlich weiße Männer.

Nicht minder wichtig ist die unbezahlte Fürsorgearbeit der Frauen, von der Moore/Patel feststellen, daß der Kapitalismus in dem Moment abgeschafft werde, wo er für die Fürsorge bezahlen muß. (Vgl. Moore/Patel 2018, S.180) Er ist dann einfach nicht mehr profitabel.

Bei der Differenz zwischen Natur und Gesellschaft haben wir es mit einem für den Kapitalismus grundlegenden Dualismus zu tun, der von René Descartes philosophisch begründet wurde:
„Descartes unterschied zwischen Körper und Geist und verwendete dafür die lateinischen Begriffe res extensa und res cogitans. ... Die herrschenden Klassen der Epoche wiesen die meisten menschlichen Wesen – Frauen, Farbige, Eingeborene – der ausgedehnten, nicht der denkenden Substanz zu. ... Die kartesische Haltung prägte die moderne Logik von Macht und Denken.“ (Moore/Patel 2018, S.72f.)
Moore/Patels These, daß der Kapitalismus auf grundlegenden Grenzziehungen zwischen Natur und Gesellschaft, zwischen Kolonien und Nationalstaaten und zwischen Frauen und Männern beruht, um so billige, Profite ermöglichende Ressourcen zu schaffen, leuchtet ein. Aber das Autorenpaar wird dem Doppelsinn, der mit dem Begriff der Grenze verbunden ist und der allererst so etwas wie eine ‚Ökologie‘, also auch eine kapitalistische Ökologie ermöglicht, nicht gerecht. Ich meine den mit dem Begriff der Grenze verbundenen Begriff des Stoffwechsels:
„Keine Grenze kommt ohne einen Austausch aus, der bereitstellt, was im Inneren fehlt, indem Leben von anderer Stelle abgeschöpft wird.“ (Moore/Patel 2018, S.30)
Moore/Patel gehen nur ganz am Rande auf diese Bedeutungsdimension ein. Dabei benutzen sie nicht den Begriff des Stoffwechsels, sondern den des Oikeios:
„Mit Hilfe seiner Grenzräume beherrscht der Kapitalismus ein Spektrum von Beziehungen zur ‚Lebenserzeugung‘, das über die buchhalterische Bilanz von Gewinn und Verlust hinausreicht. ... Mangels eines angemessenen Begriffs im Deutschen greifen wir auf die Idee des oikeios zurück. Oikeios bezeichnet den vielschichtigen Puls der Lebenserzeugung, der jede menschliche Aktivität am laufen hält und unablässig von natürlichen Kräften geformt wird, die sich der menschlichen Kontrolle entziehen. Oikeios sorgt dafür, dass bestimmte Formen des Lebens auftauchen, dass Arten Lebensräume schaffen und Lebensräume Arten. So besetzt der Puls der menschlichen Zivilisation nicht einfach Lebensräume, er erzeugt sie – und wird zugleich von ihnen erzeugt.()“ (Moore/Patel 2018, S.31)
Moore/Patel versäumen es, den Begriff des Stoffwechsels auch auf die Zirkulation des Geldes zu beziehen. Zwar ist viel von dieser Zirkulation die Rede (vgl. Moore/Patel 2018, S.37, 40, 91), aber die Transformationen, die das zirkulierende Geld ermöglicht, die Metamorphosen, die es selbst bei der Zirkulation durchläuft, werden nicht thematisiert. So entgeht dem Autorenpaar der eigentliche Entwertungskern, nämlich die Entwertung, die das Geld selbst bewirkt, als Mehrwert; und darüberhinaus entgeht ihm der Kern der Genderproblematik, wie sie Christina von Braun beschrieben hat, als Kastration des Mannes, als Raub an seiner Fruchtbarkeit. Zins und Zinseszins treten an die Stelle von Kind und Kindeskind. Dazu mehr im nächsten Blogpost.

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