„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Sonntag, 11. Dezember 2022

Salman Rushdi: Freiheitsdiskurs

Ich habe mir im DLF (Essay und Diskurs) „Freiheitsdiskurs“ von Salman Rushdi angehört. Dort spricht er von der scheinbar aufgeklärten Haltung, schonend mit den Gefühlen von Gläubigen umzugehen; sie also nicht dadurch zu kränken, daß man ihren Glauben in Zweifel zieht. Tatsächlich, so Rushdi, kommt darin eine verinnerlichte Religiösität der scheinbar toleranten Aufklärer zum Ausdruck, die die Selbsttäuschungen (Laien) und Lügen (Kleriker), die mit solcherart ,geschonten‘ Glaubens einhergehen, zugunsten eines Rechts auf Religionsfreiheit aufwertet. Wer Religiösität gegen den Willen zur Wahrheit verteidigt, agiert selbst als Teil der Gemeinschaft der Gläubigen.

Dazu fällt mir der ‚Blasphemie‘-Paragraph (StGB) ein. Ich hatte da früher schon mal reingeschaut, und die Formulierung fand ich damals eigentlich soweit in Ordnung. Es geht dabei eigentlich nur darum, daß man sich Religionsgemeinschaften gegenüber höflich verhält und sie nicht in ihren Gefühlen kränken oder provozieren sollte. So sollte man sich eigentlich allen Menschen gegenüber verhalten, dachte ich, und ist deshalb eher eine Selbstverständlichkeit.

Deshalb ist es aber auch seltsam, daß man dafür eigens einen Blasphemieparagraphen braucht. Wozu eine Selbstverständlichkeit, die für alle Menschen gegenüber allen Menschen gilt, nochmal für eine besondere Gruppe von Menschen eigens hervorheben und ihre Verletzung dann auch noch als Blasphemie unter Strafe stellen?

Werden da diesen Menschen nicht Sonderrechte eingeräumt? In dem Sinne, daß sie es nun sind, die festlegen können, wann genau sie sich beleidigt und gekränkt fühlen dürfen und somit das Eintreten des als Blasphemie bezeichneten Straftatbestands selbst feststellen können?

Auch hier gilt, was Rushdi als Verinnerlichung von Religiösität auf seiten jener beschreibt, die sich selbst als nicht gläubig verorten: sie ordnen aus ,Toleranz‘, ,Höflichkeit‘ oder ,Respekt‘ ihre Meinungsfreiheit der vermeintlichen Religionsfreiheit freiwillig unter; einer Freiheit, die nicht als Freiheit von, sondern als Freiheit der Religion mißverstanden wird, ,Ungläubige‘ zu missionieren; einer Freiheit, die die Freiheit aller für sich vereinnahmt.

In den USA, so Rushdi, versteht man Religionsfreiheit genau so. Bei ihnen ist die Freiheit nicht ohne Religion denkbar. Das ist der Grund, warum viele junge Leute dort inzwischen meinen, daß auch ihre persönliche Meinung eine Art privates Refugium bildet, das vor der Meinung anderer geschützt werden muß. Sie leiten daraus ein Recht auf Komfortabilität ab. Also: Meinungsfreiheit = Glaubensfreiheit = Religionsfreiheit.

Das ist die logische Konsequenz der Religionsfreiheit: selbst Meinungen dürfen nicht mehr in Frage gestellt werden. Jeder Diskurs erfüllt den Tatbestand der Blasphemie.

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