„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Donnerstag, 1. Dezember 2022

Paralipomena zu Plessner

Helmuth Plessner, Politik – Anthropologie – Philosophie. Aufsätze und Vorträge, München 2001

Ich habe ein paar ältere Notizen rausgekramt, die ich mir mal zur Lektüre von Plessners Buch („Politik – Anthropologie – Philosophie“ (2001)) gemacht habe. Bei dem Buch handelt es sich um eine Aufsatzsammlung. Ich habe nicht alle Aufsätze gelesen. Und von den Aufsätzen, die ich gelesen habe, habe ich nicht mit allen etwas anfangen können. So z.B. mit „Wiedergeburt der Form im technischen Zeitalter“ (1932) und mit „Zum Verständnis der ästhetischen Theorie Adornos“ (1976). Beim Aufsatz zum „technischen Zeitalter“ hatte ich noch nicht mal den Hauch einer Ahnung davon, worin meine Schwierigkeiten mit dem Text liegen könnten.

„Sinnlichkeit und Verstand“ (1936), S.119-143 – Thematisch entspricht dieser mit seinem Titel an einen Roman von Jane Austen erinnernde Aufsatz dem Buch „Die Einheit der Sinne“ (1923). Die kritische Stoßrichtung des Aufsatzes wendet sich gegen den von den Naturwissenschaften behaupteten Primat der sogenannten primären Sinnesqualitäten vor den sekundären Sinnesqualitäten, die sich, anders als die primären, nicht mathematisch-quantitativ erfassen lassen: „Zu Unrecht hält man es hier mit Locke, schreibt die sinnlichen (sekundären) Qualitäten auf Konto des Subjekts und die zahlenmäßig ausdrückbaren (primären) Qualitäten auf Konto des Objekts und macht sich keine Gedanken darüber, wie und wo Molekularstrukturen und Schwingungen zu Farben und Klängen werden.“ (Plessner 2001, S.120)

Primäre Sinnesqualitäten sind Größe, Zahl, Bewegung und Gestalt und werden vor allem von dem Gesichts- und dem Tastsinn vermittelt. Sie sind beständig und werden mit zur Außenwelt gehörenden Körpern assoziiert. Sekundäre Qualitäten wie Farben, Gerüche und Töne sind sekundäre Sinnesqualitäten. Sie sind unbeständig und werden mit einer inneren Empfindungswelt assoziiert.

Plessner formuliert zu dieser Aufteilung unserer Sinne die Antithese, daß alle menschlichen Sinne gleichermaßen gerade in ihrer Verschiedenheit auf ein „System der Beweglichkeit“ bezogen sind (vgl. Plessner 2001, S.122) und darin nur als Verbund ‚gleichwertig‘ zur Geltung kommen. Das mathematische Prinzip der Exaktheit ordnet hingegen die Mannigfaltigkeit der Sinnesempfindungen einem durch das Auge und den Tastsinn konstituierten quantitativen Raum-Zeit-Gefüge unter:
„Berechnung und Zielstrebigkeit beanspruchen in der Tat den ganzen Menschen und dominieren, heute mehr denn je, über die anderen Formen des Lebens. Auch darf man sich ihr ‚Abgestimmtsein auf Auge und Hand‘ nicht so äußerlich und apparatehaft vorstellen, als seien die anderen Sinne, die anderen Typen der menschlichen Motorik und des Verstehens davon unberührt gelassen. Das Prinzip der rationalen Praxis ist universal und intolerant. Es stellt alle Sinne als Wahrnehmungsquellen, alle Formen des Verstehens als Zugangswege zur Wirklichkeit, alle Arten der Motorik als Ansatzpunkte, Hilfsmittel und Gebiete der Naturbeherrschung in seinen Dienst. In dieser Ausschließlichkeit wurzelt gerade jene nivellierende Behandlung der sinnlichen Modi, ihre Vereinheitlichung unter dem Titel ‚Sinnesempfindungen und Wahrnehmungsquellen‘, das Vorurteil ihrer Gleichwertigkeit für den Maßstab des exakten Denkens und die Uniformierung des Verstandes.“ (Plessner 2001, S.137)
Das naturwissenschaftliche „Vorurteil der Gleichwertigkeit“ der Sinnesempfindungen nivelliert also deren Mannigfaltigkeit. Plessner setzt dagegen eine Gleichwertigkeit, die der Verschiedenheit der Sinnesempfindungen Rechnung trägt: „In dieser Hinsicht sind die Sinne in ihrer Verschiedenheit einander gleichberechtigt. Ihre Gleichwertigkeit darf nur nicht als formale Gleichheit oder gegenseitige Vertretbarkeit gedeutet werden.“ (Plessner 2001, S.141)

Was die mangelnde ‚Vertretbarkeit‘ der Sinne untereinander betrifft, fällt auf, daß Plessner nicht auf die Synästhesie eingeht, in der sich ja durchaus olfaktorische, optische und akustische Wahrnehmungen gegenseitig ‚vertreten‘ können.

Plessner führt den Verstand anders als Kant nicht auf die formale Konstitution raumzeitlicher Strukturen zurück, sondern auf die Kommunikation sinnlich verkörperter Subjekte. (Vgl. Plessner 2001, S.138) Damit gleicht seine Position der von Carola Meier-Seethaler in ihrem Buch „Gefühl und Urteilskraft“ (1983/97). Plessner schreibt: „Die Entschränkung des Blicks von den Vorurteilen der Exaktheit und weiterhin des Europäismus überhaupt rehabilitierte das Archaische, Exotische und scheinbar Primitive, die Welten des Gefühls, des Mythos und Glaubens und erhöhte ihre Bedeutsamkeit in den Augen einer Philosophie, der nichts Menschliches fremd sein soll.“ (Plessner 2001, S.138)

Der von den Naturwissenschaften einseitig bevorzugten „Wahrnehmungsfunktion“ der Sinne stellte Plessner die „Vermittlungsfunktion“ der Sinne gegenüber: „Wahrnehmungsfunktion und Vermittlungsfunktion müssen bei den Sinnen auseinandergehalten werden.“ (Plessner 2001, S.140) – Denn „in einer Welt getrennter Körper“ bedarf es der ganzen Mannigfaltigkeit der Sinne, damit die „durch ihre Leiber voneinander isoliert(en)“ Subjekte „Verbindung“ zueinander aufnehmen können. (Vgl. Plessner 2001, S.140)

Neben der Kinästhetik, der sensomotorisch begründeten Einheit, ist es vor allem diese Vermittlungsfunktion, die die Einheit der Sinne möglich macht.

„Tier und Mensch“ (1938), S.144-167 – Diesen Aufsatz hat Plessner zusammen mit Frederik Jacobus Johannes Buytendijk geschrieben. Beide legen darauf wert, daß es einen Wesensunterschied zwischen Mensch und Tier gibt. Diesen Wesensunterschied machen sie am menschlichen Geist fest.

Ich kann mit solchen Wesensunterschieden nicht viel anfangen. Und auch Plessner selbst reflektiert den Begriff des Wesens in seinem Aufsatz zur „Philosophischen Anthropologie“ kritisch. Natürlich gibt es eine Tier-Menschdifferenz. Aber warum muß man sie gleich metaphysisch überhöhen? Diese Metaphysik führt zu jenen „Maximalbedingungen“ des Menschseins, die Plessner selbst im gerade erwähnten Aufsatz ablehnt.

Das ist um so problematischer, als Plessner und Buytendijk sogar so weit gehen, die Tier-Menschdifferenz auch auf eine Differenz zwischen niederen und „höheren Menschrassen“ zu übertragen. (Vgl. Plessner 2001, S.163) Und das geht natürlich gar nicht. Mit Blick auf den Aufsatz zur philosophischen Anthropologie ist es allerdings auch denkbar, und das wäre eine Art Entschuldigung, daß die beiden Autoren beim Begriff ‚Rasse‘ naiv an die verschiedenen evolutionären Formen von Hominiden wie dem Homo erectus, dem Homo heidelbergensis und dem Homo mit dem doppelten ‚sapiens‘ denken. Aber auch hier ist es hochproblematisch, von Wesensunterschieden zu sprechen.

Interessant finde ich allerdings die Unterscheidung zwischen „Intelligenz“ und „Geist“. Auch hier wird wieder von einer „Wesensverschiedenheit“ gesprochen. Aber dabei geht es nicht um Metaphysik, sondern nur um eine begriffliche Differenzierung:
„Intelligenz und Geist sind wesensverschieden. Intelligenz ist eine biologische Kategorie, eine Art des Verhaltens, das für Korrekturen durch Erfahrung offen ist. Geist dagegen ist eine transbiologische Größe und ist unter allen Lebewesen dem Menschen vorbehalten. Intelligenz ist umweltbezogen, ihr Wirkungsfeld ist eine bestimmte Umwelt, in deren innere Bezüge und Konstellationen sie Einblick, Einsicht gewährt. Diese Einsicht ins Feld hat keinen logischen, rationalen, abstrakten Charakter, wie ihn die menschliche Einsicht nach Maßgabe ihrer Geistigkeit besitzt. Geist ist weltbezogen und tritt da ins Spiel, wo zwischen Subjekt und Objekt echte Distanz herrscht und ihm die Möglichkeit sachlicher Forderungen aufleuchtet, die über die jeweilige Konstellation der Umwelt hinaus eine objektive Wirklichkeit gewährleisten.“ (Plessner 2001, S.161f.)
Das Wort „Geist“ gehört nicht unbedingt zu meinem Wortschatz. Ich spreche lieber von Selbstbewußtsein. Und da wäre ich dann nicht so sicher, ob Menschenaffen, Elephanten, Delphine, einige Vogelarten wirklich nicht über einen ‚Geist‘ bzw. ein Selbstbewußtsein verfügen. Von einem Wesensunterschied würde ich da nicht sprechen wollen. Aber was die Begriffe „Intelligenz“ und „Selbstbewußtsein“ betrifft, kann man das durchaus. Man muß bei solchen „Wesens‘-Bestimmungen allerdings immer wachsam bleiben, ob man hier bloß zwischen Begriffen unterscheidet oder ob man sie nicht vielleicht mit Realkategorien verwechselt, die die Wirklichkeit selbst zu bestimmen versuchen.

Bei der Unterscheidung zwischen Intelligenz und Selbstbewußtsein denke ich persönlich übrigens eher an die Differenz zwischen Maschine und Mensch als an die zwischen Tier und Mensch.

„Philosophische Anthropologie“ (1957), S.184-189 – Plessner skizziert das Problem einer philosophischen Anthropologie, die sich notwendiger Weise mit dem Wesen des Menschen befaßt, dieses aber nicht auf ein bestimmtes Wesensideal festlegen darf, sondern den Horizont für eine Vielzahl möglicher Erfahrungen in der Gegenwart und in der Vergangenheit offenhalten will. Das gilt vor allem für die „Grenzen, in denen der Bereich der vormenschlichen Entwicklung in den der Frühkultur übergeht und der Paläontologe mit dem Prähistoriker zusammenarbeiten muß“. (Vgl. Plessner 2001, S.187) – Hier gilt es vor allem, die Interpretation frühmenschlicher Artefakte für die „Fragwürdigkeit eines Denkens in Begriffen und Werten unserer Gegenwart für ein Verstehen fremder abgelebter Zeiten“ zu sensibilisieren. (Vgl. Plessner 2001, S.188)

Das Problem mit dem Wesensbegriff führt Plessner auf die „im Begriff des Wesens liegende Zweideutigkeit“ zurück, mal die Minimalbedingungen, mal die Maximalbedingungen des Menschen auf den Begriff bringen zu wollen. (Vgl. Plessner 2001, S.187) Nur die Maximalbedingungen, die sogenannten Monopole, die nur für den Menschen gelten sollen, beinhalten die Gefahr, das Wesen des Menschen ein für allemal festzulegen und dabei doch nur der eurozentrischen Perspektive – spezifischer: die Perspektive des alten weißen Mannes europäischer Herkunft – verhaftet zu bleiben. Die Minimalbedingungen hingegen umfassen lediglich die „Bedingungen der Möglichkeit des Menschseins, ohne auf einen Sinn von Sein oder ein bestimmtes Menschlichkeitsideal notwendig zu verweisen“. (Vgl. Plessner 2001, S.187)

Als eine Minimalbedingung unserer Menschlichkeit könnte man dann die Sprache bezeichnen, was nicht ausschließt, daß auch Tiere über eine Sprache verfügen, die es ihnen ermöglicht, untereinander und sogar mit uns Menschen zu kommunizieren. Bei Tieren wäre dann aber die Sprache kein konstitutives Merkmal ihrer Spezies, wie sie das beim Menschen ist. Maximalbedingungen unserer Menschlichkeit würden hingegen auf die Bestimmung eines vollständigen Komplexes von Merkmalen hinauslaufen, die allein uns Menschen eignen und eine unüberschreitbare Grenze zwischen Mensch und Tier ziehen.

Anders als in dem Aufsatz „Tier und Mensch“ behauptet wird, lassen es Minimalbedingungen also durchaus zu, daß wir sie mit einigen Tierarten teilen.

Plessner zufolge kommt es auf die „Wahl des Blickpunktes und der begrifflichen Mittel“ an, „ob es der Anthropologie gelingt, die Rahmenbestimmung der Menschhaftigkeit so zu exponieren, daß sie den Anforderungen ihrer möglichen Erfahrungen entspricht“. (Vgl. Plessner 2001, S.187)

Ich interpretiere Plessner an dieser Stelle so, daß die „Wahl des Blickpunktes“ auf die Plessnersche Bestimmung des Menschen als einer exzentrischen Positionalität hinausläuft. Gemeint ist eine Positionierung des Menschen und also auch des Anthropologen, dessen Forschungsgegenstand der Mensch ist, gleichermaßen am Rande wie im Zentrum der Welt. Ein solcher Standpunkt bzw. Blickpunkt im Nirgendwo ermöglicht eine umfassende Neutralität gegenüber den vielfältigen Formen des Menschseins.

Gleichwohl beinhaltet schon der Begriff selbst, eben als exzentrische Positionalität, einen ‚Standpunkt‘; aber einen Standpunkt, der die eigene Relativität mitzureflektieren vermag. Erst so haben wir es mit einem ‚Standpunkt‘ im ‚Nirgendwo‘ zu tun, der die eigene Perspektive nicht, vergeblich, zu verdrängen versucht. Eine ethische Orientierung im Rahmen einer philosophischen Anthropologie ist also möglich.

„Die Gesellschaft und das Selbstverständnis des Menschen – Philosophische Ansätze“ (1979), S.210-215 – In diesem Aufsatz finde ich folgende Stelle: „Sie (die Sprache – DZ) ist ein menschliches Produkt, und doch wissen wir, wie schwer es zu beherrschen ist. Sie hat ihre Gesetze, die sie unserem Sprechen aufzwingt, aber selbst ihre Erfüllung garantiert uns nicht, daß wir etwas anderes sagen, als wir sagen wollten. Die Sprache, die für uns dichtet und denkt, denkt und dichtet auch gegen uns in jedem Fall weiter.“ (Plessner 2001, S.213 )

Trotz der problematischen Satzkonstruktion mit dem fehlenden ,nicht‘ ist klar, was Plessner an dieser Stelle sagen will: es ist keineswegs so, daß die Erfüllung der Regeln garantiert, daß wir nicht etwas anderes sagen, als wir sagen wollen. Das entspricht dem, was Plessner in den „Stufen des Organischen“ (1928) über die Expressivität und die Differenz zwischen Sagen und Meinen schreibt. Hier aber weitet er es auf alles menschliche Tun aus, insbesondere auch auf die Technik als Herstellung von Produkten: „Menschlichem Tun ist es eigentümlich, Produkte hervorzubringen, die seiner Verfügungsgewalt entgleiten und sich gegen sie wenden.“ (Plessner 2001, S.213)

Das gilt auch für das gesellschaftliche bzw. politische Handeln des Menschen, das nämlich mit Hilfe der Schaffung von Institutionen, die die sozialen Rechte des Individuums gewährleisten sollen, dieses so sehr für diese Institutionen in Anspruch nimmt, daß es seine Individualität zu verlieren droht und stattdessen zum Funktionsträger wird. Kurz: das Individuum wird gerade dort völlig vergesellschaftet, wo es, wie zum Beispiel in der Erziehung und ihren Einrichtungen, eigentlich bzw. angeblich um dieses Individuum selbst geht.

Es liegt also gewissermaßen in der anthropologischen Struktur, derzufolge Menschen keine Verfügungsgewalt über die Folgen ihres Handelns haben, daß sich der Mensch durch sein eigenes Handeln abschafft. Allerdings läßt Plessner hier unberücksichtigt, daß wir als diese Menschen uns immer auf der Grenze zwischen Meinen und Sagen, zwischen Absicht und Handeln bewegen. Das ist darin begründet, was Plessner als exzentrische Positionalität bezeichnet. Diese Exzentrizität muß also auch auf das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft bezogen werden. Tut man das, bildet die Gesellschaft nicht mehr den totalitären Verhängniszusammenhang, aus dem es kein Entkommen gibt.

Daraus folgt, daß Privatheit und Öffentlichkeit in ein Verhältnis zum individuellen Willen gesetzt werden müssen, wie es Hannah Arendt versucht hatte und die als Lösung für das Dilemma den Begriff der Geburtlichkeit entwickelt hat. Der individuelle Wille ist nicht länger dem Willen Gottes oder dem Willen der Gesellschaft unterworfen. Mit Plessners Worten: erst wenn wir an den Rand der Gesellschaft treten, in deren Mitte wir uns befinden, erlangen wir wieder die Fähigkeit, unsere Bedürfnisse zu klären und zu wägen und dann die Verantwortung für unser Handeln zu übernehmen.

In seiner Rezension zu Adornos „Negative Dialektik“ (S.265-281) bringt Plessner genau diese Exzentrik zum Ausdruck, indem er von dem „Kopfsprung aus dem Bannkreis der Gesellschaft“ spricht, „den ihm (dem Menschen, dem Individuum – DZ) immerhin die Gesellschaft gewährt“. (Vgl. Plessner 2001, S.268) Eine andere Metapher für diesen Kopfsprung, als Sprung über den eigenen Schatten (vgl. ebenda), bietet der Baron, der sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf zieht.

„Lebensphilosophie und Phänomenologie“ (1949), S.231-255 – Auf der Folie der Lebensphilosophie von Wilhelm Dilthey arbeitet Plessner die Defizite des transzendental-idealistischen Ansatzes der Phänomenologie von Edmund Husserl heraus. Dilthey, der ursprünglich in Husserls Phänomenologie einen seinem eigenen Konzept verwandten Ansatz vermutete, wandte sich dann von ihr ab, als er erkannte, daß der Mensch als individuelle Person bei Husserl keine Rolle spielt, sondern nur ein weiteres Mal, in der Nachfolge Kants, ein „abstraktes Erkenntnis- und Willenssubjekt“ bildet. (Plessner 2001, S.240)

Dilthey stellte das Leben ins Zentrum seiner Überlegungen zur Historizität bzw. Geschichtlichkeit des Menschen. Jede Festlegung auf ein überzeitliches Wesen des Menschen lehnte Dilthey ab. Seine Definition des Menschen ordnet diesen in einen natürlichen (biologischen) und historischen Entwicklungsprozeß ein, in dem er sich als individuelle Person formt und findet: „Nicht ein abstraktes Erkenntnis- und Willenssubjekt mit starren Vermögen und unveränderlicher Struktur darf mehr in Ansatz gebracht werden, sondern der ganze und in seiner Natur veränderliche Mensch formt das in sich selbst unabgeschlossene Beziehungsgefüge geschichtlicher Erfahrung, aus deren Fülle er seine Möglichkeiten kennenlernt.“ (Plessner 2001, S.240)

In dieser Zusammenfassung der Diltheyschen Lebensphilosophie erkenne ich meine eigene Konzeption von den drei Entwicklungsprozessen wieder, die als Ganzes einen Menschen ergeben. Von Dilthey her kommt Plessner deshalb zu der Aufgabe einer philosophischen Anthropologie (vgl. Plessner 2001, S.241ff.), die mit Husserls transzendentalem Ansatz nicht vereinbar ist, das Thema „Mensch und Welt“ in den Naturwissenschaften und gegenüber den Denkschulen des 19. und 20. Jahrhunderts lebendig zu halten und kritisch weiterzuentwickeln. Eine entsprechende Aufgabenstellung ergibt sich für die philosophische Anthropologie auch gegenüber aktuellen Tendenzen zu einem Transhumanismus.

Husserl selbst in seiner Verhaftung in der naturwissenschaftlichen Rationalität ist schon von seinen eigenen Schülern, zu denen Plessner Scheler, Heidegger und Hartmann zählt, überwunden worden. Ohne sich selbst zu nennen, ist er einer von ihnen.

„Adornos Negative Dialektik. Ihr Thema mit Variationen“ (1972), S.265-281
– Plessner sympathisiert mit Adornos Anliegen und gibt ihm gegen Husserl Recht. (Vgl. Plessner 2001, S.272) An die Stelle der Husserlschen Phänomenologie, die die Phänomene in ihrem Wesen meditativ erfassen zu können glaubt, setzt Adorno, so Plessner und zwar völlig zu Recht, das dem Denken inkommensurable Nicht-Identische (vgl. Plessner 2001, S.274): „Ihr (der Negativen Dialektik – DZ) geht es bei der Destruktion der Hegelschen Identitätsphilosophie um die Einsicht der Unauflösbarkeit des Gedachten in das es gleichfalls einbegreifende Denken, um die Rettung nicht so sehr der Phänomene, als des Besonderen und Anderen aus Besonderheit und Andersheit.“ (Plessner 2001, S.275)

Dazu bedarf es einer besonderen Phänomenologie, die Adorno als „Mikrologie“ bezeichnet, die das Einzelne als Vereinzeltes in den Blick nimmt und die er als eine letzte Form der Metaphysik bezeichnet, weil sie dieses Vereinzelte nicht mehr in ein subsumierendes Allgemeines hinein aufhebt, sondern es umkreisend in Form von begrifflichen Konstellationen, also in obliquer Intention, in den Blick zu nehmen versucht: „Nicht durch Klassifikation nach genus proximum und differentia spezifica (was auf Subsumtion hinausliefe, eine Unmöglichkeit in dieser Kernfrage), sondern im Blick auf die Konstellation, in welcher der Begriff seinen Platz findet.“ (Plessner 2001, S.276)

So wird die Konstellation, zu der die vereinzelten Elemente in ihrer „Einzigkeit und Unwiederholbarkeit“ zusammenfinden, zu einer lesbaren „Schrift“. (Vgl. Plessner 2001, S.280)

Konstellationen und Konfigurationen bilden also Strukturen einer Schrift und ermöglichen eine Hermeneutik, im Sinne einer phänomenalen Strukturanalyse von Texten. Diesem Projekt einer Negativen Dialektik zollt Plessner seine ausdrückliche Anerkennung.

„Zum Verständnis der ästhetischen Theorie Adornos“ (1976), S.286-296
– An dieser Thematik bin ich schon immer gescheitert. Schon früher beim Lesen der Adornoschen Texte als auch jetzt wieder bei Plessners Kommentar. Es ist nicht allein die Begrifflichkeit, die sich mir nicht erschließt. Es ist vor allem die Genußfeindlichkeit, da Adorno niemandem ungebrochenen Genuß, aus übrigens durchaus nachvollziehbaren Gründen, gönnen will. Adornos Genußfeindlichkeit ähnelt der christlichen Willensfeindlichkeit. Wir dürfen nicht (ästhetisch) genießen, und wir dürfen nicht (lustvoll) wollen. Das hat Adorno mit Paulus gemeinsam.

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