„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Freitag, 16. Dezember 2022

Verstand und Bauchgefühle

Im DLF hörte ich eine Sendung zu einer wissenschaftlichen Studie, in der es um die Persönlichkeitsmerkmale von Menschen geht, die für Fake News empfänglich sind. Dazu gehören Narzißmus und der Wunsch, die eigene Meinung bestätigt zu sehen. Auch der Hinweis auf das Vorliegen einer Psychopathologie fehlte nicht. Vor Bauchgefühlen wurde gewarnt.

Es bringe nichts, hieß es, diese Menschen immer wieder mit den Fakten zu konfrontieren. Man müsse vielmehr versuchen, sie auf einer Metaebene anzusprechen. Es gehe darum, sie auf die Methoden aufmerksam zu machen, wie ihr Urteilsvermögen manipuliert werde.

Das erinnert mich daran, wie mein Vater mir mal nach der Teilnahme an einer Weiterbildungsmaßnahme ganz begeistert davon erzählte, wie dort gezeigt wurde, wie Menschen manipuliert werden. Er glaubte wohl auch, jetzt über einen Instrumentenkasten zu verfügen, der ihn gegen solche Manipulationen schützte. Aber nichts hatte sich geändert. Seine Bereitschaft, alles, was gedruckt zu lesen war und im Fernsehen verlautbart wurde, zu glauben, blieb ungebrochen. Er machte sich weiterhin unmittelbar alles zu eigen, was ihm vermeintliche Autoritäten suggerierten. Das war wohl auch der Grund, warum die Weiterbildungsmaßnahme ihn so beeindruckt hatte.

Wir sollten uns vor allem über eines klar sein: wir alle, nicht nur diejenigen mit bestimmten Persönlichkeitsmerkmalen, neigen dazu, das für wahr zu halten, was uns in unserer Meinung bestätigt. Wissenschaftler kennen das aus ihrer eigenen Forschung, denn auch sie müssen sich immer wieder disziplinieren, um nicht auf ihre Erwartungen hereinzufallen. Sie nennen das ‚kognitiver Bias‘.

Das einzige was uns in unserem Alltag helfen kann, ist, trotzdem der eigenen Urteilskraft zu vertrauen. Wir sollten uns von niemand davon abhalten lassen, ihr das letzte Wort zu überlassen. Das ist nicht bloß eine Frage des mangelnden Wissens. Es ist vor allem eine Frage, des eigenen Wissens. Mit dem Expertenwissen kann ich nicht mithalten. Muß ich ihnen deshalb auch glauben? Dieser oder jene ist besonders eloquent, und ich bin ihr nicht gewachsen. Bin ich deshalb im Unrecht?

Oft genug bedeutet das Festhalten an der eigenen Urteilskraft, auch mal ein Urteil in der Schwebe zu lassen, anstatt sich einem vorschnellen Konsens zu unterwerfen. Es macht nichts, dabei dem Bauchgefühl zu folgen. Sicher kann es sich irren. Das passiert oft genug. Aber nicht selten bereuen wir es, wenn wir seine warnende Stimme mißachten. An der eigenen Urteilskraft festzuhalten, bedeutet, die eigenen Grenzen zu kennen; nicht alles wissen zu können; sich auch mal irritieren zu lassen und das auszuhalten.

Was die Bauchgefühle betrifft, ist es hilfreich, auf ihre Qualität zu achten. Die positiven Gefühle sind laut, berauschend, und oft die, die man uns suggeriert hat. Die Bauchgefühle, die aus uns selbst heraufsteigen, sind eher leise, kaum wahrnehmbar und meist negativ. Das sind die warnenden Stimmen. Und die treffen meistens zu.

Wir brauchen beides: einen hellwachen Verstand und das dunkle Bauchgefühl. Wir müssen uns darin üben, an dem einen festzuhalten und auf das andere zu hören. Dazu gehört eine große Portion Achtsamkeit. Das ist kein Problem von Persönlichkeitsmerkmalen. Nur eins der Übung.

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