2. Weltbestimmungen
3. Sensualismus
4. Referenz
5. ,Mein‛ Du
6. Zwiegespräch und Gewissen
7. Erwiederung statt Erwiderung
8. primäre Willensverhältnisse
9. die eigentliche Kehre
Karl Löwith, „Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen“ (1928)
In: „Mensch und Menschenwelt“ (1981, S.9-197)
ders., „Welt und Menschenwelt“ (1960)
In: „Mensch und Menschenwelt“ (1981, S.295-328)
In Aleida und Jan Assmanns Buch „Gemeinsinn. Der sechste, soziale Sinn“ (2024) wird u.a. auch Karl Löwiths Habilitationsschrift „Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen“ (1928) diskutiert. Ich hatte vergessen, daß ich dieses Buch selbst schon einmal gelesen hatte, und als ich es jetzt aus meinem Bücherregal herausholte, um einen Blick reinzuwerfen, stieß ich auf zahlreiche Unterstreichungen und Randbemerkungen, die belegen, daß meiner jetzigen Lektüre schon eine mehr als dreißig Jahre zurückliegende Lektüre vorausgegangen war. Bei der erneuten Lektüre wurde mir klar, daß viele meiner Gedanken zur freien und gleichen Wechselbeziehung zwischen Ich und Du aus dieser ersten Lektüre hervorgegangen sind, die in mir unterschwellig weitergewirkt hat, auch wenn ich keine bewußte Erinnerung mehr daran hatte.
Bei meiner erneuten Lektüre wurde mir allerdings auch klar, daß mein heutiges Konzept von Ich = Du nicht mehr mit Löwiths Ansatz vereinbar ist. Das hat unter anderem, aber nicht nur mit zahlreichen inhaltlichen Unstimmigkeiten und sogar recht auffälligen Widersprüchen in Löwiths Habilitationsschrift zu tun. Löwith selbst war mit seiner Schrift unzufrieden, wie er im Vorwort zu ihrer Neuauflage ausdrücklich festhält. Seine Unzufriedenheit richtete sich auf die Verhältnisbestimmung zwischen nichtmenschlicher Welt und Menschenwelt, auf die ich noch in den folgenden Blogposts eingehen werde.
Andere inhaltliche Unstimmigkeiten und Widersprüche betreffen den Titel der Habilitationsschrift, also das Individuum in der Rolle des Mitmenschen, der bei den Lesern Erwartungen hervorruft, die von der Schrift nicht eingelöst werden. Daran ändern auch die letzten zwölf Seiten nichts, auf denen Löwith ganz zum Schluß die Titelansage einzuholen versucht. Diese Schlußbemerkungen wirken wie nachträglich angehängt und werden vom Haupttext nicht getragen. Das Theaterstück von Luigi Pirandello, dem Löwith ganze 18 Seiten seiner Schrift widmet, steht in einem krassen Gegensatz zu allem, was Löwith zuvor mit Wilhelm Dilthey erarbeitet hat, ohne daß Löwith auch nur mit einem Wort darauf eingeht. Unstimmig sind auch Löwiths Bestimmung des Unterschieds zwischen dem verabsolutierten Ich und der absoluten Zweierbeziehung und seine negative Einstellung zum Zwiegespräch. Auf alles das werde ich in meinen Blogposts zu sprechen kommen.
Für jetzt will ich mich mit dem Hauptproblem der Habilitationsschrift befassen, der Frage nämlich, wieso Löwith sich darauf festlegt, daß Du für sich selbst kein Ich sein soll, obwohl weder logisch noch sachlich irgendwas dagegen spricht, dann aber in den letzten zwei Kapiteln eine ,Kehre‛ vollzieht ‒ ich leihe mir das Wort von Heidegger, bei dem Löwith seine Habilitationsschrift eingereicht hatte ‒ und plötzlich das Gegenteil behauptet.
Du ≠ Ich ?
Zum Schluß des ersten Kapitels seiner Habilitationsschrift bezeichnet Löwith Feuerbachs Verhältnisbestimmung von Subjekten und Objekten als Ich und Du als Grundlage für alle seine folgenden Überlegungen zum ,Du‛. (Vgl. Löwith 1928/81, S.28) In keiner seiner folgenden Überlegungen billigt Löwith diesem ‚Du‛ den Status eines ‚Ich für sich‛ zu. Das Ich für sich ist ihm im Gegenteil als Individuum suspekt, weil es, so Löwith immer wieder, keine Wechselseitigkeit zwischen zwei ‚Personen‛ zulasse. In diesem Sinne setzt er auch durchweg Individualität und Personhaftigkeit als einander ausschließende Gegensätze. (Vgl. Löwith 1928/81, S.100ff.)Zu Beginn des dritten Kapitels scheint Löwith plötzlich und unvermittelt die erwähnte ‚Kehre‛ zu vollziehen. Plötzlich und argumentativ unvermittelt behauptet Löwith, daß auch Du ein Ich sei. (Vgl. Löwith 1928/81, S.143) Alles, was er bisher geschrieben habe, sei bloß einer „Überschärfung“ der Feuerbachschen Position geschuldet, an der er sich abgearbeitet habe: „So sehr es in den voranstehenden Analysen darauf ankam zu zeigen, daß und wie einer zumeist an ihm selbst durch andere bestimmt, aber kein für sich seiendes () ,Individuum‛ ist, muß die dabei vollzogene Überschärfung der Interpretation nunmehr zurückgenommen werden, und zwar so, daß die Selbständigkeit des einen für den andern im Verhältnis selbst als einem gerade nicht verabsolutierten, sondern absoluten Verhältnis von ,Ich selbst‛ und ,Du selbst‛ zum Ausdruck kommt.“ (Löwith 1928/81, Selbstzitat des Autors einer Textstelle von S.118; hier: S.143f.; Hervorhebungen KL)
Die wenig eingängige, allzu subtile Differenzierung zwischen Verabsolutierung und Absolutem meint die „schlechthinnige Selbständigkeit“ des Individuums und die „gegenseitige Selbständigkeit“ von Ich und Du. (Vgl. Löwith 1928/81; S.144) Wichtig ist hier aber der Verweis auf das „Verhältnis von ,Ich selbst‛ und ,Du selbst‛“ (Hervorhebung DZ und KL) Ich selbst und Du selbst sind eben nicht jeweils Ich für sich, sondern vom Verhältnis her Ich und Du, als die sie aufeinander bezogen sind. Es gibt weder ein Ich noch ein Du außerhalb dieses Verhältnisses. Das ist eben das Kennzeichen der Menschenwelt: wir sind immer schon Teil einer Menschenwelt (Dilthey) und stehen nach Löwiths Ansicht schon deshalb niemals außerhalb dieses Verhältnisses von Ich und Du. Etwas anderes zu behaupten liefe seiner Ansicht nach auf eine Verabsolutierung des Ich hinaus.
Bislang waren im Rahmen dieses Verhältnisses die Rollen festgelegt gewesen: Ich ist vom Du her Ich, aber Du ist keineswegs Ich, sondern eben Du. Von jetzt an soll aber gelten, „daß Du als zweite Person dich zugleich in erster Person (also als Ich ‒ DZ) zur Geltung bringst, wie auch andererseits Ich ‒ die erste Person ‒ zugleich als der Deine ‒ in zweiter Person ‒ bestimmt bin ().“ (Löwith 1928/81, S.144; Hervorhebungen KL)
Das wäre dann tatsächlich eine Kehrtwende. Aber wenn wir an die Verhältnis-Bestimmung von Ich und Du denken ‒ außerhalb dieses Verhältnisses sind sie bloß beziehungslose Individuen ‒, führt diese Kehrtwende nicht zu wirklich anderen Ergebnissen im Vergleich zum Vorherigen. Löwith hält auch in den letzten beiden Kapiteln an der Rollenverteilung von Ich und Du fest. So heißt es einige Seiten später wieder, daß Du eben doch kein Ich ist: „Die freiwillige Anerkennung der Selbständigkeit des andern führt also nicht zu der grundsätzlich widersinnigen Interpretation des andern als eines andern ‚Ich‛, ‚Fremdich‛ oder auch ‚Selbst‛, sondern zur Erkenntnis des andern als eines selbständigen ‚Du‛.“ (Löwith 1928/81, S.154; Hervorhebung DZ)
Was soll das heißen, daß Du kein Ich ist, sondern ein selbständiges Du? Wäre es nicht erst als Ich ein selbständiges Moment der Zweierbeziehung? Löwith widerspricht sich hier nicht nur ein weiteres Mal selbst, er behauptet auch ein logisches Paradox. Zu einem selbständigen Du gehört logischerweise auch, daß es ein Ich sei, ein Selbst, denn sonst wäre es nicht einmal ein Du, geschweige denn selbständig.
Die Frage nach dem Ursprung
Löwith unterscheidet zwischen der Verabsolutierung des Individuums als Ich und dem Absoluten der Person als von einem Du her, das selbst nicht Ich ist, bestimmtes Ich. (Vgl. Löwith 1928/81, S.135ff.) Er setzt dieses ‚Verhältnis‛ zwischen Personen, die füreinander Ich und Du sind, als den Ursprung unserer Menschlichkeit. Innerhalb dieses Verhältnisses ist die Beziehung zwischen Ich und Du etwas Absolutes. Außerhalb dieses Verhältnisses ist die Beziehung des Ich auf sich selbst, also als Individuum, bloß verabsolutiert.Nach der ,Kehre‛ soll jetzt aber gelten, daß die Einzigartigkeit des Ich auf sich selbst, also als Individualität, auch eine Voraussetzung für das Verhältnis von Ich und Du bildet. Auf den letzten Seiten will Löwith also die im Titel seiner Habilitationsschrift, „Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen“, geweckten Erwartungen, zu denen gewiß nicht der von Löwith immer wieder behauptete Widerspruch zwischen Individuum und Person gehört, einlösen:
„Zu eigentlich persönlichen Verhältnissen kommt es zumeist überhaupt nur auf Grund einer vorausgesetzten Gemeinsamkeit im Individuellen ‒ sei es, daß der eine dem andern aus Ähnlichkeit oder auch aus Verschiedenheit zuneigt. Ebenso also, wie das Verhältnis als solches Gemeinsamkeit konstituiert, indem es den einen und andern im Sinne ihres Verhältnisses gleichsinnig-zweideutig bestimmt, bestimmt sich auch umgekehrt das gemeinsame Verhältnis beiderseits aus individueller Gemeinsamkeit. Rein für sich selbst genommen vermag kein Verhältnis als solches zu bewirken, daß der eine und der andere zueinander stimmen, mag das Verhältnis als solches den einen und andern noch so sehr wechselseitig ein-stimmen und aufeinander abstimmen.“ (Löwith 1928/81, S.187)Nur Individuen können sich also aufgrund unterschiedlicher oder gleichartiger Eigenschaften füreinander interessieren. Ohne diese sinnliche Grundlage würden sie gar nicht erst zueinander ins Verhältnis treten. Erstmals, aber erst ganz am Schluß seiner Schrift, bestimmt Löwith das Individuum in seiner Einzigkeit nicht nur „privativ“, also negativ, sondern auch positiv.
Dennoch beharrt Löwith eigensinnigerweise darauf, das Ich außerhalb des personalen Verhältnisses zu einem Du, als für sich „schlechthin unvergleichliches, einzigartiges Verhältnis“, privativ zu bestimmen: „Das Ungewöhnliche solcher einzigartigen Bedeutung äußert sich formal darin, daß sie zunächst nur privativ zum Ausdruck kommt, in der privativen Bedeutung des Begriffs von einer un-vergleichlichen Individualität, aber auch in dem scheinbar positiven Begriff des ,einzig und allein‛-Seins. Diese Ausdrücke deuten die Selbständigkeit defizient aus dem ursprünglichen Zusammenhang des einen mit dem andern aus.“ (Löwith 1928/81, S.188; Hervorhebung KL und DZ)
Daß diese privative (negative) Deutung von Individualität nicht zwangsläufig sein muß, zeigt Plessners Begriff des Körperleibs. Im Körperleib kommt das Individuum durch und durch positiv zur Darstellung. Löwith übersieht, daß die behauptete Einzigkeit des Ich sagenden Individuums zugleich die Möglichkeit beinhaltet, daß jedes Ich-Sagen, von welchem Individuum auch immer, diese Einzigkeit für sich in Anspruch nimmt. Denn das ist die mit dem Ich-Sagen einhergehende Gemeinsamkeit aller Menschen, die Ich sagen. Indem sie sich als Ich behaupten, werden sie füreinander zum Du; und zwar mit all ihrer Individualität. Man kann das innere Verhältnis Zweier nicht vom inneren Verhältnis des Einen für sich selbst trennen und mal anerkennend vom Absoluten, mal abschätzig vom Verabsolutierten sprechen.
Die Frage, was ursprünglicher ist, das Individuum oder die Gemeinschaft (vgl. Löwith 1928/81, S.188f.), ist falsch gestellt. Keins von beidem ist ursprünglich, auch nicht dialektisch gleichursprünglich, wie es Löwith suggeriert, insofern „sich kein Individuum für sich setzen könne, wenn es sich nicht andern entgegensetzte“ (vgl. Löwith 1928/81, S.189; Hervorhebungen KL).
Vielmehr haben wir es innerhalb der drei Entwicklungsdimensionen, die zusammen einen Menschen ausmachen, mit unterschiedlichen Zeitebenen mit je eigener Ursprünglichkeit zu tun. Die Entwicklung des Individuums beginnt auf ihrer eigenen Zeitebene, die mit einem Teil der kulturgeschichtlichen (gesellschaftlichen) Zeitebene zwar parallel, aber auch asynchron zu ihr verläuft. Die individuelle Entwicklung verläuft für sich, wenn auch nicht unabhängig von den anderen beiden Entwicklungsebenen der Kulturgeschichte und der Naturgeschichte.
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