„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Dienstag, 18. März 2025

Karl Löwith: „Nur ,Du‛ kannst der ,Meine‛ sein ...“

1. ,Kehre‛
2. Weltbestimmungen
3. Sensualismus
4. Referenz
5. ,Mein‛ Du
6. Zwiegespräch und Gewissen
7. Erwiederung statt Erwiderung
8. primäre Willensverhältnisse
9. die eigentliche Kehre

Karl Löwith, „Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen“ (1928)
In: „Mensch und Menschenwelt“ (1981, S.9-197)
ders., „Welt und Menschenwelt“ (1960)
In: „Mensch und Menschenwelt“ (1981, S.295-328)

Löwith bezeichnet Feuerbach als Sensualisten. (Vgl. Löwith 1928/81, S.22ff.) Der Sensualismus ist eine philosophische Denkrichtung, die auf der Grundlage der menschlichen Sinne arbeitet. Jean-Jacques Rousseau, auf dessen „Émile“ (1760) ich mich im vorangegangenen Blogpost bezog, ist so ein Sensualist. Auch John Locke, von dem der bekannte Spruch stammt, daß nichts im menschlichen Verstand sei, was nicht zuvor in unseren Sinnen gewesen sei. Letztlich steht der Sensualismus dem nahe, was Helmuth Plessner unter dem „Körperleib“ versteht.

In folgendem Zitat bringt Löwith Feuerbachs Sensualismus auf den Punkt:
„In der Liebe und in den alltäglichen Empfindungen liegt der wahre ontologische Beweis für die Realität dessen, was außer uns ist. Nur der außer sich seienden Leidenschaft erschließt sich das Geheimnis des ‚Seins‛, weil es nur ihr darauf ankommt, daß etwas ist und nicht ist () ... () Die Erkenntnis der sinnlichen Grundlage des gegenständlichen und objektiven Denkens führt Feuerbach auf die Sinnlichkeit des denkenden Ich, die ihrem eigensten Sinne nach wiederum nach außen, auf ein entsprechendes Du verweist.“ (Löwith 1928/81, S.24f.; Hervorhebungen KL)
Mit der „außer sich seienden Leidenschaft“ kann eigentlich nur der auf sein Objekt gerichtete Wille gemeint sein. Dem ,Denken‛ bzw. Bewußtsein ist dieses Objekt insofern ein ,Du‛, als es sich nur in einem ihm entsprechenden ebenfalls denkenden bzw. bewußtseinsbegabten Du erfüllt. Nur sinnliches Denken hat Zugang zu äußeren Objekten und nur äußere Objekte sind selbständig (gegen-ständlich) seiend. ,Außer uns‛ und ‚uns entsprechend‛ bilden also zwei Modi der Realität.

Feuerbach überführt also, ausgehend von der Gesamtheit aller möglichen Objekte, die auch die nichtmenschliche Welt miteinbezieht, den Objektbegriff auch in den Sonderbereich der menschlichen Welt, indem er ihn auch auf unsere Mitmenschen bezieht. Dieser umfassende Objektbegriff entspricht dem Plessnerschen Körperleib insofern, als auch dieser Begriff beides vereint, Subjekt und Objekt, menschliche und nichtmenschliche Welt.

Löwith beschreibt eine weitere Gemeinsamkeit zwischen Feuerbachs „Sinnlichkeit“ (vgl. Löwith1928/81, S.79ff.) und Hegels spekulativer Dialektik: beide setzen eine objektive Beziehung an den Anfang ihrer Gedankenentwicklung. Aber der Unterschied liegt im methodischen Ansatz: empirisch (sinnlich) bei Feuerbach und logisch (unsinnlich) bei Hegel. Subjekt und Objekt sind bei Feuerbach von Anfang an im Menschen als sinnlich denkendes Ich vereint, während Hegel sich vom Objekt wegbewegt und erst über eine umwegige Dialektik von Negationen die objektiv-subjektive Einheit des absoluten Geistes erreicht.

Ob Feuerbach (1804-1872) mit seiner Subjekt/-Objekt-Einheit an Wilhelm von Humboldt (1767-1835) anschließt, ist schwer zu sagen, da Humboldts Schriften erst lange nach seinem Tod nach und nach veröffentlicht wurden. Aber die Grundlage für einen Begriff der Zweiheit, in dem das Ich (Subjekt) erst am Du (Objekt) zum Ich wird, wie sie Löwith in folgendem Zitat beschreibt, findet sich ganz ähnlich auch bei Humboldt: „Das Doppelprinzip der existenziellen Veräußerlichung ist ... bei Feuerbach ein methodisch zu verstehender ,Sensualismus‛ (,Sinnfälligkeit des Denkens‛) und ,Altruismus‛ (Du-Bezogenheit des Denkens).“ (Vgl. Löwith 1928/81, S.22f.)

Für mich ist diese Kombination von sinnlichem und objektbezogenem Denken im hohen Maße erhellend, ein Augenöffner, insofern ich hier eine mögliche Erweiterung des Körperleib-Begriffs sehe, die mir bei Plessner bislang so nicht einsichtig geworden ist. Denn der Körperleib bleibt bei Plessner in gewisser Weise solipsistisch oder, vorsichtiger formuliert: monologisch, da von hier kein direkter Weg zum anderen Menschen als Du führt und man letztlich gezwungen ist, sich Umwege zu konstruieren, über die wir vom Ich zum Du kommen. Insofern Feuerbach nicht nur beim sinnlichen Objekt ansetzt, sondern es schon in seiner Sinnenhaftigkeit auch das menschliche Du mit umfassen läßt, können wir auf diesem Weg auch vom Körperleib her ineins mit den Objekten, auf die hin er sich orientiert und von denen her er sich abgrenzt, auf das Desiderat eines Du hin denken, das für sich selbst ein Ich ist und an dem wir zum Ich werden.

Zwar zieht Feuerbach die Grenze nicht zwischen Körper und Leib, sondern zwischen Subjekt (als Ich) und Objekt (als Du), aber der Rückgang auf die menschliche Sinnlichkeit, als sinnliches Denken bei Feuerbach und als Körperleib bei Plessner, ist derselbe.

Allerdings verführt die Dualität der Ich/Du-Beziehung Löwith zu einem Gedankenfehler. Er verlagert die sinnliche Wahrnehmungsgewißheit (empirische Objektivität), die übrigens nichts mit der ,Empirie‛ der heutigen Naturwissenschaften zu tun hat, auf die Bestätigung durch den anderen Menschen. Erst wenn mir andere Menschen zustimmen, kann ich mir meiner Gewißheit gewiß sein: „Wir werden nur durch einen andern, wenn auch nicht durch einen x-beliebigen, unserer eigenen Sache gewiß.“ (Löwith 1928/81, S.27f.)

Ich weiß nicht, ob Löwiths Behauptung durch Feuerbachs Denkansatz gedeckt ist. Es gibt aber eine subjektive Gewißheit, die gleichen Ranges ist wie die intersubjektive Gewißheit von Zweien oder einer Mehrzahl von Menschen. Und diese subjektive Gewißheit ist gerade von der nichtmenschlichen Welt her gerechtfertigt. Denn da auch intersubjektive Gewißheiten durch die nichtmenschliche Welt begrenzt sind, bleiben sie zweifelhaft und beruhen oft nur auf Suggestionen, so daß es im Zweifel oft geraten, an der subjektiven Gewißheit festzuhalten.

Man denke nur an den Klimawandel und wird sofort verstehen, worauf ich hinauswill. Wer nicht mit eigenen Augen sehen will, wie sich die planetaren Lebensbedingungen zunehmend in eine menschenfeindliche Umwelt verwandeln, wird seiner eigenen Blase mehr vertrauen, als dem wissenschaftlichen Konsens. Umgekehrt aber werden Menschen, die mit offenen Augen durch die Welt gehen, an ihren Wahrnehmungen festhalten, auch wenn der Mainstream das Gegenteil glaubt.

Es gibt zwar nicht immer eine dritte Person in den sozialen Beziehungen, so daß wir zwischen Beziehungen in Gruppen und Beziehungen zwischen Zweien unterscheiden können. Aber es gibt immer eine Referenz in den menschlichen Beziehungen, die aus einer einfachen, linearen Wechselbeziehung ein Dreieck macht. Gemeint ist die Sache, auf die sich interagierende Menschen gemeinsam beziehen. Um dieser Referenz willen müssen wir uns davor hüten, auf bloße Intersubjektivität zu setzen. Um ihretwillen haben wir ein individuelles Gewissen. Im nächsten Blogpost werde ich auf diese Differenz in der Referenz zwischen einem gegenständlichen Dritten und einem sozialen Dritten näher eingehen.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen