„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Sonntag, 23. März 2025

Karl Löwith: „Nur ,Du‛ kannst der ,Meine‛ sein ...“

1. ,Kehre‛
2. Weltbestimmungen
3. Sensualismus
4. Referenz
5. ,Mein‛ Du
6. Zwiegespräch und Gewissen
7. Erwiederung statt Erwiderung
8. primäre Willensverhältnisse
9. die eigentliche Kehre

Karl Löwith, „Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen“ (1928)
In: „Mensch und Menschenwelt“ (1981, S.9-197)
ders., „Welt und Menschenwelt“ (1960)
In: „Mensch und Menschenwelt“ (1981, S.295-328)

Löwith weist mehrfach in seiner Habilitationsschrift darauf hin, daß es keinen Widerstand von leblosen Dingen oder von Naturdingen gegen den Willen des Menschen geben kann; anders als Plessner, der den als Brechung eines auf die Welt schlechthin, also auch auf die nichtmenschliche Welt gerichteten Willens beschreibt. (Vgl. Löwith 1928/81, S.59f., 81, 119f.) Plessner spricht in diesem Zusammenhang von einem Hiatus, von einer Kluft, die sich durch die Brechung des Intentionsstrahls zwischen Mensch und Welt öffnet.

Wenn bei Löwith von so einem Hiatuserlebnis die Rede sein kann, dann nur in Bezug auf unsere Mitmenschen: „Zunächst kommt des andern Selbständigkeit nur ‚wider-willig‛, d.h. fremder Eigenwille wider den eigenen Willen zum Ausdruck. Als Kind beansprucht einer etwas von seinen Eltern, als Untergebener von seinen Vorgesetzten, als Mann von seiner Frau und umgekehrt. Ausdrücklich bewußt wird in diesen primären Willensverhältnissen die Selbständigkeit des einen und andern erst dann, wenn dem eigenen Anspruch nur un-vollkommen entsprochen oder ausdrücklich wider-sprochen wird. Die darin erfahrene Selbständigkeit ist somit privativ, in Rücksicht auf den eigenen unerfüllten Anspruch bestimmt. Sie zeigt sich nicht so sehr als eine ursprünglich freie Selbständigkeit des andern denn als unfreiwillige Abhängigkeit meiner selbst vom andern.“ (Löwith 1928/81, S.152)

,Privativ‛ meint also, da wird jemand der Erfüllung seines Anspruchs ,beraubt‛, was einem Hiatuserlebnis gleichkommt. Dieser am Mitmenschen erfahrene Hiatus führt also wie bei Plessner zur Reflexion des eigenen Bewußtseins als Selbstbewußtsein (außer natürlich bei Donald Trump): „Durch den Widerstand des andern gegen mich auf mich selbst zurückgebracht (), kann ich dazu gebracht werden, auf die darin zum Ausdruck gekommene Selbständigkeit des andern nun freiwillig Rück-sicht zu nehmen und damit zugleich selbst eine freie Selbständigkeit zu gewinnen; denn solange ich mich seiner Selbständigkeit widersetze und sie mir nicht frei begegnen kann, bin ich selbst, wider Willen, aber eigentlich gerade zufolge meines anspruchsvollen Gegenwillens, von ihm abhängig.“ (Löwith 1928/81, S.153)

Anders als bei leblosen oder natürlichen Weltobjekten (Gegenständen) führt mich Löwith zufolge der Gegenwille meiner Mitmenschen nicht nur zum Bewußtsein meiner selbst, sondern auch zur Erkenntnis meiner mit einem eigenen Willen ausgestatteten Mitmenschen. Das macht auch die Problematik einer theologischen Deutung des Du deutlich. In der Theologie geht es, wie Löwith schreibt, nur darum, „daß es dem eigenen Willen nach nicht auf den eigenen Willen ankommt“. (Vgl. Löwith 1928/81, S.151) Wo es aber auf den eigenen Willen nicht ankommt, können sich Ich und Du nicht als frei wollende Subjekte begegnen. Sie können sich nicht als einander „ebenbürtige“ Selbstzwecke anerkennen. (Vgl. Löwith 1928/81, S.153) Der Gottesbezug ermöglicht also, anders als Martin Buber meinte, nicht die freie Wechselbeziehung zwischen Ich und Du, sondern verhindert sie.

Diese Kritik an der Theologie, die Löwith im Rahmen seiner Diskussion von Kants Moralphilosophie äußert, ähnelt meiner Kritik am Monotheismus hinsichtlich seiner Geringschätzung des menschlichen Willens. Deshalb muß ich jetzt doch auch mal Kants Moralphilosophie kritischer lesen als bisher. Bislang hatte ich Kant immer als Befreier des Menschen aus religiösen Abhängigkeiten gelesen. Alles soll Kant zufolge auf den Willen des Menschen ankommen, wobei ich über die Einschränkung hinwegsah, daß es ihm dabei vor allem um den guten Willen ging. Ich verstand diesen guten Willen angesichts des menschlichen Hangs zum radikal Bösen als eine notwendige Einschränkung.

Dennoch muß ich zugeben, daß Kant den guten Willen mit der Bereitschaft gleichsetzt, sich dem moralischen Gesetz unterzuordnen; einer Pflicht, die sich besonders gegen jede auch noch so gutartige eigene Willensregung richtet und der wir Kant zufolge nur dann genügen, wenn wir gegen unseren Willen, sprich: gegen unsere Neigungen handeln. Diese Einstellung unterscheidet sich nicht von dem jüdisch-christlichen Hauptgebot der Gottesverehrung, das dem Menschen genau dieselbe Haltung Gott gegenüber abverlangt. Ob es sich also um das moralische Gesetz oder um Gottes Willen handelt: beides läuft auf völlige Unterwerfung hinaus.

Löwith bringt diese ,Zweideutigkeit‛ der Kantischen Moralphilosophie auf den Punkt, wenn er von der „Definition der Pflicht als eines Selbstzwangs“ spricht. Das „natürlich-sinnliche Geneigtsein“ wird von Kant als etwas „Fremdes (Heteronomes)“ denunziert. (Vgl. Löwith 1928/81, S.157; Hervorhebungen KL) Mit anderen Worten: „(D)ie Natur des Menschen“, eben sein Wille, wird „gegen deren Natur“ bestimmt, also gegen sich selbst gerichtet. (Vgl. ebenda) Das, so Löwith, sei die „Wurzel aller wesentlichen Differenzen des Menschen mit sich selbst und mit andern“. (Vgl. ebenda) ‒ Und Löwith hat Recht!

Kant ist also meiner Ansicht nach entgegenzuhalten, daß die moralische Pflicht immer dort gilt, wo wir mit unseren Neigungen anderen Menschen schaden. Wo wir aber unserer Neigung gemäß andere Menschen respektieren und ihnen in Bedrängnis helfen, so tut das unserer Würde keinerlei Abbruch.

Deshalb ist es zwar richtig, daß der Mensch ein Selbstzweck ist, was seinen höchsten Wert, seine Würde ausmacht. Es ist aber nicht richtig, daß es unsere eigentliche Bestimmung sei, uns selbst Zwecke zu setzen. Die Fähigkeit, Zwecke zu setzen, bildet eine Potenz unseres Intellekts, also unseres Verstandes. Das gilt auch für im engeren Sinne moralische Vernunftszwecke. Wenn diese Zwecke aber nun nicht unserem Willen entsprechen, was für unseren Verstand durchaus rational sein kann, dann handeln wir, trotz aller rationalen Verstandesgründe, gegen unseren Willen, was letztlich darauf hinausläuft, den Willen gegen sich selbst zu richten.

Auch das gilt für im engeren Sinne moralische Vernunftszwecke, denn auch diese widersprechen unserem Willen, wenn wir gegen sie handeln. Nur daß diese Wille dann eben nicht ,gut‛ ist. Unsere Neigungen sind keineswegs aus einem Stück, sondern vielfältig und uneins. Aber es ist eben nicht die Aufgabe des Verstandes, Zwecke zu setzen, die unserem Willen widersprechen, sondern es ist seine Aufgabe, allererst Zwecke zu finden, die unserem Willen entsprechen, und sie uns dann erst zu setzen. Das meinte Jacotot, als er den Menschen als einen Willen definierte, dem eine Intelligenz dient.

Solchen rationalen Zwecksetzungen geht aber noch ein Schritt voraus. Allererst müssen wir herausfinden, was wir überhaupt wollen!

Dazu habe ich mich in diesem Blog schon an anderer Stelle geäußert. Eine unverzichtbare Voraussetzung für unserem Willen entsprechende Zwecksetzungen ist Selbsterkenntnis; also die von Löwith so vehement abgelehnte Selbstbefragung und Selbstkritik. (Vgl. Löwith 1928/81, S.130) Denn unser Wille ist auf so vielfältige Weise gebrochen, und er ist in so vielfältige Willensregungen zersplittert, daß wir unseren eigenen Willen meist gar nicht kennen. Auch hier ist es wieder Aufgabe des Verstandes, herauszufinden, wer wir sind und was wir wollen.

An dieser Stelle wird auch nochmal deutlich, inwiefern wir es bei Plessners Bestimmung des Menschen als „Körperleib“ mit einem Fortschritt gegenüber der Kantischen Moralphilosophie zu tun haben. Denn auch Kant bestimmt den Menschen als ein „Doppelwesen“, leitet daraus aber eine Dialektik in Richtung auf die Vernunft als letzter Zweckbestimmungsinstanz ab; eine Dialektik also, wie sie der spekulativen Dialektik von Hegel entspricht, weg von der Sinnlichkeit hin zum Geist: „Nur die vernünftige Natur, aber weder rein natürliches noch rein vernünftiges Dasein ,existiert als Zweck an sich selbst‛. Der Mensch ist also prinzipiell aus der Dialektik zweier Standpunkte zu betrachten, erstens, sofern er zur Sinnenwelt gehört, d.h. ,unter den unteren Kräften und Gesetzen‛ seiner eigenen Natur steht, und zweitens, sofern er zur intelligiblen Welt gehört und unter dem Gesetz der Freiheit steht ().“ (Löwith 1928/81, S.161f.)

Plessner verzichtet auf eine solche Dialektik. Was Löwith im letzten Zitat „vernünftige Natur“ nennt, also ein Komposit aus Vernunft und Natur, bezeichnet Plessner als „Körperleib“, auf dessen Grenze stehend sich der exzentrisch positionierte Mensch neutral gegenüber Sinnlichkeit (außen) und Intellekt (innen) verhält.

Löwith bringt Kant hinsichtlich des gegen den „Egoismus der selbstsüchtigen Neigung“ gerichteten „Selbstzwangs“ der Pflicht in folgender Textstelle auf den Punkt: „Die Verbindlichkeit des moralischen Gesetzes schränkt also zweifach ein: 1. das natürliche Geneigtsein des Ich, sich seinen eigenen Naturneigungen zu überlassen, und 2. das natürliche Geneigtsein des Ich, die andern als Mittel für sich selbst zu gebrauchen.“ (Löwith 1928/81, S.173)

Das „natürliche Geneigtsein des Ich“ ist selbstverständlich nichts anderes als der Wille, der darüberhinaus ein Konstrukt bildet, in dem, wenn alles gut verläuft, wir unsere lebensbegleitenden Erfahrungen zu einer Gesamtgestalt formen, die ich an anderer Stelle schon mal als Gefühlshaushalt beschrieben habe. Im Willen kommen alle unsere zersplitterten, vielfältigen Willensregungen zusammen und bilden eine Rangordnung aus Bedürfnissen, Begehrungen und Befindlichkeiten.

Deshalb ist der Selbstzwang des moralischen Gesetzes, das prinzipiell unser „natürliches Geneigtsein“ einschränkt, weil es blind ist für unsere Individualität, eine Gefahr für unsere Emanzipation zu einer selbstverantworteten individuellen Lebensführung. So wie schon Kant die Religion nur für diejenigen als notwendig erkannte, die sich nicht dem Selbstzwang der autonomen Pflichterfüllung unterwerfen können oder wollen, ist letztlich auch Kants pflichtgemäßer Selbstzwang nur immer dort nötig, wo wir nicht fähig sind, uns als Du eines anderen Ich und das andere Ich in unserem Du zu erkennen, und in der Gefahr sind, ihr zu schaden. Grundlage dieser Pflichterfüllung ist aber unsere Fähigkeit, in der Begegnung mit anderen unsere wechselseitige Verwiesenheit aufeinander zu erleben, zu empfinden und zu reflektieren.

Und das ist dann nicht mehr Pflicht, sondern Liebe.

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