„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Donnerstag, 20. März 2025

Karl Löwith: „Nur ,Du‛ kannst der ,Meine‛ sein ...“

1. ,Kehre‛
2. Weltbestimmungen
3. Sensualismus
4. Referenz
5. ,Mein‛ Du
6. Zwiegespräch und Gewissen
7. Erwiederung statt Erwiderung
8. primäre Willensverhältnisse
9. die eigentliche Kehre

Karl Löwith, „Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen“ (1928)
In: „Mensch und Menschenwelt“ (1981, S.9-197)
ders., „Welt und Menschenwelt“ (1960)
In: „Mensch und Menschenwelt“ (1981, S.295-328)

Ich beginne diesen Blogpost mit einem längeren Zitat aus Löwiths Habilitationsschrift, das auf den ersten Blick meinem Konzept von Ich = Du entspricht und mich wahrscheinlich vor dreißig Jahren bei meiner ersten Lektüre des Textes nachhaltig beeindruckt hatte:

„Und weil ,Du‛ für mich der Nächste bist, sind alle anderen ‒ im Vergleich zu Dir ‒ Fernere, Anderweitige, Andere in der ,dritten‛ Person. ... Entsprechend hat das ‚wir beide‛ eine grundsätzlich andere Bedeutung als das allgemeine ,wir‛, z.B. auch der wissenschaftlichen Anrede. Das Zu-zweit-sein bedeutet keine quantitative Verringerung des zu-dritt-, viert- usw. -seins, sondern eine daraus nicht abzuleitende qualitative Steigerung des Miteinanderseins. Die ,dritte‛ Person und d.h. zugleich jede weitere Person unterscheidet sich von der zweiten Person grundsätzlich deshalb, weil nur eine Person in zweiter Person sich mit der von allen anderen unterschiedenen ersten Person vereinigen kann ... Eigentlich mit-einander sind nicht ,wir‛, und noch weniger ist ,man‛ miteinander, sondern ausschließlich ,wir beide‛, ,Du und Ich‛, können miteinander sein. ... Ein anderer bist ,Du‛ also nicht in der Bedeutung des lateinischen ‚alius‛, sondern im Sinne des ,alter‛ oder ,secundus‛, der mit mir als ein ,alter ego‛ alternieren kann (). ... Du bestimmst mich stets als Ich. Eigentliche ,Kommunikation‛ () gibt es nicht nur deshalb nur zu zweit oder ,unter vier Augen‛, weil darin ein jeder ‚als Einzelner‛ zu Wort kommt, sondern ebensosehr deshalb, weil der Einzelne nur als der Eine von Zweien, im Reden und Antwortstehen, aber nicht vor sich selbst aus sich heraus kommt. ... Am ursprünglichsten ,mit‛ einem andern ist einer dort, wo das bloß Mithafte des einen für den anderen in einem ebenbürtig-einheitlichen Einander als einem ausschließlichen Verhältnis von mir zu Dir, von ,bin‛ und ,bist‛, verschwindet.“ (Löwith 1928/81, S.70f.)

Trotz dieser offensichtlichen Nähe zu meinem eigenen Konzept gibt es eine durchaus schwerwiegende Differenz dort, wo in diesen ansonsten mit meinem Ich = Du-Konzept übereinstimmenden Textstellen nirgends ausdrücklich festgehalten wird, daß auch Du Ich ist. Anstelle einer solchen klaren Feststellung verwendet Löwith rätselhafte lateinische Vokabeln, ,alter‛ und ,secundus‛, als wäre damit im Unterschied zu ‚alius‛ alles wesentliche gesagt. Tatsächlich aber verdecken diese Vokabeln nur, daß Löwith an an­deren Stellen dem Du immer wieder seinen Ich-Status verweigert. (Vgl. Löwith 1928/81, S.130, 154 u.ö.)

Löwith hebt in dem Zitat vor allem die eine Richtung von Ich zum Du hervor: „von mir zu Dir“ oder auch, scheinbar umgekehrt: „Du bestimmst mich stets als Ich“. Beides läuft auf die Feststellung hinaus, daß Du, da es ja Löwith zufolge kein Ich ist, immer schon mein Du ist, also das Du eines Ich, dem es possessiv zugeordnet wird, ohne selbst als Ich gemeint zu sein; wie etwa in folgenden Textstellen:
„,Du‛ (bist) meine ganze eigentliche Welt () ...“ (Löwith 1928/82, S.64; Hervorhebung DZ); „Nur ,Du‛ kannst der ,Meine‛ sein ...“ Löwith 1928/82, S.71; Hervorhebung DZ) ‒ Auch die von Löwith aufgeführten Paarbeispiele laufen auf Besitzverhältnisse hinaus: Vorgesetzter/Untergebener (vgl. Löwith 1928/82, S.70), Eltern/Kind, Ehemann/Ehefrau (vgl. Löwith 1928/82, S.91) und die damit verbundene Problematik des Personbegriffs (vgl. Löwith 1928/82, S.67f.).
Obwohl Löwith an zwei Stellen auf die im Kantischen Sinne ‚Zweckfreiheit‛ der Ich=Du-Beziehung verweist (vgl. Löwith 1928/81, S.73 u.S.87), dabei aber schon an der zweiten Stelle unter der Überschrift „Das zweckfreie Füreinandersein“ (vgl. Löwith 1928/81, S.87) diese Zweckfreiheit auf „etwas“ bezieht, „was außer ihnen selbst“ liegt, wird endgültig an einer dritten Stelle deutlich, daß von einer beidseitigen Zweckfreiheit keine Rede sein kann: „,Du‛ bist zunächst derjenige, in dem Ich mich behaupten kann.“ (Löwith 1982/81, S.91; Hervorhebung KL) Das ‚Du‛ wird also als Mittel für das ,Ich‛ verzweckt und ist für sich kein Selbstzweck.

,Du‛ ist demnach kein Selbstzweck, sondern bloß Mittel der Selbstbehauptung, der Selbstzweckhaftigkeit des Ich. Noch deutlicher wird das in folgenden Sätzen zum Ausdruck gebracht: „Die herrschende Ausdrucksform des Ich (ego) im andern (alter) ist die Verichlichung des andern im Begriff des Meinigen. ,Meine‛ Kinder, ,mein‛ Mann, ‚meine‛ Frau, ,mein‛ Freund, aber auch: ,mein‛ Feind, usw. ‒ in all diesen ‚Meinigen‛ bekundet einer das Seinige, seinen altruistischen Egoismus.“ (Löwith 1928/81, S.91; Hervorhebung KL)

Zwar scheint die Formulierung „Verichlichung des andern“ auf dessen Ich-Status hinzudeuten, aber Löwith bewegt sich hier bloß im Graubereich dialektischer Zweideutigkeiten. ,Verichlichung‛ kann genauso gut auf den Als-ob-Charakter des Ich-Status eines Du verweisen, was zu dem eigenartigen Begriff des altruistischen Egoismus paßt, mit dem Löwith die Dualität von Ich und Du in eine Alltagsdialektik überführt, die der Vorstellung von einer freien und gleichen Wechselbeziehung Zweier unangemessen ist. ,Verichlichung‛ wäre dann ein Effekt des Possessivpronomens ,mein‛. Wo Du der ,Meinige‛ ist, hat es Anteil an meinem ,Ich selbst‛. Ohne mich aber wäre Du weder selbst ein Ich noch auch nur ein Du.

Im gleichen Sinne dialektisiert Löwith auch den Begriff der Selbstzweckhaftigkeit so, daß sich die grundlegende Zweckfreiheit der Wechselbeziehung von Ich und Du in dem höheren Zweck der Ichsetzung auflöst: Ich und Du begegnen sich, damit das Ich, durch das Du gesetzt, sich behaupten kann. Gegen eine solche Dialektik hatte sich Emmanuel Levinas gewendet, als er sich weigerte, das „Antlitz“ dialektisch zu relativieren. Um das zu verhindern, setzte er es, also das Antlitz bzw. das Du, absolut.

Ohne Levinas direkt im Visier zu haben, dessen Bücher er noch nicht kennen konnte, kritisiert Löwith solche Absolutheiten: „Weil es aber für das Dasein im Miteinander, zumal es a priori geschichtlich unselbständig da ist, so natürlich ist, sich nicht bei sich selbst, sondern im andern zu suchen, ist andererseits die ,Unnatürlichkeit‛ des Altruismus nicht darin zu sehen, daß es unnatürlich wäre, für andere zu sorgen, sondern darin, daß es wider den ursprünglichen Richtungssinn der eigenen Ansprüche an den andern geht, diesen anderen von vornherein an ihm selbst, in seiner anspruchsvollen Selbständigkeit ‒ ohne Rücksicht auf einen selbst und die eigenen Ansprüche an ihn ‒ zu sehen.“ (Löwith 1928/81, S.91; Hervorhebungen KL)

Ich kann weder Löwith noch Levinas zustimmen: weder darf in der Wechselbeziehung zwischen Ich und Du eines von beiden auf ein Mittel zu einem bestimmten Zweck reduziert werden noch darf eines von beiden absolut gesetzt werden. Beides führt zum selben Ergebnis: Du ist selbst kein Ich mehr. Denn auch bei Levinas ist das Antlitz stets ein Opfer dessen, was Ich ihm antut. Nicht das eine oder das andere ist ein Selbstzweck für sich oder umgekehrt ein Mittel für das jeweils andere, sondern die Wechselbeziehung läßt zwar Verschiedenheit im Miteinander zu und verleiht ihr sogar Raum, sich zu entfalten, darf aber als existenzielle Gleichheit nicht durch diese Verschiedenheit aufs Spiel gesetzt werden.

Schließlich hält es Löwith sogar für nötig, zur Beurteilung des einen (Ich) in seiner Bestimmtheit durch den anderen (Du) einen „Dritten“ einzuführen. (Vgl. Löwith 1928/81, S.92). Dieses Dritte bildet also keine Referenz, wie ich sie im letzten Blogpost besprochen habe, sondern einen urteilenden Dritten. Wir haben es nicht mehr nur mit einer Mittel/Zweck-Verteilung innerhalb der Wechselbeziehung von Ich und Du zu tun, sondern auch mit äußeren Zwecksetzungen, die der urteilende Dritte in diese Zweierbeziehung hineinträgt. Die Zwei sind dann nicht mehr die Zwei.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen