2. Weltbestimmungen
3. Sensualismus
4. Referenz
5. ,Mein‛ Du
6. Zwiegespräch und Gewissen
7. Erwiederung statt Erwiderung
8. primäre Willensverhältnisse
9. die eigentliche Kehre
Karl Löwith, „Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen“ (1928)
In: „Mensch und Menschenwelt“ (1981, S.9-197)
ders., „Welt und Menschenwelt“ (1960)
In: „Mensch und Menschenwelt“ (1981, S.295-328)
Löwith setzt ein anthropologisches Axiom, das der exzentrischen Positionalität von Plessner widerspricht: „Ein jeder ist jederzeit irgendwo, aber nicht weil es zum ,Wesen‛ eines ‚Wahrnehmungsdinges‛ gehört, ,hic et nunc‛ zu sein, sondern weil menschliches Dasein als ‚In-der-Welt-sein‛, nie nirgends, sondern stets irgendwo ist, räumlich existiert().“ (Löwith 1928/81, S.29)
Indem Löwith den Menschen als In-der-Welt-sein definiert, befindet er sich im Widerspruch zu Plessner: „Als Ich, das die volle Rückwendung des lebendigen Systems zu sich ermöglicht, steht der Mensch nicht mehr im Hier-Jetzt, sondern ‚hinter‘ ihm, hinter sich selbst, ortlos, im Nichts geht er im Nichts auf, im raumzeithaften Nirgendwo-Nirgendwann.“ (Helmuth Plessner, „Stufen des Menschlichen“ (1875/28), S.292)
Zu Löwiths Verortung des Menschen in der Welt, nicht der Welt gegenüber, kommt noch hinzu, daß es sich bei dieser ,Welt‛ primär um die Menschenwelt handelt. In „Welt und Menschenwelt“ (1960) wird Löwith diese Bestimmung zurücknehmen, weil er den Menschen dort primär der Welt als nichtmenschlicher Naturwelt gegenüber stellt. Auch hier werden der Mensch und die Menschenwelt zwar von der Naturwelt umfaßt, aber es gibt kein ,Miteinander‛ in dieser Naturwelt. So wird das Weltverhältnis ambivalent, denn jetzt ist der Mensch ,in‛ ihr, und gleichzeitig ist sie dem Menschen bloß äußerlich. Menschen sind kein integraler Bestandteil der Welt mehr. Diese Verhältnisbestimmung entspricht der exzentrischen Positionalität.
In seiner Habilitationsschrift orientiert sich Löwith an Wilhelm Diltheys Weltbestimmung als Menschenwelt. Sie ist für Dilthey die einzige für den Menschen relevante Welt. Die Grenze zwischen Innen und Außen verläuft hier also anders als bei Plessner. Der Mensch verhält sich nicht zur nichtmenschlichen Natur, sondern zu seinen Mitmenschen. Sie leisten einander ,Widerstand‛, sind sich also wechselseitig äußerlich.
Bei Plessner öffnet sich die Kluft (Hiatus) zwischen Mensch und Welt auf einer fundamentaleren Ebene. Die Menschen sind zur Welt als solcher exzentrisch positioniert, ohne Unterschied zwischen nichtmenschlicher und menschlicher Welt. In Jean-Jacques Rousseaus „Émile“ (1760) wird zwar ähnlich wie bei Dilthey/Löwith zwischen nichtmenschlicher und menschlicher Welt unterschieden, aber bei Rousseau ist es die nichtmenschliche Welt bzw. die leblosen ,Dinge‛ sind es, die aufgrund ihrer ,Stummheit‛ dem Menschen Widerstand leisten, die Menschen hingegen sind gerade wegen ihrer Kommunikativität manipulativ und verleiten dazu, die individuelle Verstandesautonomie geringzuschätzen.
Ich verstehe den Begriff der Welt im Rousseauschen Sinne, demzufolge es gerade die Stummheit der Dingwelt, also sowohl der natürlichen wie der artifiziellen Dinge ist, deren Widerstand gegen den verstehenden (kommunikativen) Zugriff des Menschen es ist, der ihm etwas über die Begrenztheit seiner Kräfte lehrt, während die Lebenswelt in Gestalt der Mitmenschen, also die Dilthey/Löwithsche „Mitwelt“ (vgl. Löwith 1928/81, S.29ff.), uns falsche Vorstellungen über unsere Kräfte in Bezug auf unsere Bedürfnisse suggeriert. Es ist also gerade die Kommunikativität der Lebenswelt, die uns in die Irre führt. Ich weiß nicht, ob Löwith bei der Niederschrift seines Textes schon etwas von Husserls Lebensweltbegriff wissen konnte. Diese Lebenswelt setzt jedenfalls fundamentaler an als die Diltheysche Vorstellung von einer Mitwelt.
Tatsächlich gibt es auch bei Dilthey eine stumme Natur. (Vgl. Löwith 1928/81, S.39) Aber er bewertet die natürliche Widerständigkeit, an der sich unser Wille bricht, anders als Rousseau. Dilthey glaubt, daß gerade die Stummheit der Natur der Grund sei, weshalb sie uns keinen Widerstand leistet. Stattdessen lernen wir nur etwas über die Widerständigkeit der Welt bzw. der Realität im kommunikativen Umgang mit unserem Mitmenschen. (Vgl. Löwith 1928/81, S.58) Was Löwith übersieht, ist, daß wir es qua Kommunikation zwar immer auch mit Dissens zu tun haben, den wir als Widerstand erleben und den wir zu überwinden versuchen, daß aber dieser Kommunikation dennoch notwendigerweise ein fundamentales Einverständnis zugrundeliegt, ohne das sie nicht funktionieren würde. Ohne die Lebenswelt, in die unsere Kommunikation eingebettet ist, würde diese nicht einmal als Widerstand erlebbar sein, weil wir gar nicht erst versuchen würden, miteinander in Kontakt zu treten. Kommunikation mag zwar alltäglich erst bei Vorliegen von Dissens beginnen, aber möglich wird sie erst aufgrund dieses elementaren Lebensweltkonsenses.
Gar nicht erst in ein Gespräch eintreten zu können, wie es bei der stummen Naturwelt der Fall ist, ist der ultimative Widerstand, wie wir ihn in einer Menschenwelt niemals erfahren könnten. Aus der Widerständigkeit der Mitwelt deren „existenziellen Vorrang“ zu schlußfolgern, wie im folgenden Zitat, macht deshalb keinen Sinn: „Entsprechend dem existenziellen Vorrang der Mitwelt vor der Umwelt gilt Dilthey als der ursprüngliche Boden von ,Impuls und Widerstand‛ nicht die natürliche Außenwelt, sondern die dem Menschen (natürliche) Welt, die Mitwelt ‒ das-in-der-Welt-sein als Miteinandersein, die ,Verhältnisse zwischen Personen‛. Nur darin begegnet einem wirklicher Widerstand und Widerspruch, während dagegen Sachen sich nicht selbst widersetzen, sondern nur widerstehen können.“ (Löwith 1928/81, S.58f.)
Daraus, daß wir nur in der Menschenwelt (Mitwelt) kommunikativen Widerspruch erfahren können, nicht aber von der nichtmenschlichen Naturwelt, folgt weder die Berechtigung, damit auch deren stummen Widerstand als für den Menschen unwesentlich einzustufen, noch läßt sich die Mitwelt auf solche Widerspruchserfahrungen reduzieren, da sie als Lebenswelt immer schon einen impliziten kollektiven Konsens im Umgang der Menschen miteinander voraussetzt. Mit der Verknüpfung von Widerstand mit Widerspruch entgeht Dilthey/Löwith der ,hinterweltliche‛ Charakter der Lebenswelt, die eben nicht darin besteht, in einen offenen Wider-Spruch zum Willen des Menschen zu treten, sondern ihn auf einer unbewußt bleibenden Ebene fremdzusteuern. So sehr die Menschen mit ihren Mitmenschen streiten, so sehr teilen sie doch fundamentale Werte, Ansichten, an die zu zweifeln ihnen niemals in den Sinn käme. Und es ist gerade die Stummheit der natürlichen Welt, der ,Dinge‛, wie Rousseau schreibt, die uns über die Grenzen der Lebenswelt bzw. der Mitwelt hinausgelangen lassen. Hier also ist der eigentliche Hiatus als Brechung unseres Intentionsstrahls anzusetzen.
Diltheys Trugschluß, was den lebensweltlichen Charakter der Mitwelt betrifft, schlägt sich in folgender Textstelle nieder:
„Die von Feuerbach und Dilthey gebrauchte Rede von dem Vermitteltsein der außermenschlichen Realität besagt also, daß der Erfahrungsbegriff von Selbständigkeit überhaupt ‒ am ursprünglichsten und nachdrücklichsten ‒ in den Verhältnissen des Menschen zum Menschen erwächst. Am ursprünglichsten deshalb, weil sich der Mensch als Mensch in der wesentlichen Abhängigkeit von Seinesgleichen befindet, und am nachdrücklichsten deshalb, weil sich nur andere Menschen den Bestrebungen des Menschen selbst widersetzen können. Im gespannten anthropologischen Lebensverhältnis sind die eigenen ‚Willensintentionen‛ und die ,fremden Widerstände‛, worin sich nach Dilthey zunächst die selbständige Realität eines anderen ausweist, einander ontologisch ebenbürtig. Das ‚Fremde‛ ist hierin von gleicher Art wie das ,Eigene‛ und gerade deshalb umso realer befremdend.“ (Löwith 1928/81, S.60)Im nächsten Paragraphen verweist Löwith auf den Umstand, daß die zugegebener Maßen größere „Nachdrücklichkeit“ der Naturereignisse einer Gleichgültigkeit der Natur gegenüber den Intentionen und Plänen des Menschen entspringt, weshalb man nicht sagen könne, daß sie sich ihm widersetzen. (Vgl. Löwith 1981, S.60f.) Er berücksichtigt dabei nicht, daß nichts ,nachdrücklicher‛ die Willensfreiheit des Menschen begrenzen kann als Gleichgültigkeit. Die Stummheit der unkommunikativen Naturwelt ist, vermenschlicht ausgedrückt, nichts anderes als Gleichgültigkeit.
In den „Verhältnissen des Menschen zum Menschen“ gibt es weder Ursprünglichkeit noch Wesentlichkeit. Und „nachdrücklichsten“ Widerstand gegen den Menschen gibt es nur von Seiten der natürlichen Realität, als Naturzwang, der auch noch in der vollständigsten Technisierung der menschlichen Lebenswelt wirksam ist. In gewisser Weise ist die Lebenswelt der vermenschlichte Naturzwang. Die Dialektik von Eigenem und Fremdem entspringt unserer Lebenswelt, die sie zugleich camoufliert. Diese ,Dialektik‛ besteht aus lauter Teufelskreisen, aus denen wir nur herausfallen, wenn eine Krise die technische Welt zusammenbrechen läßt. Also immer dann, wenn der, hier ist dieses Attribut angebracht, ,ursprüngliche‛ Naturzwang aus der technischen Verborgenheit in unseren Alltag hereinbricht. Dann erleben wir die Fremdheit unmittelbar, fern jeder Dialektik.
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