„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Dienstag, 15. Oktober 2024

Die universelle Praxis von Ich = Du

Aleida und Jan Assmann haben gemeinsam das Buch „Gemeinsinn. Der sechste, soziale Sinn“ (2024) geschrieben. Jan Assmann ist noch vor dem Erscheinen des Buches am 8. März diesen Jahres gestorben. Schon früh habe ich Jan Assmann in diesem Blog besprochen und auch danach von seinen Büchern geistig profitiert. Aleida Assmann habe ich erst später entdeckt und dann ebenso schätzen gelernt.

In den letzten Monaten bin ich anläßlich meiner Lektüren in diesem Blog immer wieder auf mein Konzept von Ich = Du zu sprechen gekommen. Auch das Buch des Autorenpaars hat mir neue Impulse zu meinem Konzept geschenkt und so die Gelegenheit gegeben, meine Gedanken zu ordnen und zu schärfen. Überrascht hat mich dabei der Bezug auf Karl Löwith (1897-1973), der ebenfalls ein Konzept zur Dualität entwickelt hat (vgl. Assmann 2024, S.94ff.) und den ich bislang als einen Vorläufer für mich gar nicht im Blick gehabt habe. Das Autorenpaar stellt Löwiths Philosophie neben Martin Bubers dialogisches Prinzip eines gleichberechtigten, wechselseitigen Ich-Du-Verhältnisses, geht dabei aber nicht weiter auf die Verzerrung dieses dialogischen Verhältnisses durch ein drittes Du ein. (Vgl. Assmann 2024, S.94f.)

Aleida und Jan Assmann unterscheiden insgesamt vier Bedeutungsebenen des Ge­meinsinns. (Vgl. Assmann 2024, S.94f. und S.189) Erstens faßt der Gemeinsinn alle Sinnesorgane zu einem Gesamtsinn zusammen. Umgangssprachlich hat er also die Funktion eines ,sechsten Sinns‛. Zweitens bildet er so etwas wie einen ,gesunden Menschenverstand‛, also ähnlich wie der britische ,common sense‛. Drittens bezeich­net der Gemeinsinn die Zivilgesellschaft, die sich für die Gesellschaft engagiert. Auf eine vierte Variante des Gemeinsinns kommt das Autorenpaar gegen Ende seines Bu­ches zu sprechen und schließt aus der ursprünglichen Bedeutung des Wortes ,communis‛ auf eine gemeinsame Verpflichtung, auf eine „Pflicht“ und auf einen „Dienst“, die bzw. der darin besteht, sich für die „Mitmenschlichkeit“ und für „Menschenrechte“ einzusetzen.

Mich interessiert an Aleida und Jan Assmanns Ansatz vor allem der Versuch, den Gemeinsinn als eine individuelle Fähigkeit darzustellen, dem Leben gemeinsam mit anderen Menschen einen Sinn zu geben. Das ergibt natürlich eine Spannung zwischen den unterschiedlichen Ansprüchen, die sich mit dem gemeinsamen Handeln verbinden.

Das Grundproblem, auf das das Autorenpaar immer wieder zu sprechen kommt, besteht darin, wie sich Menschen über die Grenzen ihrer Gemeinschaft hinaus auf eine Menschheit verpflichten lassen, die den ganzen Planeten umfaßt. Deshalb befassen sich Aleida und Jan Assmann durchgehend mit der Frage nach der Solidarität (vgl. Assmann 2024, S.35ff.), die sie noch einmal als „Solidarität-mit“ und als „Solidarität-gegen“ differenzieren (vgl. Assmann 2024, S.46ff.).

Ich möchte diese beiden Solidaritätsformen im Sinne meiner folgenden Überlegungen gerne leicht umformulieren: Solidarität füreinander und Solidarität gegeneinander. Während Aleida und Jan Assmann mit den unterschiedlichen Solidaritätsformen vor allem unterschiedliche Gruppen fokussieren, also offene und geschlossene Gruppen wie rechtsstaatliche Demokratien mit Minderheitenschutz versus einzelne Ethnien zur Volksgemeinschaft aufwertende Staatsformen, geht es mir hier vor allem um die Individuen innerhalb und außerhalb der Gemeinschaft. Dabei steht Karl Löwith mit seinem dialogischen Schema von ,Subjekt‛ und ,Objekt‛ für die Solidaritätsform des füreinander Eintretens und Carl Schmitt (1888-1985) für die Solidaritätsform des Gegeneinander von Freund und Feind.

Individuelle Solidarität


Wenn Karl Löwith (1928) seine dialogische Philosophie mit einer Verhältnisbestimmung von Subjekt und Objekt beginnt, geht es ihm dabei weniger um Erkenntnistheorie als vielmehr um eine sozial-anthropologische Fundamentalreflexion. Für das Subjekt sind eben nicht alle Objekte gleich. Es gibt Objekte, die sich kategorial von den übrigen Objekten unterscheiden: die Mitmenschen. Mitmenschen sind ,Objekte‛, die zugleich Subjekte sind, also Menschen, die sich gegenseitig auf eine Weise spiegeln, wie das einfache Objekte nicht können: „Der Mensch erkennt sich nur im Menschen.“ (Zitiert nach Assmann 2024, S.96)

Die Mitmenschen sind also ,Objekte‛, die wie das Subjekt ihnen gegenüber ebenfalls Subjekte sind, also „Seinesgleichen“. (Vgl. Assmann 2024, S.99) Diese Subjektbestimmung des Objekts ‚Mensch‛ entspricht meinem Ich = Du. Ich selbst habe das in früheren Blogposts auch als Rekursivität bezeichnet.

Aleida und Jan Assmann schreiben, Emmanuel Levinas (1906-1995) habe „die Löwithschen Grundsätze der Mitmenschlichkeit in eine Post-Holocaust-Ethik übersetzt“. (Vgl. Assmann 2024, S.101) Daß Levinas dabei aus dem dialogischen Prinzip eine Einbahnstraße aus Ich ≠ Du gemacht hat, schreiben sie nicht. Das Antlitz, wie Levinas dieses Du nennt, ist dem Ich gegenüber so dominant, daß sich das Ich ihm gegenüber in einem unaufkündbaren Schuldverhältnis befindet, während das Du immer nur vom Unrecht, das ihm widerfahren ist, bestimmt wird. Eine solche Einbahnstraße verhindert die offene Wechselseitigkeit von Ich und Du, eine Beziehung, die Solidarität füreinander ermöglicht.

Die Gefahr einer solchen Einbahnstraße sehe ich auch dort, wo Empathie an Eigenschaften, Werthaltungen, kulturellen Mustern orientiert wird, etwa bei dem Empathietheoretiker René Rhinow, über den das Autorenpaar schreibt: „Eine ganz neue Herausforderung besteht für ihn ... darin, Situationen mit Menschen unterschiedlicher Herkunft, Kulturen und Werthaltungen zu verstehen, um mit ihnen konstruktiv kommunizieren zu können.“ (Assmann 2024, S.136)

Hier haben wir es nicht mehr mit Individuen zu tun, sondern mit durch Äußerlichkeiten erkennbar gemachten Gruppierungen. Was daran problematisch ist, zeigt sich an dem barmherzigen Samariter, auf den Aleida und Jan Assmann einige Seiten zuvor zu sprechen gekommen waren. Anhand der Samaritergeschichte, in der ein von den Juden verachteter Samariter einem überfallenen und verletzten Juden hilft, setzt das Autorenpaar die individuelle Verantwortung von Ich (Samariter) für Du (Jude) gegen die Gruppensolidarität (,wir‛ Juden gegen ,die‛ Samariter): „In dieser Begegnung (zwischen Samariter und Jude ‒ DZ) eröffnet sich die Möglichkeit einer mitmenschlichen Beziehung jenseits der Gruppensolidarität.“ (Assmann 2024, S.124)

Es ist also gerade die empathische Offenheit des Samariters für das Leid und für die Hilfsbedürftigkeit des Überfallenen, die ihn aus dem Gruppenzwang ‚Jude gegen Samariter‛ befreit und über seine Gruppenzugehörigkeit hinauswachsen läßt.

Die Empathie von Rhinow hingegen legt Ich und Du auf ein bestimmtes Erscheinungsbild und damit auf eine Gruppenzugehörigkeit fest, und beide fangen schon an, einander Rollenmuster zuzuordnen, bevor sie miteinander Kontakt aufnehmen. Damit wird die Ebene von Ich = Du verfehlt; also die Ebene, wo der Samariter ungeachtet der Feindschaft der Juden gegenüber den Samaritern dem überfallenen und verletzten Juden hilft.

Und auch hier ist es wichtig, nochmal festzuhalten, daß Ich = Du nicht darin aufgeht, daß Ich hilft und Du geholfen wird. Diese Festlegung von Ich und Du entspräche der Levinasschen Position. Nachdem der Samariter in der Geschichte seinen hilfsbedürftigen Mitmenschen in einer Herberge untergebracht hat und für die damit verbundenen Unkosten aufgekommen ist, geht er wieder seines Weges. Ich und Du sind wieder frei für neue Begegnungen, denen neue Möglichkeiten innewohnen.

Identitätspolitik


Im Gleichheitszeichen von Ich = Du geht es mir darum, daß auch das Du Ich und Ich Du ist. Ohne dieses Fundament gibt es keine Wechselseitigkeit. So eine Einbahnstraße, die das Ich darauf festlegt, Ich zu sein und das Du darauf, Du zu sein, sehe ich auch dort, wo das Autorenpaar vom sozialen und kulturellen Respekt spricht.

Sozialer Respekt, so Aleida und Jan Assmann, macht „auf den universalistischen Wert der Menschen“ aufmerksam. (Vgl. Assmann 2024, S.161) Damit bekommt der soziale Respekt die durchaus wichtige gesellschaftliche Funktion, „erniedrigte und unterdrückte Minderheit(en)“ in ihrem Anspruch auf Gleichberechtigung zu bestärken. (Vgl. ebenda) Man könnte also meinen, das entspräche meiner Vorstellung von Ich = Du. Aber Du ist nicht nur ein Symbol für eine Verpflichtung des Ich dem Du gegenüber, sondern selbst ein Ich. Es setzt sich also aus eigenem Antrieb Zwecke und muß dazu nicht durch ein anderes Ich und auch nicht durch ein gesellschaftliches ,Ich‛ legitimiert werden.

Schon die Vorstellung von der Notwendigkeit einer gesellschaftlichen Funktion, wie sie im sozialen Respekt zum Ausdruck kommt, beinhaltet eine Abhängigkeit des Du von einer durch die Gesellschaft gewährten Gunst. Minderheitenrechte sind Menschenrechte, die in der Würde des Menschen begründet sind. Sie sind keine Gunstbeweise.

Das gleiche gilt auch für den kulturellen Respekt, zu dem dem Autorenpaar sogleich auch noch die „Identitätspolitik“ einfällt. (Vgl. Assmann 2024, S.161; vgl. auch S.167ff.) Ich halte es für keine gute Idee, beide Begriffe im Text so nah zusammen zu stellen, als gehörten sie auch inhaltlich zusammen. Wenn Aleida und Jan Assmann schreiben, daß es beim kulturellen Respekt „um die Bejahung und Anerkennung von Differenz und Fremdheit“ geht: „Unterschiede werden dabei nicht mehr eingeebnet, sondern mit neuem Selbstbewusstsein hervorgekehrt.“ (Assmann 2024, S.162) ‒ dann ist der Schritt vom „neue(n) Selbstbewusstsein“ zur Identitätspolitik tatsächlich nicht mehr groß.

Natürlich sind sozialer und kultureller Respekt wichtige gesellschaftliche Praktiken, die so etwas wie eine Zivilgesellschaft konstituieren und völkischen Tendenzen Widerstand leisten. Das will ich durchaus gelten lassen. Mir geht es hier um etwas anderes. Ich will darauf hinaus, daß die individuelle Freiheit jenseits von „Gruppensolidarität“, vor allem also außerhalb von Gruppendynamiken aller Art, nur im Ich = Du verwirklicht wird. Kulturelle Unterschiede werden diese individuelle Praxis zwar immer begleiten, können aber nicht deren Ausgangspunkt sein.

Kulturelle Unterschiede sind letztlich nichts anderes als Eigenschaften, die sich in der Begegnung von Ich und Du wechselseitig manifestieren. In der Ich = Du-Begegnung werden sie zu individuellen (persönlichen) Eigenschaften und gehen als solche in die Wechselbeziehung, wie sie das Gleichheitszeichen zum Ausdruck bringt, ein. Dabei bilden das Ich als Ich und das Du als Ich die Zentren einer je individuellen Gestalt. Diese Gestalt hat ihre Individualität nicht von einer Gruppe her, sondern vom Du her, das mir begegnet. Das Du spiegelt mir mich selbst, so wie ich dem Du sein Ich spiegle. Und wenn ich zu ihm spreche, öffnet sich mir im Verstehen von Du der Sinn dessen, was ich sage, so wie sich umgekehrt dem Du, wenn es zu mir spricht, von meinem Verstehen her der Sinn dessen öffnet, was es sagt.

Deshalb haben „Bejahung und Anerkennung von Differenz und Freiheit“ (Assmann 2024, S.162) in der Wechselbeziehung zwischen Ich und Du einen anderen Sinn als in den Gruppendynamiken zwischen Individuen innerhalb einer Gruppe oder zwischen den Gruppen.

Kollektive Solidarität


Aleida und Jan Assmann zitieren den Schweizer Schriftsteller Lukas Bärfuss (2019): „Der Mensch in der totalen Isolation hat das Böse nicht in sich. (...) Ich glaube, es ist nicht in uns, es ist zwischen uns, irgendetwas, das zwischen Menschen geschieht. Und die Untersuchung dieses Dazwischen, das hat nicht aufgehört, meine Faszination in Gang zu setzen.“ (Zitiert nach Assmann 2024, S.66)

Meiner Ansicht nach ist mit diesem ,Zwischen‛ nicht das Zwischen der Wechselbeziehung von Ich und Du gemeint, sondern das Zwischen innerhalb einer Gruppe, in der Individuen nicht ausschließlich als Individuen interagieren, sondern immer mit Rücksicht auf die Rollen, die sie in einer Gruppe spielen, also mit Rücksicht auf die anderen. Meine Formel für dieses zwischenmenschliche Böse lautet Ich = Wir. Und da es nicht nur zwischen verschiedenen Gruppen Interessengegensätze gibt, sondern entsprechende Konflikte auch innerhalb von Gruppen vorhanden sind, entspricht das ‚Böse‛, das Bärfuss in dem Zitat beschreibt, dem Freund-Feind-Schema von Carl Schmitt. Freunde sind nur diejenigen, die meine Werthaltungen und meine Interessen mit mir teilen. Alle anderen sind Feinde. Dem Ich = Wir entspricht das Wir ≠ Ihr.

Für Carl Schmitt besteht das Mensch-Mensch-Verhältnis ausschließlich aus Freund-Feind-Beziehungen: „Die Logik heißt ,ich oder er‛ bzw. ,wir oder sie‛; für beide gemeinsam ist kein Platz auf der Erde und in der Weltgeschichte.“ (Assmann 2024, S.108) ‒ Wo sich Ich mit einem Wir identifiziert, übernimmt es auch dessen implizite Gegnerschaft zu anderen Gruppen-Wirs: also Freund ≠ Feind.

Identitätspolitik, wie wir sie heute kennen, ist im Grunde auch nichts anderes als ,wir‛ gegen die anderen. Susan Neiman nennt das ,Tribalismus‛, Stammesdenken. Wenn wir meinen, wir könnten hier gutartige von bösartigen Gruppenidentitäten unterscheiden, dann unterschätzen wir die Unversöhnlichkeit und die Unbedingtheit von Identitätsbehauptungen.

Menschheitsidee


Die Beziehungen zwischen Gruppen, gleichviel ob dabei an offene oder geschlossene Gruppen gedacht wird, werden oft so dargestellt, als handelte es sich um Kollektivindividuen, die ähnlich wie einzelne Menschen miteinander interagieren. ,Freundliche‛ oder ,feindliche‛ Beziehungen zwischen den Gruppen ähneln irgendwie freundlichen und feindlichen Beziehungen zwischen den Menschen innerhalb dieser Gruppen und werden auch ähnlich ,kommuniziert‛.

Auch Aleida und Jan Assmann schreiben Gruppen menschliche Eigenschaften zu und sprechen von einer gruppenübergreifenden Menschlichkeit: „Jede wie auch immer definierte Gruppe kann in der Interaktion mit anderen im Sinne Kants die Quellen ihrer gemeinsamen Menschlichkeit entdecken.“ (Assmann 2024, S.170)

Aber die Vorstellung, daß Gruppen miteinander kommunizieren, als wären sie Individuen, ist problematisch. Gruppen kommunizieren nur über Agenten miteinander. Und diese Agenten sind Individuen. Wenn Individuen ihre „gemeinsame Menschlichkeit“ entdecken, dann immer auf der Basis von Ich = Du und nicht auf der Basis kollektiver Identität bzw. auf der Basis einer Gruppenidentität. Das einzige, was Gruppen zu befrieden vermag, sowohl innerhalb einer Gruppe wie auch verschiedene Gruppen untereinander, sind deshalb die Individuen und ihre Rechte: ihre Menschenrechte. Gruppenrechte können ihre Legitimität immer nur aus individuellen Menschenrechten ableiten. Wo Gruppenrechte Menschenrechte beeinträchtigen, verlieren sie ihre Legitimität. Nur auf dieser Basis kann kulturelle Diversität funktionieren. Der Begriff der Menschheitsrechte führt in die Irre.

Aleida und Jan Assmann widersprechen in dieser Frage dem amerikanischen Sozialwissenschaftler Martin Walzer („Thick and Thin“, 1994), der ähnliche Vorstellungen wie ich vertritt und betont, daß nicht Gesellschaften, sondern immer nur konkrete individuelle Personen miteinander kommunizieren können, weil nur sie, und nicht die aus ihnen bestehenden Gesellschaften, über ein Bewußtsein verfügen: „Es ist aber in keiner Weise einzusehen, warum sich die ‚andere‛ Ebene, die Ebene der Menschheit, gar so blass oder ,dünn‛ darstellen muss. ... Es stimmt weder, dass es auf dieser Ebene kein Gedächtnis und keine Geschichte gibt, noch dass im Zeitalter des Anthropozäns keine Auffassungen über gemeinsame Herausforderungen, Bedrohungen, Güter, Ziele und Werte existieren.“ (Assmann 2024, S.174)

Es ist klar, worauf das Autorenpaar hinaus will: wenn Gesellschaften kein Bewußtsein besitzen, wie Walzer behauptet, auch nicht ein über ein Gedächtnis und eine Geschichte verfügendes Kollektivbewußtsein, gibt es auch kein „Menschheitsgedächtnis“ und auch keine menschheitliche Verantwortung. Gemeinsinn und Empathie lassen sich dann nicht universalisieren. Es gibt keine universelle Moral.

Aleida und Jan Assmann suchen also nach Belegen dafür, daß es ein übergreifendes Bewußtsein gibt, und sie glauben in erstaunlicher Naivität im Internet fündig zu werden: asoziale Plattformen wie Facebok und X sollen ihrer Ansicht nach in der Lage sein, „ein Menschheitsgedächtnis zu stiften“! (Vgl. Assmann 2024, S.175)

Die universelle Praxis von Ich = Du


Aleida und Jan Assmann sehen uns vor die Notwendigkeit gestellt, die partikulare Gemeinschaftsmoral durch eine universelle Moral der Menschenrechte zu ersetzen, die aber, wie sie schreiben, anders als die Gemeinschaftsmoral den Menschen nicht mehr „im Blut“ (Lebenswelt) liegt. Sie ist gerade in ihrer Universalität zu abstrakt und muß durch Gesetze und Erziehung abgesichert werden. (Vgl. Assmann 2024, S.180)

Ich denke aber, daß uns die universelle Moral durchaus „im Blut“ liegen könnte; nämlich dann, wenn wir verstehen und empfinden, daß die Praxis von Ich = Du über ihr eigenes universelles Potenzial verfügt. Ich = Du ist die einzige Sozialform, die nicht exkludiert. Sie formiert sich nicht gegen andere, sondern entspringt dem Anderen mir gegenüber. Da die persönlichen Eigenschaften von Ich und Du, die in deren Wechselbeziehung eingehen, dieser Wechselbeziehung nicht vorausgesetzt sind, wird sie auch durch keine Gruppenbindungen begrenzt. In diesem Sinne ist die Praxis von Ich = Du schon als Praxis universell und zugleich von höchster Bindungskraft.

Aleida und Jan Assmann setzen hingegen weiterhin ihre Hoffnung auf ein Kollektivindividuum namens Menschheit und geben dem Begriff der Identität einen gleichermaßen individuellen wie kollektiven Sinn: „Identitäten sind unter diesen Umständen nichts Abwegiges, sondern ein Menschenrecht der individuellen oder kollektiven Selbstbestimmung.“ (Vgl. Assmann 2024, S.184)

Aber so sehr es ein Menschenrecht auf die individuelle Entfaltung der Person gibt, so wenig gibt es auch ein Menschenrecht auf Identität. Der Begriff führt unvermeidbar zu einem fragwürdigen Menschenbild.

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