„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Freitag, 4. Oktober 2024

Hannah Arendt: Die Macht der Zahl

Die zentrale These in Hannah Arendts Buch „Macht und Gewalt“ (1970/2024) besteht meiner Ansicht nach darin, daß sich die Macht über die Zahl der Unterstützer definiert. Diese Zahl wird in Demokratien durch Wahlen ermittelt, so daß diejenigen Parteien, die die meisten Stimmen der Wählerinnen und Wähler auf sich vereinigen können, den Auftrag für eine Regierungsbildung erhalten. Aber auch alle anderen Regierungsformen, Monarchie, Oligarchie, Aristokratie und sogar die Tyrannei sind von der Unterstützung oder wenigstens Duldung der Bevölkerung abhängig.

An die Stelle der politischen Unterstützung durch die Gesellschaft (vgl. Arendt 1970/2024, S.53) kann auch die blanke, sich auf Waffen stützende Gewalt treten. Bei der Gewaltherrschaft spielt die Zahl der Unterstützer keine Rolle. Im Extremfall haben wir es mit der Herrschaft eines Einzelnen gegen alle zu tun: „Der Extremfall der Macht ist gegeben in der Konstellation: Alle gegen einen, der Extremfall der Gewalt in der Konstellation: Einer gegen alle.“ (Arendt 1970/2024, S.54f.) ‒ Allerdings ist die Dauerhaftigkeit einer solchen Gewaltherrschaft begrenzt.

Arendts Definition der Macht als Zahlenverhältnis, also letztlich als Herrschaft einer Mehrheit über eine oder mehrere Minderheiten, hat den Vorteil, auf Metaphysik zu verzichten. Denn aus dieser Perspektive besteht das Staatsvolk auch in nichts anderem als in einem Mehrheitsverhältnis, woran nichts Mysteriöses oder gar ,Heiliges‛ ist.

Zugleich verweist Arendt aber auch auf den dystopischen Aspekt einer demokratischen Mehrheitsherrschaft, die nicht auf den Schutz von Minderheiten verpflichtet ist: „Eine Demokratie, die im Unterschied zu einer Republik nicht an Gesetze gebunden zu sein braucht, also eine einfache Mehrheitsherrschaft, die nur auf Macht basiert, kann Minderheiten auf eine furchtbare Weise unterdrücken und abweichende Meinun­gen ohne alle Gewaltsamkeit sehr wirkungsvoll abwürgen.“ (Arendt 1970/2024, S.54 f.)

In so einer Demokratie verändert sich das Verhältnis zwischen Macht und Zahl: statt die Macht zu legitimieren, wird die Zahl selbst zur Macht; zur Macht der Zahl.

Aber das eigentliche Problem spricht Arendt hier gar nicht an. Ihre Definition der Macht als Zahl verschleiert, wie sehr die Macht ein le­bensweltliches Phänomen ist, das weniger vom Selbstbewußtsein als vom Unterbewußtsein bestimmt wird. Wenn z.B. Antisemitismus und Rassismus das kollektive Bewußtsein prä­gen, dann können Demagogen und Populisten über diese Haltungen (Meinungen) ihre Macht organisie­ren, ohne Gewalt anzuwenden, mit Ausnahme natürlich der gegen Juden und Schwar­ze gerichteten Gewalt. Das weiß auch Arendt, wenn sie schreibt: „Jeder Rassis­mus, der weiße wie der schwarze, ist von Haus aus gewaltträchtig, weil er gegen natürliche, organische Gegebenheiten protestiert, eine schwarze oder eine weiße Haut, die nicht von Meinungen abhängen, und an denen keine Macht etwas ändern könnte; kommt es hart auf hart, so bleibt nichts als die Ausrottung ihrer Träger.“ (Arendt 1970/2024, S.88)

Das ist eine korrekte Beschreibung solcher Dynamiken. Arendt übersieht nur, daß die Macht nicht nur machtlos ist gegen solche Dynamiken, sondern daß sie bzw. diejenigen, die ihre Macht mißbrauchen, via Lebenswelt dazu beitragen können, diese Gewaltdynamik allererst zu entfachen. Denn die weißen Rassisten sind nicht nur gewalttätig, sondern auch mächtig. Und ihre Macht beruht nicht auf Zahlen, die durch Wahlen ermittelt werden könnten, sondern auf dem kollektiven Unterbewußten.

Darauf will ich im Folgenden differenzierter eingehen.

Das Volk als Gruppe?

Zunächst mal ist die Differenz zwischen einem aufgeklärten bzw. rationalen und ei­nem metaphysisch überhöhten Begriff des Volkes nicht immer hinreichend klar. So setzt Arendt zwar die Begriffe „Volk“ und „Gruppe“ einander gleich ‒ „ohne ein ,Volk‛ oder eine Gruppe gibt es keine Macht“ (vgl. Arendt 1970/2024, S.56) ‒, was eine weitere Entmystifizierung des Volksbegriffs bedeutet. Andererseits aber frage ich mich doch, ob das Volk jetzt nur den Status einer größeren Gruppe hat oder ob es als Staatsvolk vielleicht so etwas wie eine Meta-Gruppe bildet, die alle anderen Grup­pen unter sich vereint? Dieses Meta-Verhältnis des Volkes zu allen anderen Gruppen läßt sich dann aber nicht mehr einfach in ein Zahlenverhältnis auflösen und ist jetzt ein Thema für die Metaphysik.

Wenn aber das Volk einfach nur größer wäre als alle anderen Gruppen, im Sinne von Mehrheit und Minderheit, dann wäre es Teil der ganz normalen Interessenkonflikte, die zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen Gruppierungen bestehen, und dann hätten wir es nicht mehr mit einem Machtverhältnis, sondern mit einem Gewaltverhältnis zu tun.

Ich frage mich, ob sich überhaupt schon jemals jemand über die Legitimität von Ge­setzen Gedanken gemacht hat, ohne dabei auf den Begriff des Volkes zurückzugrei­fen? Könnte der Begriff der Staatsbürgerschaft nicht den Begriff des Volkes erset­zen? Ist für das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland der Bezug auf das Volk nicht völlig überflüssig? Tatsächlich soll das Grundgesetz doch den einzelnen Men­schen vor der Mehrheit, also vor dem ,Volk‛ schützen, und zugleich muß es selbst durch eine Zweidrittelmehrheit gegen das Volk abgesichert werden.

Macht als Selbstzweck

Auch daß Hannah Arendt die Macht als Selbstzweck definiert und dabei die Parallele zum Begriff des Friedens zieht, trägt zu einer Mystifizierung des Machtbegriffs bei: „Der Zweck des Krieges ist der Friede; aber auf die Frage: Und was ist der Zweck des Friedens? gibt es keine Antwort. ... Ein solches Absolutes ist auch die Macht; sie ist, wie man zu sagen pflegt, ein Selbstzweck.“ (Arendt 1970/2024, S.63)

Arendt ergänzt, daß die Macht als Selbstzweck, „weit davon entfernt, Mittel zu Zwecken zu sein, tatsächlich überhaupt erst die Bedingung ist, in Begriffen der Zweck-Mittel-Kategorien zu denken und zu handeln.()“ (Arendt 1970/2024, S.63)

Das ist eine widersprüchliche Definition der Macht. In Begriffen der Zweck-Mittel-Kate­gorie zu denken und zu handeln, ist instrumentelles Denken und Handeln, was nach Arendts eigener Definition nicht ein Kennzeichen von Macht, sondern von Gewalt ist. (Vgl. Arendt 1970/2024, S.20, 53f., 58) ‒ Demnach wäre also die Macht eine Vor­aussetzung für Gewalt? Dann gäbe es also Gewalt als Zweck-Mittel-Rationalität nur dort, wo es Macht gibt? ‒ Das wäre wohl die Konsequenz, wenn Macht tatsächlich die Voraussetzung für instrumentelles Handeln wäre.

Außerdem: Organisation ist Arendt zufolge ein Kennzeichen von Macht. Wo sich Menschen organisieren, können sie, sogar wenn sie nicht in der Mehrheit sind, die Macht ergreifen. Als eine besonders bizarre Form der Herrschaft qua Organisation kann man z.B. die Bürokratie bezeichnen, von der Arendt sagt, daß sie die „vielleicht furchtbarste Herrschafts­form“ überhaupt sei (vgl. Arendt 2024, S.50); und zwar ob­wohl sie eine Form der „Niemandsherrschaft“ ist! Niemand herrscht mehr, wo die Or­ganisation alles beherrscht. Niemandsherrschaft wäre dann tatsächlich ein Selbst­zweck.

Zurück zur Macht als Selbstzweck: warum also sollten sich Menschen überhaupt staatlich or­ganisieren, wenn nicht um eines Zweckes willen? Grup­pen verfolgen selten nur einen Zweck und meist sogar viele Zwecke gleichzeitig. Und nach Arendt ist das Volk eine Gruppe. Wiederum nach Arendt bedarf die staatliche Macht vor allem der Unterstützung durch das Volk. Letztlich ist die Macht also kein Selbstzweck, son­dern ein Mittel des Volkes, seine ,Mehr­heit‛ gegenüber den Minder­heiten und dem Einzel­nen durchzusetzen.

Die Macht befindet sich also mit dem Frieden nicht auf einer Ebe­ne. Eher ist es wohl so, daß der Friede der einzige legitime Grund für die Konstitution staatlicher Macht ist.

Kollektive Schuld und Lebenswelt

Wie schon erwähnt, führt die scheinbare Rationalität des aus freien Wahlen sich ergebenden Zahlenverhältnisses zwischen Mehrheit und Minderheit an dem eigentlichen Ursprung von Macht vorbei. Dieser Ursprung ist nicht rational bestimmbar, sondern besteht im kollektiven Unterbewußten. Die rationale Begrenztheit ihres Konzepts wird dort deutlich, wo Arendt sich gegen den Versuch wendet, Schuld zu kollekti­vieren. Sie sieht darin nur den Versuch, die „wirklich Schuldigen oder Verantwortlichen, die Miß­stände abstellen könnten“, davor zu schützen, zur Verantwortung gezogen zu werden. (Vgl. Arendt 1970/2024, S.78)

So berechtigt diese Feststellung in vielen Fällen auch ist, verschleiert sie doch, daß es trotzdem kollektive Schuld gibt. So wurzelt der Rassismus nicht nur in kodi­fizierten gesellschaftlichen Institutionen, die man reformieren oder abschaffen kann, son­dern auch in gesellschaftlichen Infra-Strukturen bzw. in der Lebenswelt und wirkt dort auf unsicht­bare, unmerkliche Weise auf unser Bewußtsein ein.

Außerdem widerspricht sich Arendt hier selbst, denn gleichzeitig verweist sie auf das Phänomen „kollektiver Gewalt“. (Vgl. Arendt 1979/2024, S.79ff.) Wo von kollektiver Gewalt die Rede ist, liegt auch der Gedanke an kol­lektiver Schuld nicht fern. Allerdings geht es Arendt hier nicht um den Graubereich irrationaler Gewaltausbrüche, sondern um gesetzlich legitimierte Gewalthandlungen gegen einen äußeren Feind auf dem Schlachtfeld. Das kollektive Band, das die Soldaten untereinander verbindet, ist die Gleichheit aller angesichts des Todes.

Immerhin entlarvt Arendt so die politische Romantisierung bzw. Mystifikation der Gewalt als einer Form der ultima ratio. Hier geht es also nicht um kollektive Schuld, sondern um Kameradschaft. Dennoch liegt es beim Gedanken an kollektive Ge­walt eben auch nahe, daß es so etwas wie kollektive Schuld geben muß. Die Geschichte der Menschheit ist voll von entsprechenden Beispielen, von Sklaverei, Genoziden und Pogromen. Diese Gewaltphänomene wurzeln tief in den Lebenswelten von Gesellschaf­ten und Kulturen, auch dort, wo rechtsstaatliche Strukturen und Verfassungen die Un­antastbarkeit der Würde des Menschen garantieren.

Begriffe wie Mehrheit und Minderheit, Macht als Zahl, sind angesichts der lebensweltlichen Einflüsse auf das Denken und das Handeln der Menschen unterkomplex.

Interessenkonflikte und Lebenswelt

Letztlich ist die Lebenswelt der blinde Fleck in Arendts Konzept von Macht und Ge­walt. Das zeigt sich u.a. daran, daß Arendt zu der Frage, warum die Menschen so oft und immer wieder gegen ihre eigenen Interessen handeln, nicht viel Aufschußreiches einfällt.

„Verhaltens­weisen und Argumente in Interessenkonflikten pflegen sich nicht durch ,Vernünftigkeit‛ aus­zuzeichnen. Nichts ist leider mit so hartnäckiger Beständig­keit von der Wirklichkeit wider­legt worden, wie das Credo des ,aufgeklärten Eigenin­teresses‛ ...“ (Arendt 1979/2024, S.90)

Arendt beschreibt hier ein Phänomen, das schon vielen Soziologen und Ökonomen Kopfzerbrechen bereitet hat. Interessenkonflikte zwischen den Menschen sind ja ei­gentlich eher simpel und deshalb auch nicht schwer auf den Punkt zu bringen. Aber wenn wir uns das Wahlverhalten in einer Demokratie anschauen, müssen wir feststellen, daß Bürgerinnen und Bürger immer wieder Parteien wählen, die ihre In­teressen nicht vertreten. Demagogen und Populisten fällt es erstaunlich leicht, dem Wahlvolk erfolgreich Lösungen für Pseudoprobleme anzubieten, die mit ihren tatsächlichen Problemen nicht das Geringste zu tun haben. Dabei greifen sie auf kollektive Urängste zurück und bedienen soziale Bedürfnisse nach Gemeinschaft und Wohlbefinden und spielen auf der lebensweltlichen Klaviatur positiver und negativer Gefühle.

Es ist die Lebenswelt, mit deren Hilfe die ver­meintlich rationalen Interessenkonflikte verschleiert und deren Energien in Kanäle umgeleitet werden, die den Interessen der Menschen schaden, obwohl sie glauben, es ginge hier um sie. Die Energien, die so mobilisiert werden, entziehen sich der Statistik. Aber ohne sie gibt es keine Macht.

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