„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Donnerstag, 3. Oktober 2024

Rassismus, Bildung und Technik in Arendts „Macht und Gewalt“

In ihrem Nachwort zu Hannah Arendts Buch „Macht und Gewalt“ (1970/2024) stellt die Wissenschaftsphilosophin Christine Blättler Arendts Technikkritik in den Kontext einer „mehrheitlich technikfeindlichen“ Nachkriegszeit. (Vgl. Arendt 1970/2024, S.150) Darüberhinaus ordnet Blättler pauschalisierend jede Technikkritik überhaupt dem „Kulturpessimismus“ zu, für den sie insbesondere Ernst Jünger und Martin Heidegger in Anspruch nimmt (vgl. Arendt 1970/2024, S.154), und so spricht sie vom „kulturpessimistische(n) Fahrwasser“ Heideggers, bezeichnet den „Ökologiediskurs“ als „Verfallsgeschichte“ (vgl. Arendt 1970/2024, S.154), spricht auch von einem mit der Technikkritik verbundenen „kruden Pessimismus“ (vgl. Arendt 1970/2024, S.156) und behauptet, Levinas paraphrasierend, daß „die Feinde der Industriegesellschaft zum größten Teil Reaktionäre seien“ (vgl. Arendt 1970/2024, S.157).

Ein derartiges pauschales, undifferenziertes, alle Argumente der ,technikfeindlichen Reaktionäre‛, zu denen Blättler keineswegs nur Jünger und Heidegger zählt, ignorierendes Pauschalurteil, von dem dann auch respektable Persönlichkeiten wie Günter Anders und Hans Jonas nicht freigesprochen werden können, erübrigt jede Erwiderung meinerseits. Wenn man Hannah Arendt wegen ihres Buches tatsächlich einen Vorwurf machen müßte, dann nicht wegen ihrer wohlbegründeten Fortschritts- und Technikkritik, sondern wegen einiger rassistischer und/oder nah am Rassismus entlang schrammender Stellen, in denen sie sich zu der us-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung in den 50er und 60er Jahren des 20. Jhdts. äußert.

Deshalb zunächst hierzu ein paar Worte von mir: Arendt glaubt den schwarzen, ihre Bürgerrechte einfordernden Studenten ihre Qualifikation für ein Universitätsstudium absprechen zu müssen. Der offensichtliche Rassismus zeigt sich vor allem an Textstellen wie diesem: „Im Gefolge der Bürgerrechtsbewegung haben die Universitäten und Colleges eine große Anzahl von Negerstudenten aufgenommen, ohne von ihnen die üblichen akademischen Qualifikationen zu verlangen; und die Folge war, daß diese Studenten, die besser als irgendjemand sonst wußten, daß der ihnen gebotene Nachhilfeunterricht ein hoffnungsloses Unternehmen war, sich von der Studentenschaft absonderten, organisierten und nun verständlicherweise forderten, das Universitätsniveau so weit zu senken, daß sie mitkommen konnten ‒ bzw. da dies vielleicht doch nicht möglich war, ihnen ein eigenes ,Studiengebiet‛, die sog. ,Black studies‛, einzurichten.“ (Arendt 1970/2024, S.33f.)

Obwohl ich diese Textstelle eindeutig als rassistisch einordne, bleibt hier doch offen, ob Arendt den schwarzen Studenten pauschal einfach die nötigen Fähigkeiten/Begabungen per se abspricht oder ob sie sich nur darüber beklagt, daß sie nicht auf die „üblichen akademischen Qualifikationen“ hin geprüft wurden, bevor sie aufgenommen wurden. Doch ihre Bemerkung, daß jeder Nachhilfeunterricht von vornherein zum Scheitern verurteilt war und die betroffenen Studenten dies sogar selbst gewußt hätten, weshalb sie eine Art Alibifach, das man nicht als richtiges Universitätsfach ansehen könne, für sich reklamierten, überschreitet eindeutig die Grenze zum Rassismus.

Dennoch möchte ich als Bildungsphilosoph hier nicht dieses rassistische Moment ihrer Argumentation fokussieren, sondern ihre Vorstellung von dem, was eine Universität eigentlich ist. Diese Vorstellung unterscheidet sich nämlich erheblich von dem, was der Universitätsgründer Wilhelm von Humboldt darunter verstanden hatte. Nach Humboldts Ansicht war die Universität nicht besonders befähigten oder besonders begabten Studenten vorbehalten, denn an der Universität geht es gar nicht um den Erwerb von Spezialwissen, für das eventuell schon vor Studienbeginn eine spezielle Eignung vorausgesetzt werden müßte. Für solche Spezialfälle ist nach Humboldt nicht die Universität zuständig, sondern entweder wissenschaftliche Einrichtungen wie die Akademien oder die Berufsausbildung.

Humboldt zufolge besteht die eigentliche Studienreife nicht in einem bestimmten, abprüfbaren Bestand und Niveau von Wissen und Fähigkeiten, sondern im Interesse des Studenten für seinen Gegenstand. Dieses Interesse muß einerseits an seinem Gegenstand haften, darf aber andererseits nicht daran kleben bleiben. Es muß durch den Gegenstand hindurch auf die Welt als Ganzes gehen. Erst dieses Ganze der Welt macht aus einer Forschungseinrichtung eine Bildungseinrichtung. Und die Universität war Humboldts Auffassung nach auch als Forschungseinrichtung vor allem ein Ort der Allgemeinbildung.

Humboldt übersetzte das Wort ,studio‛ mit ,Eifer‛ und sogar mit ,Liebe‛; also mit der Liebe zum Gegenstand und zur Welt; oder etwas nüchterner: mit ,Interesse‛. Wo das Interesse vorhanden ist, ergeben sich Begabungen und Fähigkeiten quasi von selbst. Wer interessiert war, also ,Student‛ im ursprünglichen Sinne des Wortes, besaß auch die Universitätsreife.

Nur wo diese Liebe zum Ganzen da ist, geht das Universitätsstudium über die begrenzten Spezialbegabungen einzelner Kandidatinnen und Kandidaten, die man auf ihre ,Eignung‛ testet, hinaus. Die Befähigung folgt dem Interesse. Wo kein Interesse ist, verkümmern auch die vorhandenen ,Begabungen‛.

Aus dieser humboldtschen Perspektive ist es einfach falsch, schwarzen Studenten ihre Qualifikation abzusprechen. Es geht auch nicht an, die „Black Studies“ im inneruniversitären Fächerkanon als unwissenschaftlich abzuwerten. Wenn sich das Interesse der aus der Bürgerrechtsbewegung kommenden schwarzen Studenten zuerst auf dieses Wissensgebiet richtete, so deshalb, weil die „Black Studies“ eben auch einen bislang ausgeblendeten Teil der Welt, einen Teil des Ganzen bilden. Wenn es den schwarzen Studenten darum ging, ein bislang brachliegendes Wissensgebiet aufzuarbeiten und sich zugleich auf diese Weise einen Zugang zur universellen Bildung zu erarbeiten, dann ist die Universität genau der richtige Ort für dieses Anliegen.

Tatsächlich gibt es aus Humboldts Perspektive keinen Gegenstand, von dem aus sich keine Wege auf einen umfassenden Horizont des Wissens eröffnen.

Zurück zu Christine Blättler. Ich hatte sie schon als übelmeinende, auf den Fortschritt eingeschworene Rhetorikerin abgehakt, da kam dann doch noch etwas Interessantes zum Thema ,Geschichtsphilosophie‛. (Vgl. Arendt 1970/2024, S.168ff.) Blättler kommt für mich überraschend auf den Umstand zu sprechen, daß beides, Fortschritt und Geschichtsphilosophie, auf einer Teleologie beruhen. (Vgl. Arendt 1970/2024, S.170f.) Welche Umwege der Geschichtsverlauf auch immer nimmt und welche Kollateralschäden der Fortschritt auch immer verursacht ‒ die Richtung, in die es geht, ist von vornherein festgelegt: aufwärts und vorwärts. (Vgl. Arendt 19702025, S.175) Und Blättler resümiert: „Insofern weist dieser Geschichtsbegriff neben seiner gewaltvollen genauso einen technischen Charakter auf und findet in der technischen Bestimmung von Gewalt durch Arendt eine Bestätigung.“ (Arendt 1970/2024, S.175f.)

Auf den letzten Seiten ihres Nachworts geht Blättler nochmal detaillierter auf Arendts Fortschrittskritik ein und würdigt sie in ihrer argumentativen Stringenz. Die Verbindung des Fortschrittsgedankens mit technologischer Innovation, so Blättler Arendt paraphrasierend, führt geradewegs in eine unaufhaltsame Sachzwangsdynamik, die die Menschen dazu zwingt, „das, was sie können, auch zu tun, ohne es zu wollen“: „Der von (Arendt) in dieser Dynamik von Sachzwängen registrierte Machtverlust, ,der Gewalt Tor und Tür öffnet‛, ist vor dem Hintergrund ihrer Unterscheidung von Macht und Gewalt nicht zu unterschätzen und leitet diese pauschale Wissenschafts- und Technikkritik an.“ (Vgl. Arendt 170/2024, S.177)

Aber Blättler bleibt auch in diesem Zitat dabei: Arendt pauschalisiert, und ihre Fortschrittskritik ist deshalb eben doch nicht ernstzunehmen.

Hannah Arendt hatte schon in ihrem Buch Christine Blättlers Position gekannt und entkräftet. Denn so, wie Blättler Arendt in die Reihe eines Ernst Jünger und eines Martin Heidegger und anderer ,Kulturpessimisten‛ stellt, argumentieren, wie Arendt schreibt, schon immer die Kritiker der Fortschrittskritik: „Nach Präzedenzfällen und Analogien Ausschau zu halten, wo es keine gibt, sich ‒ unter dem Vorwand, daß wir aus der Vergangenheit, besonders aus den Jahren zwischen den beiden Weltkriegen lernen sollten ‒ gar nicht erst darauf einzulassen, das, was getan und gesagt wird, aufgrund der Ereignisse selbst zu berichten und darüber nachzudenken, ist für einen Großteil der gegenwärtigen Diskussion charakteristisch.“ (Arendt 1970/2024, S.105f.)

Zeitgeschichtlich sind auch Ernst Jünger und Martin Heidegger den „Jahren zwischen den beiden Weltkriegen“ zuzuordnen. Und Blättler meint eben auch, mit dem Verweis auf Jünger und Heidegger sei schon alles über Arendts Technik- und Fortschrittskritik gesagt. Daran ändern nicht einmal die letzten drei, vier Seiten ihres Nachworts etwas.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen