„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Freitag, 8. Juni 2018

Antonio Damasio, Im Anfang war das Gefühl. Der biologische Ursprung menschlicher Kultur, München 2017

1. Zusammenfassung
2. Physiologie der Wertigkeit
3. Algorithmen
4. Phänomenologie
5. Parallele Spuren: Apperzeption
6. Homunkulus
7. Big Data und Intuition
8. Kulturkrisen und Kulturkritik

Wenn Damasio die Kultur als eine erweiterte Homöostasevorrichtung beschreibt, die wie die Homöostase, die der biologischen Evolution zugrundeliegt, dem Überleben und dem Gedeihen des Menschen dient, bildet der Übergang von der Biologie zur Kultur eine Kontinuität:
„Indem wir die Kulturen mit Gefühlen und Homöostase in einen Zusammenhang bringen, stärken wir ihre Verbindung zur Natur und vertiefen die menschlichen Aspekte des kulturellen Prozesses. Gefühle und der kreative kulturelle Geist sind durch einen langen Prozess verbunden, in dem die genetische Selektion, die von Homöostase gelenkt wurde, eine herausragende Rolle spielte. Indem wir Kulturen mit Gefühlen, Homöostase und Genetik in Verbindung bringen, sorgen wir dafür, dass sich kulturelle Ideen, Praktiken und Objekte vom eigentlichen Lebensprozess nicht noch weiter ablösen.“ (Damasio 2017, S.15)
Dieses Zitat enthält durchaus schon eine verhaltene Kulturkritik, in der sich Damasio um die Abspaltung kultureller Praktiken vom „eigentlichen Lebensprozess“ sorgt. Was Damasio damit meint, kommt in seiner Kritik der Medizintechnik zum Ausdruck:
„Wenn man das Ziel hat, eine Krankheit zu beseitigen, die Leiden verursacht, besteht jede Rechtfertigung, es zu versuchen. Eine klassische Maxime der Medizin lautet: ‚vor allem keinen Schaden anrichten‘, und wenn diese Regel sorgfältig beachtet wird, sollte man die Eingriffe begrüßen. Wie aber sieht die Sache aus, wenn von vornherein überhaupt keine Krankheit vorliegt? Mit welcher Begründung lässt sich der Versuch rechtfertigen, die Gedächtniskapazität oder die intellektuelle Leistungsfähigkeit nicht durch praktische geistige Übungen zu verbessern, sondern mit genetischen Mitteln? Und wie steht es mit körperlichen Merkmalen – Augen- und Hautfarbe, Gesichtszüge, Körpergröße? Und was soll man von der Manipulation des Geschlechtsverhältnisses halten?“ (Damasio 2017, S.223)
Die Bevorzugung von technologischem Enhancement anstelle von „praktische(n) geistige(n) Übungen“ kritisiert Damasio, der sonst sehr positiv der technologischen Entwicklung gegenübersteht, auch an folgender Stelle:
„Tatsächlich ist ein beträchtlicher Anteil der hoch entwickelten Gesellschaften, in denen die moderne Wissenschaft und Technologie gefeiert werden, spirituell im säkularen wie im religiösen Sinn des Wortes bankrott.“ (Damasio, 2017, S.242)
Als ein zentrales Thema seines Buches bezeichnet Damasio deshalb die Suche nach einem Weg, „um das Leben der Menschen, wie wir es heute kennen ... mit dem Leben der Frühzeit vor bis zu 3,8 Milliarden Jahren in Verbindung zu bringen“. (Vgl. Damasio 2017, S.13)

Dennoch verhindert gerade dieser Fokus auf die Kontinuität, daß Damasio den eigentlichen Grund für die Krisenhaftigkeit des derzeit dominierenden europäisch-amerikanischen ‚way of life‘ nicht erkennen kann. Denn wenn der gegenwärtige Kulturprozeß tatsächlich in der Krise steckt, wie Damasio gegen Ende seines Buches diagnostiziert (vgl. Damasio 2017, S.241ff.), dann kann der Zweck der kulturellen Evolution, die Damasio in eine Linie mit der biologischen Evolution stellt, wohl kaum die Erhaltung eines den Bestand der Menschheit gewährleistenden Gleichgewichts sein; denn dann hätte sie ihren Zweck verfehlt, und das nicht erst seit heute. Außerdem dürfte es bei diesem Gleichgewicht nicht nur um das Wohlergehen einer regional begrenzten Population und innerhalb dieser Population einer bestimmten Generation gehen, sondern es müßte eine planetarische Perspektive beinhalten.

Damasio kommt letztlich nicht darum herum, sich zu fragen, warum kulturelle Prozesse schon immer so fragil sind und immer wieder ein abruptes Ende nehmen:
„Warum löschen Menschen in Abständen immer wieder zumindest teilweise die kulturellen Errungenschaften aus, die sie bis dahin erzielt haben?“ (Damasio 2017, S.194)
Um dieses betrübliche Phänomen zu erklären, unterscheidet Damasio zwischen kleinen Gruppen und großen Gruppen, zwischen Gemeinschaften und Zivilisationen. (Vgl. Damasio 2017, S.42, 249f.) Die „grundlegende Homöostase“ funktioniert nur innerhalb gewisser Grenzen. In der Biologie konzentriert sie sich auf den Erhalt eines einzelnen Organismusses, was zu einem Egoismus führt, der auf Kosten der Lebenserhaltung anderer Organismen geht. (Vgl. Damasio 2017, S.249f.) Dieser Egoismus läßt sich auf die eigene Familie und Freunde erweitern, aber bei ganzen Zivilisationen funktioniert das nicht mehr:
„Wer von einem großen, misstönenden Menschenkollektiv spontane homöostatische Eintracht erwartet, hofft auf das Unwahrscheinliche.“ (Damasio 2017, S.250)
Damasio weist auf einen wichtigen Aspekt der menschlichen Natur hin. Die Differenz zwischen kleinen und großen Gruppen ist anthropologisch fundamental, und Michael Tomasello beschreibt sie als die Differenz zwischen Zweitpersonalität und Drittpersonalität. An dieser Stelle zeigt sich aber zugleich auch, wie wichtig der Blick auf die individuelle Entwicklungslinie ist, die zwischen biologischen und kulturellen Prozessen changiert. Damasio weist einige Male implizit darauf hin, ohne es aber explizit zu thematisieren. So schreibt er z.B., daß es das Individuum ist, in dem sich biologische und kulturelle Prozesse ‚manifestieren‘. Und Bewußtsein, so Damasio, erwächst aus „interaktiven Verkettungen“, die mit dem Leben zusammenhängen. (Vgl. Damasio 2017, S.177) Hier hätte es nur eines kleinen weiteren Gedankenschritts bedurft, um das Individuum als zentralen Ort dieser interaktiven Verkettungen zu würdigen und in den Rang einer eigenständigen individuellen Entwicklungslinie zu erheben, die den anderen biologischen und kulturellen Entwicklungslinien gleichgestellt ist.

Tatsächlich aber wertet Damasio das Individuum angesichts des vielfältigen Scheiterns von Kulturen sogar ab. Damasio spricht von der Notwendigkeit einer „zivilisationsbedingten Eindämmung“ des individuellen Temperaments, das von den „Triebe(n) und Emotionen in einem Individuum“ abhängt, die „in einem Individuum angelegt sind“. (Vgl. Damasio 2017, S.254) Letztlich macht Damasio also die Individuen für das „immer wiederkehrende Scheitern von Kulturen“ verantwortlich. (Vgl. Damasio 2017, S.255)

Es geht an der Natur des Menschen vorbei, die Individuen für ein Phänomen verantwortlich zu machen, das auf dem Antagonismus von Biologie und Kultur selbst beruht. Kulturen bilden kein Kontinuum mit der Biologie. Vielmehr ist es die Differenz zwischen genetischer Vererbung und kultureller Tradition, und nicht die Kontinuität, die zum sich regelmäßig wiederholenden Scheitern von Kulturen führt. Die materielle Basis, auf der sich Kulturen tradieren, beruht nicht auf Genen – noch nicht einmal auf Epigenetik –, sondern auf der Geburtlichkeit von Individuen. Mit jeder Generation betreten neue Individuen eine Welt, in der sie sich aufs Neue orientieren müssen. Es sind nicht die Gene und nicht die Instinkte, die ihnen das ermöglichen, sondern die Fürsorge ihrer Eltern und ihrer Gemeinschaft.

Das hat Hunderttausende von Jahren gut funktioniert: in Wildbeutergesellschaften. Aber mit der neolithischen Revolution und dann erst recht mit der Erfindung der Schrift ist dieses Generationenverhältnis aus dem Gleichgewicht geraten. Der Wandel trat an die Stelle der Kontinuität. Und der Wandel beschleunigt sich bis heute, wo jährliche und monatliche Innovationen im Bereich der Technologie alle Gewißheiten über den Haufen geschmissen haben. Was kulturell ‚eingedämmt‘ werden muß, sind nicht die individuellen „Triebe und Emotionen“, sondern der blinde Innovationsmechanismus, der alles überrollt. Es ist nicht mehr das Alte, das sich vor dem Neuen rechtfertigen muß, sondern umgekehrt. Obwohl das in dieser Pauschalität natürlich nicht richtig ist. Denn was angesichts des gegenwärtigen technologischen Irrsinns als vernünftig erscheint, wäre ‚neu‘, während der Irrsinn trotz aller Innoviererei selbst längst veraltet ist.

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2 Kommentare:

  1. Mir fehlt die Herrschaft, Gewalt, Androzentrismus und das Patriarchale. Hat Damasio das ausgelassen?

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    1. Das hat Damasio tatsächlich ausgelassen. Nur deshalb kann er die Kultur in Konrinuität zur Biologie als Homöostase beschreiben.

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