„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Dienstag, 3. Dezember 2013

Friedrich A. Kittler, Die Wahrheit der technischen Welt. Essays zur Genealogie der Gegenwart, herausgegeben und mit einem Nachwort von Hans Ulrich Gumbrecht, Berlin 2013

(suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2073, 432 S., 18,-- €)

III. Griechenland als seinsgeschichtlicher Ursprung: Eros und Aphrodite (S.329-341), Homeros und die Schrift (S.342-350), Das Alphabet der Griechen. Zur Archäologie der Schrift (S.351-359), Im Kielwasser der Odyssee (S.360-376), Martin Heidegger, Medien und die Götter Griechenlands. Ent-fernen heißt die Götter nähern (S.377-390), Pathos und Ethos. Eine aristotelische Betrachtung (S.391-395)

1. Phänomenologie der Abwesenheit
2. Das ‚Gestell‘ als Vereinigung von Denken und Sein

Zu den unmenschlichsten Texten in der Aufsatzsammlung gehört „Il fiore delle truppe scelte“ (1996), in dem kurioserweise das Wort ‚Seele‘ wieder auftaucht, nämlich als Merkmal eines militärischen Kontingents, dem „Stoßtrupp“, den Ernst Jünger als „Seele“ der „zerfallende(n) und durch Maschinen zermürbte(n) Infanterie“ bezeichnet. (Vgl. Kittler 2013/1996, S.300-326: 302) Dieser Aufsatz stellt eine reine, von Kittler minutiös dargestellte Militärgeschichte deutscher und italienischer Sturmabteilungen dar. Philosophische Implikationen fehlen hier völlig. Der Text spiegelt lediglich Kittlers Faszination für die Materialschlachten des Ersten Weltkriegs wider.

Zu den menschlichsten Textstellen gehört die erste Seite von „Martin Heidegger, Medien und die Götter Griechenlands“ (2008). Hier spricht Kittler von seiner „Liebe“, die ihn „nicht mehr liebt“ und von den „beide(n) Herzen“, denen er als einzigen eine eigene Präsenz zubilligt, die sogar der Omnipräsenz der weltweiten „Techno-Wissenschaften“ standhält. (Vgl. Kittler 2013/2008, S.377) Auf den folgenden Seiten fällt Kittler aber wieder in seinen bekannten menschenfeindlichem Duktus zurück.

Allerdings spricht er nicht mehr von den ‚Leuten‘, wenn er vom ‚Menschen‘ spricht, sondern vom heideggerischen „Dasein“, dem „neuen Namen des Menschen“. (Vgl. Kittler 2013/2008, S.381) Und an dieser Stelle eröffnet Kittler neue, zumindestens mich überraschende Einblicke in Heideggers Ontologie. Ich hatte diese Ontologie immer als eine Form von Metaphysik verstanden, weil in ihr die Phänomene nicht als das genommen werden, was sie sind, sondern auf etwas hinter ihnen Verborgenes verweisen, das in ihnen bestenfalls ‚anwest‘. Ich habe nie verstanden, wieso Heideggers „Sein und Zeit“ (1927) in einer der Phänomenologie gewidmeten Schriftenreihe hatte erscheinen können.

Kittler stellt jedenfalls die für mich überraschende Behauptung auf, daß „Sein und Zeit“, „wie Sie wissen“, geschrieben wurde, „um die Metaphysik fundamental, nämlich bis auf den Grund zu zerstören.“ (Vgl. Kittler 2013/2008, S.378) – Die Begründung für diese Behauptung ist auf irritierende Weise eben nicht ontologisch, sondern phänomenologisch, was mir erstmals Heideggers Ontologie als Phänomenologie verständlich macht: Heidegger beschreibt nicht Phänomene in ihrer Präsenz, sondern in ihrer Absenz. Tatsächlich geht es dabei nicht, folgt man Kittler, um das Sein, sondern um das Nichts, d.h. um die Löcher und die Lücken in dem, was erscheint, – auch dies Wörter, mit denen ich mehr anfangen kann als mit der ominösen ‚Lichtung‘.

Ich hatte zu Beginn meiner Posts zu Kittlers Aufsatzsammlung Magrittes Bild über eine Pfeife, die nicht da ist, variiert und zweimal ein Bild meines Rezensionsexemplars, das in diesem Bild nicht da ist, gepostet. (Vgl. meine Posts vom 16.11. und vom 17.11.2013) Auch Kittler spricht von einem „Gemälde“ von van Gogh mit zwei Schuhen, die nicht da sind, weil das Gemälde „ein einziges Loch darstellt“. (Vgl. Kittler 2013/2008, S.380) Die Schuhe selbst wiederum, über die Heidegger in seinem Aufsatz „Vom Wesen des Kunstwerks“ schreibt, sind ebenfalls durch ein „Loch“ gekennzeichnet, „in das der eben nicht gemalte Fuß passen würde.“ (Vgl. Kittler 2013/2008, S.379)

Wir haben es also bei Gemälden und bei Gebrauchsdingen wie den Schuhen mit ‚Löchern‘, „Hohlräume(n)“, „Leerstellen“ und „Wölbungen“ zu tun (vgl. ebenda), wobei das Wort ‚Wölbung‘ sehr schön auf den Oberflächencharakter von Phänomenen verweist, hinter denen in diesem Fall kein Sein, sondern einfach nichts ist. Es könnte etwas dort sein, aber im Moment ist es abwesend. In dieser Reihung scheint etwas von Plessners Doppelaspektivität von Innen und Außen auf, in der die ‚Seele‘ sich auf der Grenze hält und weder auf der einen noch auf der anderen Seite ist. Leider macht Kittler diese Doppelaspektivität gleich wieder zunichte, wenn er der obigen Reihe noch „Bäuche“ hinzufügt. ‚Bäuche‘ sind metaphysisch bedeutungsvoll, wenn auch nicht unbedingt so bedeutungsvoll wie ‚Schöße‘. Aber gehen wir einmal davon aus, daß Bäuche voll oder leer, satt oder hungrig sein können, und dann wären wir doch wieder bei der Plessnerschen Seele.

Eine solche Phänomenologie, die das Wesen von Schuhen erkundet, in denen keine Füße stecken, ist eine Phänomenologie der Abwesenheit. Das wäre tatsächlich das fundamentale Ende jeder Metaphysik. Ich hätte nicht gedacht, daß ich nochmal so einverstanden sein könnte mit dem, was Kittler so schreibt.

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