„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Samstag, 14. Dezember 2013

Thomas Nagel, Geist und Kosmos. Warum die materialistische neodarwinistische Konzeption der Natur so gut wie sicher falsch ist, Berlin 2013

1. These
2. Methode
3. Sprache und Logik
4. Letztbegründungsansprüche
5. Mensch/Welt und Teil/Ganzes
6. Doppelaspektivität
7. Werterealismus
8.. Sinn von Sinn

Die grundlegende These von Thomas Nagels Buch „Geist und Kosmos“ (2013) besteht darin, daß die reduktionistischen Erklärungsansätze der Physik, Chemie (Molekularbiologie) und Biologie (Evolutionstheorie) die Welt, in der der Mensch lebt, nicht zu erklären vermögen: „Die Existenz bewusster Wesen mit Geist und ihr Zugang zu den evidenten Wahrheiten der Ethik und Mathematik gehören mit zu den Daten, die eine Theorie der Welt und unseres Platzes in ihr erst noch zu erklären hat.“ (Nagel 2013, S.52)

Eine Welt, in der es Menschen gibt, bedarf nicht-reduktionistischer Erklärungsansätze, die die Tatsache berücksichtigen, daß wir Menschen „Fälle von etwas“ sind, „das objektiv physikalisch von außen und subjektiv mental von innen ist“ (vgl. Nagel 2013, S.65); eine Tatsache, die Helmuth Plessner als Doppelaspektivität bezeichnet. (Vgl.u.a. meine Posts vom 21.10., 22.10. und vom 28.10.2010) Nagel unterscheidet deshalb zwischen „reduktionistischen“ und „reduktiven“ Erklärungsansätzen: „Ich werde ‚reduktiv‘ als den allgemeinen Terminus für Theorien verwenden, die Eigenschaften komplexer Ganzheiten in die Eigenschaften ihrer basalen Elemente zerlegen. Ich werde ‚reduktionistisch‘ weiterhin für den speziellen Typ reduktiver Theorie verwenden, der höherstufige Phänomen(e) ausschließlich unter dem Gesichtspunkt physikalischer Elemente und deren physikalische(n) Eigenschaften analysiert.“ (Nagel 2013, S.83, Fußnote Nr. 14)

Reduktive Erklärungsansätze berücksichtigen also die Komplexität ihres Gegenstands. Auch sie wollen ihn zwar in seine Bestandteile zerlegen, wie die reduktionistischen Erklärungsansätze, aber dabei sollen keine Qualitäten, die zum Wesen ihres Gegenstands gehören, verloren gehen. Für den Menschen gehören zu diesen wesentlichen Qualitäten Bewußtseinsphänomene wie Bewußtsein (vgl. Nagel 2013, S.55-104), Vernunft (vgl. Nagel 2013, S.105-139) und Moral (vgl. Nagel 2013, S.140-180).

Reduktionistische Erklärungsansätze können diese humanen Qualitäten nicht erklären. Entweder wollen sie das gar nicht, was sie wiederum mit reduktiven Erklärungsansätzen vereinbar macht. (Vgl. Nagel 2013, S.83, Fußnote Nr. 14) Denn dann beschränken sie sich durchaus selbst in ihrem Erklärungsanspruch: Wer gar nicht beabsichtigt, menschliches Bewußtsein zu erklären, wird auch nicht in einen Widerspruch zu den Resultaten seines Forschungsprogramms geraten können. Was reduktionistische und reduktive Erklärungsansätze an dieser Stelle unterscheidet, ist, daß sich letztere nicht damit begnügen wollen, nur physikalische und chemische Prozesse zu untersuchen.

Dann gibt es aber noch die reduktionistischen Erklärungsansätze, die ihren Erklärungsanspruch unverhältnismäßig überziehen und auch Bewußtseinsphänomene mit reduktionistischen Methodiken erklären wollen. Diesen Erklärungsansprüchen spricht Nagel jede Berechtigung ab. Er findet „diese Auffassung“, nämlich die „herrschende Form des Naturalismus“, „von vornherein unglaubhaft“. (Vgl. Nagel 2013, S.182f.) Und Nagel geht sogar noch weiter: Er bezeichnet den maßlosen Erklärungsanspruch des herrschenden reduktionistischen Materialismus als einen „heroische(n) Triumph ideologischer Theorie über den gesunden Menschenverstand“. (Vgl. Nagel 2013, S.183)

An dieser Stelle begegnen sich Thomas Nagels Anliegen und das Anliegen dieses Blogs: es geht ihm darum – und dieses Anliegen teile ich –, den menschlichen Alltagsverstand vor den reduktionistischen Erklärungsansprüchen des herrschenden Naturalismus zu schützen. Er will ihnen eine „Form des Verstehens“ entgegensetzen, „die uns in die Lage versetzt, uns selbst und andere bewusste Organismen als spezifische Ausdrucksformen der zugleich physikalischen und mentalen Beschaffenheit des Universums zu sehen.“ (Vgl. Nagel 2013, S.103)

Nagel geht davon aus, daß eine Berücksichtigung des Geistes in der Naturordnung sich rückwärts auf die materiellen Erklärungsansätze von der Entstehung des Kosmos und des Lebens in diesem Kosmos auswirken muß. (Vgl. Nagel 2013, S.18) Das entspricht der Plessnerschen Ästhesiologie. Plessner will nicht den Geist von den Sinnesorganen her, also von der ‚Biologie‘ her erklären, sondern die Sinnesorgane vom Geist her (vgl. meinen Post vom 14.07.2010); also „rückwirkend“, wie Nagel schreibt: das „Auftreten“ des Geistes „wirft einen Schatten, der sich rückwirkend über den gesamten Prozess und über die Bestandteile und Prinzipien, auf denen der Prozess beruht, legt.“ (Vgl. Nagel 2013, S.18)

Dem herrschenden Naturalismus, der allen, den Geist bzw. das Bewußtsein berücksichtigenden Erklärungsansätzen gerne pauschal vorwirft, lediglich die Erklärungslücken im physikalisch-chemischen Evolutionsprozeß mit dem Lückenbüßer ‚Geist‘ oder ‚Gott‘ auszufüllen, wirft Nagel nun seinerseits vor, alle, den Geist bzw. das Bewußtsein betreffenden Erklärungslücken im Evolutionsprozeß mit neodarwinistischen Spekulationen zu füllen; und er spricht, das Argument umkehrend, vom „Materialismus und Darwinismus der Lücken“. (Vgl. Nagel 2013, S.181)

Obwohl Nagel selbst keineswegs an einen göttlichen Kreator glaubt, der die Welt erschaffen hat – ihm fehlt es, schreibt er, „am sensus divinitatis“ (Nagel 2013, S.24) –, anerkennt er den positiven Effekt kreationistischer Welterklärungstheorien: diese „Bilderstürmer“ haben, so Nagel, dazu beigetragen, die „Skepsis gegenüber der Wahrscheinlichkeit der orthodoxen reduktiven Auffassung in Anbetracht der vorhandenen Belege“ zu wecken und öffentlich zu machen. (Vgl. Nagel 2013, S.23) Dafür, meint Nagel, „verdienen die Verteidiger des Intelligent Design unsere Dankbarkeit“. (Vgl. Nagel 2013, S.24) – Es ist etwas irritierend, daß Nagel in diesem Zitat von der „orthodoxen reduktiven Auffassung“ spricht, wo doch eigentlich von der „orthodoxen reduktionistischen Auffassung“ die Rede sein sollte. Doch diesen Unterschied macht er ja erst gut 60 Seiten später. Möglicherweise hat er vergessen, die frühere Textstelle rückwirkend zu korrigieren.

Nagel unterscheidet zwischen intentionalistischen und teleologischen Erweiterungen des naturalistischen Erklärungsanspruchs. Als ‚intentionalistisch‘ bezeichnet Nagel summarisch alle theistischen Erklärungsansätze, in denen ein göttlicher Urheber die physikalisch-chemischen Weltprozesse in Gang setzt. (Vgl. Nagel 2013, S.37ff.) Er distanziert sich von diesen Erklärungsansätzen, weil sie mit ihrem Erklärungsanspruch eine willkürliche Grenze ziehen, an der die Erklärungsversuche enden. (Vgl. Nagel 2013, S.37 und 39)

Er selbst bevorzugt einen teleologischen Erklärungsansatz, den er seltsamerweise als nicht-intentionalistisch versteht: „Ich bin aber zu der Überzeugung gelangt, dass die Idee teleologischer Gesetze kohärent ist und sich von der Idee einer Erklärung durch die Intentionen eines absichtsvollen Wesens, das die Mittel zu seinen Zwecken durch Entscheidung erzeugt, stark unterscheidet.“ (Nagel 2013, S.99f.) – Es ist eine schwer nachvollziehbare Position, von der Zielgerichtetheit von Naturprozessen auszugehen, dieser Zielgerichtetheit aber keine Intentionalität zugrundelegen zu wollen. Zielgerichtetheit und Absichtlichkeit gehören logisch zusammen, so daß nie das eine ohne das andere auftreten kann. Auch Nagel gesteht ein: „Ich bin mir nicht sicher, ob diese aristotelische Idee einer Teleologie ohne Intention sinnvoll ist, aber augenblicklich sehe ich nicht, warum sie es nicht sein sollte.“ (Nagel 2013, S.136)

Es gibt im Zusammenhang seines Buches eigentlich nur zwei Optionen, die eine solche intentionslose Zielgerichtetheit verständlich machen können. Bei der einen handelt es sich darum, das Mensch-Welt-Verhältnis als ein Verhältnis von Teil und Ganzem zu beschreiben. (Vgl. Nagel 2013, S.94, 128) Darauf werde ich in einem späteren Post noch einmal genauer eingehen.

Die andere Option erinnert an Sheldrakes morphogenetische Felder. Nagels Darstellung teleologischer Prozesse erinnert an den sogenannten „Potenzialtopf“. (Vgl. meinen Post vom 04.02.2013). Die „Naturteleologie“ geht Nagel zufolge von nicht-deterministischen Naturprozessen aus, die mehr oder weniger wahrscheinlich sind. Unter den verschiedenen „Zukunftsmöglichkeiten“ kommen einige „mehr in Frage ... als andere“: „Die Existenz der Teleologie verlangt, dass die Folgezustände in dieser Untergruppe eine signifikant höhere Wahrscheinlichkeit haben, als es die Gesetze der Physik allein mit sich bringen – und zwar einfach deswegen, weil sie auf dem Weg zu einem bestimmten Ergebnis sind.“ (Nagel 2013, S.135)

Wenn Nagel in diesem Zusammenhang von der „Selbstorganisation der Materie“ spricht (vgl. ebenda), kann man einfach nicht anders, als an Sheldrakes morphogenetische Felder zu denken. Der Feldbegriff hat dabei den Vorteil, keine Teleologie ohne Intentionalität zu beinhalten.

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