„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Montag, 30. Dezember 2013

„Maßnehmen/Maßgeben“. Nebulosa: Zeitschrift für Sichtbarkeit und Sozialität 04/2013, hrsg.v. Eva Holling, Matthias Naumann, Frank Schlöffel, Berlin 2013

Neofelis Verlag, Jahresabonnement 22,--, Einzelheft 14,--

(Eva Holling/Matthias Naumann/Frank Schlöffel, Homo Meter: Über Maße, S.7-17 / Hannelore Bublitz, Vermessung und Modi der Sichtbarmachung des Subjekts in Medien-/Datenlandschaften, S.21-32 / Frank Engster, Maßgeblichkeit für: sich selbst. Das Maß bei Hegel und Marx, S.33-48 / Bojana Kunst, Das zeitliche Maß des Projekts, S.49-63 / Jörg Thums, Manifest für eine Apperzeption in der Zerstreuung, S.66-77 / Christian Sternad, Das Maßlose des Werkes. Martin Heidegger und Maurice Blanchot über den Ursprung des Kunstwerkes, S.81-93 / Fanti Baum, All this Useless Beauty oder das Maß durchqueren, S.95-109 / Mirus Fitzner, Maßnehmen als rassistische Praxis. Warum das Konzept ‚Ethno-Marketing‘ auf rassistischen Grundannahmen basiert, S.110-124 // Kommentare zu Nebulosa 03/2013: Peter J. Bräunlein, Gelehrte Geisterseher. Anleitungen für den gepflegten Umgang mit Gespenstern, S.127-139 / Gerald Siegmund, Gespenster-Ethik, oder warum Gespenster das Theater lieben, S.140-150 / Julian Blunk, Die Gespenster bleiben nebulös, S.151-164 / Malgorzata Sugiera, Gespenst und Zombie als Denkfiguren der Gegenwart, S.165-177)

Bojana Kunst analysiert in ihrem Beitrag „Das zeitliche Maß des Projekts“ (Nebulosa 4/2013, S.49-63) die zeitliche Struktur gesellschaftlicher Selbst-Ausbeutung – im Sinne einer Ausbeutung des Selbst – anhand der Begriffe der „Arbeit“, des „Projekts“ im Selbstverständnis der heutigen ‚Kreativen‘ (vgl. Nebulosa 4/2013, S.50f.) und des „Projekts“, wie es einmal die zentrale Utopie der „historischen Avantgarden“ des 20. Jhdts. gewesen ist (vgl. Nebulosa 4/2013, S.55f.).

Die Arbeit versteht Bojana Kunst „primär als Bewahrung und Aufrechterhaltung der Gegenwart“. Das erinnert an einen Begriff von Nachhaltigkeit, in dem es vor allem um Lebenserhaltung und Daseinsvorsorge geht. Im Zentrum dieser Arbeit steht nicht eine permanent wachsende Ausbeutung menschlicher und natürlicher Ressourcen, sondern das „Gleichgewicht zwischen Leben und Arbeit“. (Vgl. Nebulosa 4/2013, S.56)

Diesem vormodernen Arbeitsbegriff stellt Bojana Kunst einen kapitalistischen Arbeitsbegriff gegenüber, der mit der Vereinnahmung künstlerischer Lebensformen Öffentliches und Privates, „Beruf und Leben“ miteinander verschmilzt und so das menschliche Individuum in die Mehrwertproduktion miteinbezieht. Über den Projektbegriff wird der kapitalistische Verwertungsprozeß zur Selbstverwirklichung: „Das Projekt beinhaltet nicht nur Arbeit, sondern auch Selbstverwirklichung, das eigene Leben betreffend und manchmal zutiefst persönlich. Der Charakter dieser Selbstverwirklichung ist jedoch widersprüchlich. Es gibt so viel zu tun, dass niemals Zeit bleibt für sich selbst und für andere ...“ (Nebulosa 4/2013, S.54)

Über die projektierte Selbstverwirklichung tritt das ‚unternehmerische Individuum‘ in eine der ständigen Optimierung und Selbstevaluation unterworfene Konkurrenz zu allen anderen. (Vgl. Nebulosa 4/2013, S.51f.) Am Ende dieses Projekts als dauerhaftem „experimentelle(m) Prekariat“ droht die „Katastrophe“ (Nebulosa 4/2013, S.60) des „Burn Outs“ (Nebulosa 4/2013, S.54): „Subjektivität wird zum Ergebnis von Verbesserungen; zeitgenössische Subjektivitäten sind eine Summe diverser – privater, öffentlicher, sozialer und intimer – Projekte. ... Subjektivität muss flexibel sein ...“ (Nebulosa 4/2013, S.53)

Die Verwertungs- respektive Verwirklichungsstruktur dieser Projekte beschreibt Bojana Kunst als „projektive Zeitlichkeit“. (Vgl. Nebulosa 4/2013, S.51) In ihr wird eine Zukunft zum  „Maß für Arbeitsaktivitäten“, die die Gegenwart entwertet: „... Arbeit wird zur Investition in zukünftiges Leben, sie wird ihrer Gegenwart beraubt ...“ (Nebulosa 4/2013, S.51)

An die Stelle eines nachhaltigen, auf Lebenserhaltung bedachten Gleichgewichts tritt ein zerstörerisches ‚Gleichgewicht‘, das in der Aufrechterhaltung selbstausbeuterischer Werte besteht: „Die strikte Verknüpfung von Arbeit und Zukunft führt zu keinen Veränderungen von Lebensweisen und Formen kreativer Arbeit/Tätigkeit, sondern ist hauptsächlich mit dem Verwalten von Kontexten der Zukunft und dem Erkennen von zukünftigen Werten auf dem Kunstmarkt verbunden, die dennoch gemäß gegenwärtiger Werte bemessen und organisiert werden – die Zukunft wird im Gleichgewicht mit dem Versprechen der Gegenwart ermessen. Es gibt also etwas Zerstörerisches an projektiver Zeitlichkeit ...“ (Nebulosa 4/2013, S.52f.)

Vielleicht ist es diese Ambivalenz im Gleichgewichtsbegriff, der nicht nur auf Bewahrung und Erhaltung hin ausgelegt werden kann, sondern auch im Sinne eines Immer-so-weiter von Lebenswelten, die längst aus dem Gleichgewicht geraten sind, verstanden werden kann; eine Ambivalenz, die wiederum den Begriff der Nachhaltigkeit so korrumpierbar macht. So wird z.B. in der AGENDA 21 der Konferenz der Vereinten Nationen für Umwelt und Entwicklung ein „nachhaltiges Wirtschaftswachstum“ gefordert. Die Gedankenlosigkeit, mit der ‚Nachhaltigkeit‘ und ‚Wachstum‘ in einem Wort kombiniert werden, hat schon etwas Atemberaubendes.

Was der projektiven Zeitlichkeit fehlt, ist die Fähigkeit, innezuhalten. Projekte unterliegen ständiger „Beschleunigung“ (Nebulosa 4/2013, S.51) und sind prinzipiell unbeendbar: „Arbeit existiert als eine endlose Abfolge von Projekten; und abgesehen von den laufenden Projekten sind da noch tausende, die niemals realisiert wurden, die für die Zukunft gedacht waren, aber niemals den ‚Drive‘ zur Durchführung erfahren haben. Es scheint als hätten Kunst und die kreativen Berufe niemals zuvor so viel Gewicht auf zukünftige Projekte gelegt sowie auf die Beförderung und Ausübung der Fähigkeit, das zu konzipieren, was noch passieren wird.“ (Nebulosa 4/2013, S.50)

Die radikale Unfähigkeit, „sich politische und ökonomische Lebensweisen vorzustellen, die sich von den bereits bekannten unterscheiden“ (vgl. Nebulosa 4/2013, S.50), wie sie auch in dem Oxymoron eines „nachhaltigen Wirtschaftswachstums“ zum Ausdruck kommt, ist auf diese projektive Zeitlichkeit zurückzuführen, die keine „Unterbrechung“ zuläßt. (Vgl. ebenda) Bojana Kunst spricht deshalb von der Notwendigkeit eines „Bruchs“, der das falsche Gleichgewicht einer katastrophenträchtigen Gegenwart aufbricht. (Vgl. Nebulosa 4/2013, S.55)

Die Thematisierung dieses Bruchs erinnert an Plessners Anthropologie, in der er von einem Hiatus im menschlichen Selbst- und Weltverhältnis spricht. (Vgl. meine Posts vom 24.10. und vom 29.10.2010) Bojana Kunst verbindet diesen Bruch mit der Ermöglichung einer generellen Zukunftsoffenheit, die die Gegenwart nicht darauf festlegt, was aus ihr werden kann oder soll. Eine solche Zukunftsoffenheit ist Kunst zufolge auch mit dem ursprünglichen Projektbegriff der historischen Avantgarde des 20. Jhdts. verbunden. Das Wort ‚Projekt‘ beinhaltete, so Kunst, ursprünglich „eine prozessuale, kontingente und offene Praxis“, „die nicht geplant oder kontrolliert werden kann und auch die Möglichkeit enthält, in einem Desaster, ohne ein Ergebnis oder in etwas komplett Anderem und Unerwartetem zu enden.()“ (Vgl. Nebulosa 4/2013, S.55)

Diese Brechung der projektiven Zeitlichkeit entspricht der von Plessner beschriebenen Brechung menschlicher Intentionalität, die den Menschen überhaupt erst reflexiv werden läßt und die Grundlage seiner Expressivität bildet. Bojana Kunst verortet die „politische Kraft“ eines solchen Bruchs in der individuellen „künstlerischen Geste“ (Nebulosa 4/2013, S.59), die sich, wie sie hofft, der ökonomischen Standardisierung von kreativen Dynamiken und Energieflüssen zu entziehen vermag (vgl. Nebulosa 4/2013, S.52). Allerdings bildet auch diese Möglichkeit eines Entzugs ein ambivalentes Moment innerhalb eines Projekts, dem die „temporale() Exklusion vom täglichen Lebensfluss“ ausdrücklich zugestanden wird, weil die Gesellschaft sie mit dem Versprechen verknüpft, „beim Ende des Projekts etwas im Austausch zurückzugeben“. (Vgl. Nebulosa 4/2013, S.60)

Die individuelle Geste des Künstlers ist also Teil einer „temporäre(n)“, „in ihrem Charakter“ widersprüchlichen „Harmonisierung“ (vgl. Nebulosa 4/2013, S.61), bei der man sich wieder fragen kann, ob hier nicht abermals nur das gleiche Immer-so-weiter perpetuiert wird. Allerdings ist die Gebrochenheit der menschlichen Verfassung unaufhebbar. Jenseits des Scheins eines Immer-so-weiter gilt: nichts bleibt, wie es ist.

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