„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Samstag, 21. Dezember 2013

Thomas Nagel, Geist und Kosmos. Warum die materialistische neodarwinistische Konzeption der Natur so gut wie sicher falsch ist, Berlin 2013

1. These
2. Methode
3. Sprache und Logik
4. Letztbegründungsansprüche
5. Mensch/Welt und Teil/Ganzes
6. Doppelaspektivität
7. Werterealismus
8. Sinn von Sinn

Es ist bezeichnend, daß Nagel die evolutionären Stufen des Bewußtseins im Wertebewußtsein gipfeln läßt. (Vgl. Nagel 2013, S.140-180) Statt den Wertebegriff hätte er auch das Gewissen dort plazieren können, wie es Damasio macht. (Vgl. meinen Post vom 18.08.2012) Der Wertebegriff ist ambivalent: er beinhaltet ein objektives und ein subjektives Moment.

Das objektive Moment besteht im Maßnehmen. Mensch-Welt-Verhältnisse werden auf einen objektiven, feststehenden Maßstab bezogen, der unter allen Umständen immer derselbe ist. Zu diesem Thema, „Maßnehmen/Maßgeben“, lese ich gerade eine Ausgabe von „Nebulosa“, der Zeitschrift für Sichtbarkeit und Sozialität (4/2013), die ich demnächst in diesem Blog besprechen werde. Es gibt Maße, die physikalische Bezugsgrößen quantifizieren, wie das Kilogramm, der Meter, die Sekunde etc. Und es gibt Maße, die qualitative Bezugsgrößen quantifizieren, wie das Geld, das den Tauschwert quantifiziert, wobei wir es beim Geld interessanterweise mit einem Maßstab zu tun haben, der wiederum auf das Maß des Tauschwerts selbst – als „Maß des Werts“ (Frank Engster, in: Nebulosa, S.32-48: 37) – angewandt wird: Der Tauschwert zweier konkreter Waren wie z.B. Zigaretten und Zucker, der sie spezifisch aufeinander bezieht und gegenseitig abwägt, wird durch das Geld als Maß für jedes beliebige Tauschverhältnis universalisiert und damit zur Tautologie. (Vgl. ebenda, S.35)

Die Idee, die hinter diesem objektiven Wertbegriff steckt, ist die einer objektiven, direkt erfaßbaren (und meßbaren), von subjektiven Empfindungen unabhängigen Wahrheit, wie sie ja auch von Nagel vertreten wird. (Vgl. Nagel 2013, S.117f., 120f., 123) Es ist genau dieser Wertebegriff, den Nagel als „eine Grundform von Wahrheit“ bezeichnet.“ (Vgl. Nagel 2013, S.64)

Der Wertebegriff bildet aber nicht nur die Grundlage für statische, unveränderliche, meßbare Maßverhältnisse. Er steht zugleich auch für ein im spezifischen Sinne humanes Mensch-Welt-Verhältnis, in dem nicht einfach Naturverhältnisse auf Bezugsgrößen ihrer selbst, auf Naturkonstanten, zurückgeführt werden, wie der Meter, der längst nicht mehr als Teil des Meridians unseres Planeten definiert wird, sondern als eine Wegstrecke, die das Licht in einer bestimmten Zeit zurücklegt. Sekunden werden wiederum anhand subatomarer oder kosmologischer Rhythmen definiert.

Spezifisch humane Bestimmungen des Mensch-Welt-Verhältnisses, die als werthaltig wahrgenommen werden, fallen anders aus. Sie sind vor allem subjektiv oder inter-subjektiv, was in diesem Fall keinen Unterschied macht, qualifiziert. In diesem Sinne spricht Nagel dann auch davon, daß wir in einer „Welt der Werte“ leben. (Vgl. Nagel 2013, S.164) An dieser Stelle wird deutlich, daß der Gebrauch des Wertebegriffs mit einem Kategorienfehler behaftet ist, der ihm wie ein Schatten folgt, so oft man ihn verwendet. Immer wenn wir von ‚Werten‘ sprechen, werfen wir Maßstäbe und Sinnbestimmungen in einen Topf. Es ist so, als wollten wir Wasser verwenden, um ein Feuer zu entzünden (was bei den heutigen Technologien sicher kein Ding der Unmöglichkeit mehr ist). Aufgrund dieses Kategorienfehlers fallen Profitsteigerung und Sinnstruktur als Zinseszins und Sinn von Sinn zusammen. (Vgl. meinen Post vom 09.11.2012)

Ein spezifisch humaner Wertebegriff bringt immer Sinnverhältnisse zum Ausdruck. Sinnverhältnisse aber haben die Struktur eines „Sinns von Sinn“. (Vgl. meinen Post vom 18.12.2013) Das bedeutet, daß Sinn kein statisches Phänomen ist, wie etwa ein Maßstab, sondern dynamisch. ‚Sinn‘ ist immer Sinnbildung, also ein Prozeß, in dem Sinn durch unser Handeln immer wieder neu gestiftet wird, ein Handeln, das sich wiederum nur dann als sinnhaft erweist, wenn es für neue Sinnbestimmungen offen bleibt. Der Begriff des „Sinns von Sinn“ stammt von Franz Fischer: Frühe Philosophische Schriften und Entwürfe (1950-1956), Kastellaun 1980.

Dieser Begriff liegt auch einer spezifisch humanen Interdisziplinarität zugrunde, in der das gesamte Spektrum der wissenschaftlichen Disziplinen nicht auf eine objektive Wahrheit, sondern auf das menschliche Sinnverstehen bezogen wird. Franz Fischer spricht in diesem Zusammenhang von den „vertikalen Bildungskategorien“. (Vgl. „Darstellung der Bildungskategorien im System der Wissenschaften“, Ratingen/Kastellaun 1975) Bei diesen ‚Kategorien‘ handelt es sich nicht um Disziplingrenzen im engeren Sinne, sondern um Fragestellungen nach dem Sinn wissenschaftlichen Wissens für das menschliche Handeln, aus denen sich diese Disziplingrenzen überhaupt erst ergeben.

Bei Thomas Nagel deutet sich eine solche ‚kategoriale‘ Dynamik an, wenn er fragt: „Wenn die Physik und die Chemie Leben und Bewusstsein nicht vollständig erklären können, wie wird dann ihre enorme Fülle an Wahrheit in einer erweiterten Konzeption der Naturordnung, die diesen Dingen Rechnung tragen kann, mit anderen Elementen zusammengebracht werden?“ (Nagel 2013, S.19)

Dies ist genau der Ansatzpunkt für einen bildungskategorialen Systemzusammenhang wissenschaftlichen Sinns. Franz Fischer läßt das wissenschaftliche Fragen mit der Semantik als Basisdisziplin beginnen, die alle Wissenschaftsdisziplinen durchzieht. Das ist für sich schon bemerkenswert. Nicht die Logik, nicht die Semiotik bzw. Informatik, nicht die Mathematik bilden die alle Wissenschaften verbindende Basisdisziplin, sondern die Semantik, die die Frage nach Sinn und Bedeutung stellt. Diese Frage hat ihre Grenzen, an denen die anderen Disziplinen anknüpfen, die die Fragestellung aufgreifen und variieren und schließlich wieder an ihre Grenzen kommen, an denen wiederum andere Disziplinen anknüpfen können. Sinnfragen stiften also immer wieder neue Sinnfragen. Es entsteht eine Sinn-von-Sinn-Dynamik.

In der Graphik, die das veranschaulichen soll, sind natürlich längst nicht alle wissenschaftlichen Disziplinen aufgeführt. Sie soll nur andeuten, wie sich die einzelnen Disziplinen in diese Dynamik einfügen können, um ihren Teil dazu beizutragen. Die wissenschaftliche Neugier, die Dynamik des Sinnfragens, beginnt mit dem menschlichen Lebensalltag. Dieser Lebensalltag, also die Notwendigkeit, daß der Mensch sein Leben führen muß, wie Plessner sagt, bleibt im Durchgang durch das Wissenssystem das Gemeinte aller wissenschaftlichen Disziplinen, wie sehr sie sich auch im Einzelnen spezialisieren mögen.

Die Semantik sagt dann etwas darüber, wie es kommt, daß Worte etwas bedeuten können, läßt aber die Frage nach der Identität als das in der Wortbedeutung Gemeinte offen und reicht sie an die Logik weiter. Die Logik sagt nun etwas zur Identität des sprachlichen Zeichens, läßt aber die Frage nach dem als Identität Gemeinten offen und reicht sie an die Mathematik weiter. Die Mathematik sagt etwas zu den berechenbaren Konfigurationen des identifizierten Gegenstands, läßt aber die Frage nach dem Gemeinten seiner zeitlichen und räumlichen Bezüge offen und reicht sie an die Physik weiter, etc. In der Religion schließlich spricht das Wort aus sich selber und mündet im Handeln.

Wenn Nagel also von einer „Welt der Werte“ spricht, haben wir es nicht mit starren Maßverhältnissen zu tun, sondern mit einer Sinndynamik, die das ganze menschliche Selbst- und Weltverhältnis durchzieht. Dieses Selbst- und Weltverhältnis beruht auf Gewißheiten, die den objektiven Maßverhältnissen naturwissenschaftlicher Methodiken allererst ihren Sinn geben und den daraus hervorgehenden Technologien eine Grenze ziehen.

Download
Eine ausführlichere Diskussion am Beispiel aus dem Schulleben eines Internats findet man in einem gemeinsamen Beitrag von Fischer-Buck und mir für das Franz-Fischer-Jahrbuch 2007 (Download).

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen