2. Zweiheit des Bewußtseins
3. Biologie und Sinn
4. Töten und Gebären
5. Eine Erinnerung
6. Immanenz und Transzendenz
Beauvoir versteht die Biologie des Menschen, insbesondere die weibliche Biologie nicht als Schicksal, auch wenn sie sich beim schwierigen Thema ,Fortpflanzung‛ immer wieder vergleichsweise auf Tiere bezieht, sondern als Projekt. (Vgl. Beauvoir 1987, S.28; vgl. auch S.26, 48, 382, 398, 494, 505, 551, 567, 668f., 675, 677) Sie vertritt wie ich den Standpunkt, daß es aller drei Entwicklungsebenen, der Biologie, der Gesellschaft und der Individualität, bedarf, um einen Menschen zu machen. Darin unterscheidet sie sich von den Dekonstruktivistinnen. Es ist aber vor allem die Gesellschaft, die die Bewertungsschemata vorgibt, an denen die Individuen ihre körperleibliche Befindlichkeit messen und an denen sie sich abarbeiten.
Dabei spielt die Situation, in der sich die Individuen den verschiedenen Ansprüchen an ihre Person stellen müssen, die Situation, in der sie ihr Leben führen, sprich: existieren, Beauvoir zufolge die entscheidende Rolle. Die „biologischen Voraussetzungen“ sind zwar von „größter Wichtigkeit“. Aber auch sie bilden nur ein „Element der Situation“, in der sich jede Frau befindet: „Denn da der Körper das Instrument ist, mit dem wir die Welt wahrnehmen, stellt sich die Welt ganz anders dar, je nachdem sie mit diesem oder jenem Körper wahrgenommen wird. ... Was wir aber ablehnen, ist die Idee daß sie an sich ein unausweichliches Geschick darstellen. Sie (die biologischen Voraussetzungen ‒ DZ) genügen nicht, um eine Hierarchie der Geschlechter zu begründen; sie erklären nicht, weshalb die Frau die Andere ist; sie verdammen sie nicht dazu, für immer diese untergeordnete Rolle zu spielen.“ (Beauvoir 1987, S.46)
Freud und Merleau-Ponty überdehnen Beauvoir zufolge Anatomie und Physiologie zu einem Allgemeinen, das dem Primat der Situation nicht nur über die Biologie, sondern auch über die Gesellschaft nicht gerecht wird. Beauvoir hingegen führt dieses biologische ,Allgemeine‛ wieder auf die soziale Wirklichkeit unserer individuellen Existenz zurück. Anatomie und Physiologie mögen zwar, wie Freud und Merleau-Ponty behaupten, soziale Typisierungen motivieren. Aber sie begründen sie nicht:
„‚Anatomie ist Schicksal‛, hat Freud gesagt; das Echo zu diesem Wort finden wir in einem Ausspruch von Merleau-Ponty: ,Der Leib ist das Allgemeine.‛ Die Existenz ist durch die Trennung in Existierende hindurch nur eine einzige: sie manifestiert sich in gleichgearteten Organismen ... so wird es auch Konstanten in der Beziehung zwischen dem Geschlechtlichen und den sozialen Formen geben; ähnlich geartete Individuen werden in ähnlichen Situationen innerhalb der gleichen Grundgegebenheit zu gleichen Deutungen greifen; diese Analogie begründet nicht eine unverbrüchliche Universalität, doch gestattet sie, in Einzelentwicklungen allgemeine Typen zu erkennen.“ (Beauvoir 1987, S.58)Die an biologische Funktionen individueller Organismen erinnernden ,typischen‛ Situationen, mit denen sich Frauen immer wieder konfrontiert sehen, sind derart komplex aus vielfachen individuellen und kollektiven Interaktionen zusammengesetzt, daß es sich erst im individuellen Handeln entscheidet, welchen Sinn sie ihnen geben. Ein den biologischen Funktionen ähnliches Situationsschema ist bzw. war (zumindest 1949) die Ehe. Hier, im Schoß der Gesellschaft, beginnt das eigentliche Drama ihrer Menschlichkeit, ohne dort zu enden. Bis heute nicht.
Wie schwierig es ist, zwischen Biologie und Gesellschaft zu unterscheiden, zeigt sich an Simone de Beauvoirs Darstellungen selbst, wenn sie Details des ,Befruchtungs‛-prozesses beschreibt. Schon der Begriff der ,Befruchtung‛ ist falsch, weil er suggeriert, es müsse die Oozyte allererst durch den männlichen ,Samen‛, ein ebenfalls irreführender Begriff, ,befruchtet‛ werden, als wäre die Eizelle für sich selbst keine Frucht. Außerdem beschreibt Beauvoir die Begegnung von Oozyte und Spermium als einen Akt der Penetration: das Spermium ,dringt‛ in die Eizelle ein, als sei es ein kleiner Penis.
Anders als Beauvoir meint haben wir es auch nicht mit einem 50 Prozent Anteil des Samens an der Erzeugung des künftigen Menschen zu tun. (Beauvoir 1987, S.30) In keinem von beiden, weder in der Oozyte noch dem Spermium allein, so Beauvoir, sei der „Lebensfunke“ enthalten: es bedürfe erst ihrer Vereinigung, um ihn zu entzünden (vgl. Beauvoir 1987, S.29), was schlichtweg falsch ist.
Wenn von einem Lebensfunken die Rede sein kann, dann nur bei der Eizelle. Außerdem wartet die Eizelle keineswegs „passiv“ die „Befruchtung“ durch das Spermium ab, wie Beauvoir meint. Vielmehr sind zuvor ausschließlich im Inneren der Eizelle selbst, die durchaus zur Parthenogenese fähig wäre, alle Vorbereitungen dafür getroffen worden, daß der sehr geringe Beitrag des Spermiums, die Hälfte der männlichen Erbsubstanz, zur weiteren Entwicklung der Frucht erfolgen kann. Das Spermium ‚dringt‛ auch nicht in die 80.000-fach größere Eizelle ein, sondern letztere verleibt es sich durch Phagozytose aktiv ein.
So hätten es die männlichen Fortpflanzungsideologen gern und Beauvoir reproduziert deren Mythen. Die tatsächlichen biologischen Tatsachen werden von einer männlich dominierten Wissenschaft entweder verschwiegen oder geleugnet. Es gibt weder eine „Verschmelzung“, ein weiterer irreführender Ausdruck, den auch Beauvoir verwendet, zwischen dem winzigen Spermium und der riesenhaften Eizelle, so als verschmölze der Löwe mit der Maus, die er versehentlich verschluckt, noch einen 50-zu-50-Anteil beider Geschlechter an der ,Befruchtung‛. Um die rein biologischen Abläufe darzustellen, ohne irgendwelche Mythen zu reproduzieren, muß die einfache Tatsache anerkannt werden, daß Frauen nicht nur die Hauptlast der menschlichen Fortpflanzung tragen, sondern auch die ,Zeugung‛ selbst in der Hauptsache durch biologische Prozesse in ihrem Körper im Vorfeld vorbereitet und im weiteren Verlauf umgesetzt werden. Nicht einmal das genetische Erbe des Mannes ist dazu aus biologischer Perspektive wirklich notwendig. Die Frage, wieso es überhaupt Zweigeschlechtlichkeit gibt, ist biologisch bis heute nicht geklärt.
Wie sehr Beauvoir in ihrem 1949 erschienenen Buch noch der männlichen Perspektive auf die Welt und auf die Geschichte des Menschen verpflichtet ist, wird sich auch im nächsten Blogpost noch einmal zeigen. Das ändert aber nichts daran, daß wir nicht davon absehen dürfen, daß biologische Prozesse für unsere Lebensführung bedeutsam sind. Die Bedeutung aber, die sie letztlich ,haben‛, ist die, die wir ihnen geben.
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