„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Montag, 10. Februar 2025

Kommentare zu „Das andere Geschlecht“

1. Zur Grenze zwischen Innen und Außen
2. Zweiheit des Bewußtseins
3. Biologie und Sinn
4. Töten und Gebären
5. Eine Erinnerung
6. Immanenz und Transzendenz

Beauvoir hält den Mann aufgrund von Anatomie und Muskulatur physisch für den Stärkeren und hält deshalb generell Männer von Anfang an auch menschheitsgeschichtlich für das dominante Geschlecht. Tatsächlich bewertet sie Gewalt überhaupt als etwas Positives, das das subjektive Streben nach Selbstbehauptung und Transzendenz unterstützt: „Gegen jede Beleidigung, jeden Versuch, ihn zum Objekt zu machen, greift der Mann zum Schlagen, setzt er sich Schlägen aus. Er läßt sich nicht durch den Nächsten transzendieren, er findet sich inmitten seiner Subjektivität wieder. Die Gewalt ist der authentische Beweis dafür, daß ein jeder sich für sich selbst, zu seinen Leidenschaften, zu seinem Willen bekennt. Sie grundsätzlich ablehnen, bedeutet, sich jede objektive Wirklichkeit aberkennen, sich in einer abstrakten Subjektivität einschließen. Ein Zorn, eine Auflehnung, die nicht in die Muskeln übergehen, bleiben imaginär.“ (Beauvoir 1987, S.316; vgl. auch S.322, 337, 361, 568, 665)

So kann einer Frau, deren Muskulatur weniger ausgebildet ist als die eines Mannes, die Anwendung von Gewalt als eine Erfahrung von Selbstwirksamkeit erscheinen, die ihr verschlossen bleibt, was ein weiterer Anlaß für sie ist, auf Distanz zu ihrer eigenen Körperlichkeit zu gehen: „Kein Vertrauen mehr zu seinem Körper zu haben, heißt sein Selbstvertrauen verlieren. Man braucht nur zu sehen, welche Bedeutungen junge Leute ihren Muskeln beimessen, um zu begreifen, daß jedes Subjekt seinen Körper als seinen objektiven Ausdruck auffaßt.“ (Beauvoir 1987, S.317)

Beeindruckt von der physische Stärke der Männer glaubt Beauvoir also, die Herrschaft des Mannes sei etwas natürliches: „Das alte Mutterrecht ist tot: und zwar hat die kühne Erhebung des männlichen Menschen es umgebracht. ... Die männliche Eroberung war eine Rückeroberung: der Mann hat nur wieder von dem Besitz ergriffen, was er schon ehedem besaß; er hat das Recht in Einklang mit der Wirklichkeit gebracht.“ (Beauvoir 1987, S.85)

Obwohl in diesem Zitat vom „Mutterrecht“ die Rede ist, glaubt Beauvoir also nicht, daß dem Patriarchat ein Matriarchat vorausgegangen ist: „In Wirklichkeit aber ist dieses goldene Zeitalter der Frau nur ein Mythos.“ (Beauvoir 1987, S.77) ‒ Für mich war das Matriarchat eigentlich immer eine historische Tatsache gewesen, und mit Meier-Seethaler gehe ich davon aus, daß sich menschheitsgeschichtlich erst relativ spät im Verlauf eines ca. tausend Jahre währenden Prozesses vor etwa drei- bis viertausend Jahren ein ausgeprägtes Patriarchat durchsetzte. Mir leuchtete es schon aus sozialpsychologischen Gründen ein, daß es so etwas wie ein Matriarchat gegeben haben muß. Ich war deshalb überrascht, als ein Freund heftig ablehnend auf meinen Blogpost vom 11. Juli 2022 zur Geschichte der Unvernunft reagierte, in dem ich mich zum Matrizentrismus geäußert habe. Dabei verwendete ich unvorsichtigerweise den immer noch umstrittenen Begriff „Matriarchat“, statt vom Matrizentrismus zu sprechen. Das nahm mir mein Freund vor dem Hintergrund seiner eigenen Expertise als Archäologe dermaßen übel, daß die Verbindung zwischen uns abbrach.

Beauvoir sieht es also ähnlich wie mein Freund, wenn sie, beginnend mit Bezug auf die Tierwelt, schreibt: „... es gibt tierische Weibchen, für die die Mutterschaft völlige Autonomie mit sich bringt; warum ist es der Frau nicht gelungen, daraus ein Vorrecht zu machen? Selbst zu den Zeiten, da die Menschheit aufs dringendste nach Geburten verlangte, weil das Bedürfnis nach Arbeitskräften größer war als das nach Rohstoffen zum Verarbeiten, selbst in den Epochen, als die Mutterschaft höchste Verehrung genoß, hat sie den Frauen nicht den Vorrang zu verschaffen vermocht. ()“ (Beauvoir 1987, S.70)

Ich habe nochmal bei Meier-Seethaler (2011) nachgeschaut, wie sie Beauvoirs historische und anthropologische Erkenntnisse in „Das andere Geschlecht“ beurteilt: „Simone de Beauvoir, die in ihrer großangelegten Untersuchung über ,Das andere Geschlecht‛ (1949) eine solche Analyse unternahm, war noch zu sehr in den Konstruktionen und Projektionen des männlichen Denkens befangen, als dass sie dem patriarchalen Denkschema entkommen wäre. So hat sie zwar den Weg zur Befreiung der Frau sehr klar als Protest gegen die männlichen Zumutungen gesehen, nicht aber das grundsätzlich einseitige Kultur- und Menschenbild des patriarchalen Mannes durchschaut.“ (Meier-Seethaler 2011, S.26)

Tatsächlich neigt Beauvoir selbst zu einer ausgeprägt männlichen Perspektive, wenn sie Töten und Sterben für bedeutsamer hält, als das Gebären: „Der schlimmste Fluch, der auf der Frau lastet, ist, daß sie von den kriegerischen Unternehmungen ausgeschlossen ist; nicht indem er sein Leben hergibt, sondern indem er es wagt, erhebt der Mensch sich über das Tier; deshalb genießt der Menschheit das höchste Ansehen nicht das Geschlecht, das gebiert, sondern das tötende Geschlecht.“ (Beauvoir 1987, S.72)

Wenn Beauvoir hier der kriegerischen Gewalt eine Transzendenz zuspricht, entspricht das ihrem Bewußtseinskonzept, wie ich es in meinem zweiten Blogpost zur Zweiheit beschrieben habe. Der mit einer Bewußtseinsspaltung begründete Konflikt zwischen Selbst und Anderem (vgl. Beauvoir 1987, S.11ff.) ist im Kern gewaltförmig. So schreibt Beauvoir: „Wir haben bereits den Grundsatz aufgestellt, daß, wenn zwei menschliche Kategorien einander gegenüberstehen“ ‒ in diesem Fall also Mann und Frau ‒ „jede der anderen ihre Überlegenheit aufzwingen will ...“ (Vgl. Beauvoir 1987, S.69)

Auf der Grundlage einer derart konfrontativen Bewußtseinshaltung muß selbst der Krieg als edle, männliche Tat erscheinen. Ein Bewußtsein, das sich aus der wechselseitigen Begegnung von Ich = Du ergibt, ist so nicht mehr denkbar. Dennoch stieß ich in Beauvoirs Buch auf eine Stelle, wo sie von der gegenseitigen Konkurrenz einer Zweiheit um den Vorrang dem Anderen gegenüber zur wechselseitigen Anerkennung, Ich = Du, voranschreitet: „Das Drama“ ‒ nämlich zwischen Sebst und Anderem ‒ „kann durch das freie Sich-Erkennen jedes Individuums im anderen überwunden werden, wobei jeder zugleich sich und den anderen als Objekt und Subjekt setzt, in einem wechselseitigen Akt.“ (Beauvoir 1987, S.152)

Allerdings bleibt es trotz des überwundenen Dramas dramatisch: „Aber die Freundschaft, der Edelmut, die in konkreter Form diese gegenseitige Anerkennung der Freiheiten verwirklichen, sind keine leichten Tugenden; sie stellen bestimmt sogar die höchste Vollendung des Menschen dar, und durch sie erst findet er in Wahrheit zu sich selbst; aber diese Wahrheit ist die eines unaufhörlich unternommenen Kampfes; sie verlangt, daß der Mensch in jedem Augenblick über sich selber hinausgeht.“ (Beauvoir 1987, S.152)

Beauvoir bleibt also der Gewaltmetaphorik verhaftet, auch wenn die Gewalt sich jetzt nicht mehr gegen den Anderen richtet, sondern gegen sich selbst. Nur mit äußerster Selbstdisziplin kann es dem Menschen gelingen, sich für seinen Mitmenschen zu öffnen. Die zwei Freiheiten begegnen einander weder gelassen und friedfertig noch vom Zufall überrascht noch einander begehrend in wechselseitiger Offenheit, sondern als Erfolg angestrengten über-sich-hinaus-Gehens.

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