1. Zur Grenze zwischen Innen und Außen
2. Zweiheit des Bewußtseins
3. Biologie und Sinn:
4. Töten und Gebären
5. Eine Erinnerung
6. Immanenz und Transzendenz
Ich habe gerade „Das andere Geschlecht“ (1949/1951/1987) von Simone de Beauvoir gelesen. Das Buch wurde 1949 veröffentlicht, ist also längst nicht mehr einfach so auf das Jahr 2025 zu übertragen. Aber was ich daraus über die Sexualität zwischen Frauen und Männern lerne, enthält für mich immer noch viele, auf mich, auf meine Erfahrungswelt passende Einsichten, die mich beunruhigen und nachdenklich machen. Mir gefällt an Beauvoir, daß sie anders als die Dekonstruktivistinnen der Biologie eine gewisse Bedeutung für die Selbstwahrnehmung zuspricht, diese Selbstwahrnehmung aber insgesamt als von drei verschiedenen Perspektiven her beeinflußt beschreibt: neben der Biologie die Gesellschaft und die Psychologie, die ich in meinem Konzept unter ,Individualität‛ subsumiere. Insofern die Biologie also unsere gesellschaftlichen und individuellen Entwürfe als Menschen beeinflußt, hängt ihre Bedeutung doch immer zuallererst von dem gesellschaftlichen Umfeld ab, das die Bewertungsschemata, an denen wir uns messen, vorgibt.
Beauvoir verwendet in ihrem Buch, wenn sie vom weiblichen Geschlecht spricht, für gewöhnlich die Wortverbindung ,die Frau‛, also den Singular in Verbindung mit dem bestimmten Artikel. Ich bevorzuge in meinen folgenden Blogposts den Plural möglichst ohne bestimmten Artikel oder den Singular mit dem unbestimmten Artikel, um den Eindruck einer substanziellen Festlegung von Frauen auf eine konkrete Seinsform zu vermeiden.
Ich selbst habe schon sehr früh, ungefähr mit dem Beginn der Pubertät, ein tiefsitzendes Unbehagen angesichts der ungleichen Verteilung des Risikos zwischen Frauen und Männern bei ihren Versuchen, ihre Bedürfnisse auszuleben, in mir gefühlt. Das war einerseits durch die katholische Sexualmoral bedingt, für die alles ,Fleischliche‛ grundsätzlich von Übel war, aber andererseits eben auch von einem basalen Gefühl für Fairneß. In meinen Augen kamen wir Männer einfach zu gut weg bei dem ganzen Schlamassel, was die wechselseitigen, also Frauen und Männer betreffenden Bedürfnisse betrifft. Und ich stand schon immer verständnislos dem Anspruch der Männer auf den Körper der Frauen gegenüber, was das Verbieten von Abtreibungen betrifft.
Beauvoir entfaltet das Drama der ,Weiblichkeit' in allen physiologischen und gesellschaftlichen Details von der ersten Menstruation bis hin zum Klimakterium. Und genau das ist es, was mir bei der Lektüre unter die Haut ging. Ich habe mir eine Anthropologie zurechtgebastelt, die sich an Helmuth Plessners „Körperleib“ orientiert, der das existenzielle Drama zwischen Innen (Leib) und Außen (Körper) ins Zentrum unserer Menschlichkeit stellt. Jetzt bei der Lektüre von Beauvoir erkenne ich, daß Plessner hier nur die simple Physiologie des Mannes beschreibt, die zwar auch auf Frauen zutrifft, dabei aber dem Drama der weiblichen Physiologie mit ihrer weit komplexeren Verschachtelung von Innen- und Außenperspektiven nicht wirklich gerecht wird.
Beauvoir beschreibt äußerst lebendig, wie sehr der weibliche ,Körperleib‛, um bei dem Wort zu bleiben, nicht einfach nur eine einfache Grenzlinie zwischen Innen und Außen markiert, zu denen Frauen und Männer sich Plessner zufolge in ihrer exzentrischen Positionalität perspektivisch neutral verhalten können, sondern daß Frauen mit ihren monatlichen Blutungen zu ihrem eigenen Inneren eine ambivalente Haltung entwickeln: „Ihr physiologisches Schicksal ist sehr komplexer Art; sie selbst erlebt es als etwas, das nicht zu ihr gehört; ihr Körper ist für sie nicht ein klarer Ausdruck ihrer selbst; sie fühlt sich darin entfremdet; das Band, durch das in jedem Individuum das physiologische Leben mit dem psychologischen verknüpft ist, oder besser gesagt, die Beziehung, die zwischen der Faktizität eines Individuums und der Freiheit, die dieses auf sich nimmt, besteht, ist das am schwersten zu lösende Rätsel, das in der Lage des Menschen begründet ist. Bei der Frau aber stellt sich dieses Rätsel auf besonders verwirrende Art.“ (Beauvoir 1987, S.256)
Während einer Menstruation tritt das Innere als Blutung nach außen und wird so für eine Frau als ein ihr fremdes, Schmerzen bereitendes Innere zu etwas Äußerlichem. Und wenn ,in‛ ihr ein Kind heranwächst, befindet sich ein zweites Innen, eine fremde Freiheit, in ihrem Inneren, das für ihre eigene Freiheit eine Belastung und Bedrohung ist. Diese Verschachtelung von Innen und Außen zweier ,Freiheiten‛, wie Beauvoir Schwangere und Ungeborenes nennt, von denen die eine das andere in sich trägt, ist also schon als einfaches physiologisches Datum wesentlich komplexer als die für alle Menschen geltende existenzielle Grenze zwischen Innen und Außen, wie sie Plessner beschreibt, die darin besteht, daß sich ein Wille (Innen) bzw. eine Freiheit an der Welt (Außen) bricht.
Beauvoir beschreibt in ihrem Buch die ganze Entwicklungsgeschichte von Frauen von der Geburt bis zum Alter, Kindheit, Pubertät (Jugend), Ehe, Mutterschaft, Klimakterium und die danach folgende späte Freiheit bis zum Alter. Ihr Leben ist ein einziger, ununterbrochener Kampf um ihre Freiheit, also gegen die Zumutungen, mit denen sie Biologie (Gattung) und Gesellschaft (Männer) konfrontieren. Ihr Buch beinhaltet keine systematische Entfaltung des Begriffs ,anderes Geschlecht‛, sondern bietet eine umfassende, detaillierte Materialsammlung zur Biologie (was die Biologie der Fortpflanzung betrifft zum Teil veraltet), Soziologie, Mythologie und Psychologie von Frauen und erstreckt sich damit über die drei fundamentalen Entwicklungsebenen der Biologie, der Kultur und der Individualität, die zusammen einen Menschen ausmachen.
Dieses von Beauvoir zusammengetragene Material aus den verschiedenen Wissensgebieten wird grundiert von einer existenzialistischen Begrifflichkeit, kombiniert mit einer Phänomenologie des weiblichen Bewußtseins in verschiedenen ontogenetischen Stadien von der Geburt bis zum Alter. Die existenzialistische Begrifflichkeit bleibt im Hintergrund von Beauvoirs Darlegungen und wechselt nur gelegentlich in den Vordergrund, um den Fortgang der Gedankenentwicklung zu orientieren. Beauvoirs Hauptinteresse besteht in der Aufklärung einer gleichermaßen drängenden wie problematischen Emanzipationspraxis, die immer wieder am patriarchalen status quo zu scheitern droht.
Ich schreibe hier, das will ich ausdrücklich festhalten, keine Rezension zu Beauvoirs Buch, sondern kommentiere es bloß. In meinen Kommentaren leugne ich meine heterosexuelle Orientierung nicht, strebe aber darüber hinaus eine universelle menschliche Perspektive an.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen