„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Dienstag, 11. Februar 2025

Kommentare zu „Das andere Geschlecht“

1. Zur Grenze zwischen Innen und Außen
2. Zweiheit des Bewußtseins
3. Biologie und Sinn
4. Töten und Gebären
5. Eine Erinnerung
6. Immanenz und Transzendenz

Ich erinnere mich an entfernte Verwandte ‒ so entfernt daß ich mich nicht mal mehr an ihre Namen erinnere ‒, die unsere Familie zwei- oder dreimal besuchten. Einmal müssen auch meine Schwester und ich bei ihnen zu Besuch gewesen sein, irgendwann in den frühen 1970ern, irgendwo im Paderborner Land, denn von diesem Besuch stammt meine vage Erinnerung. Ich muß älter als zehn gewesen sein, in der Pubertät, glaube ich, und unser Onkel lud uns zu einer Segelfahrt ein. Er besaß ein Segelboot und eine Familie, insbesondere besaß er zwei Söhne, denn an die erinnere ich mich genauer, weil sie im Vordergrund neben dem Sessel standen, in dem er saß. Im Hintergrund stand seine Frau, und ich glaube, auch ein Mädchen. Auf seine Familie war er wohl genauso stolz wie auf sein Segelboot.

So habe ich ihn und die Familie in Erinnerung. Sie war wie sein Segelboot sein Eigentum: die im schattigen Hintergrund stehende Ehefrau und Mutter, die kleine Tochter und vor allem die beiden Söhne, die sich im Abglanz ihres Vaters sonnten. Was mich betroffen machte, so daß ich diesen Anblick noch heute erinnere, wenn ich auch sonst alles vergessen habe, war diese Frau. Wo das Gesicht ihres Mannes vor Stolz und Glück wie eine Sonne strahlte, zeigte ihr Gesicht keinerlei Gefühlsregung, nur Resignation. Ungeachtet meiner Jugend, fast noch ein Kind, fühlte ich diese Resignation, die von ihr ausging, denn ich fand sie schön, und ich erschrak vor dem Kontrast zum aufdringlichen Stolz ihres Mannes.

Dieser Anblick erfüllte mich mit Unbehagen. Ich sah in gewisser Weise eine mögliche Zukunft vor mir, eine Zukunft als Ehemann. Über solche Dinge begann ich mir damals zunehmend Gedanken zu machen. Ohne genau zu wissen, was es damit auf sich hatte, stellte die Vorstellung, zu heiraten, und alles was damit zusammenhing, für mich eine Überforderung dar. Der Anblick meines Onkels und seiner Familie ließ mich nun befürchten, daß ich auch mal in so einem Sessel sitzen würde und daß um mich herum Gespenster gruppiert sein würden, und ich würde von einer geheimnisvollen Lähmung befallen sein und könnte nicht weglaufen.

Das war alles nicht besonders reflektiert. Es war vor allem ein ungewisses, aber tief empfundenes Unbehagen. So tief ich für diese schöne Frau mitempfand, ekelte ich mich doch vor ihrem Schicksal, vor dem Schicksal dieser Familie, und ich wollte nicht, daß es auch meines sein würde.

***

Beauvoir bezeichnet diese Ehe als phallisch, als eine Beziehungsform, in der sich zwei „mit Körper und Seele schenken (müssen)“: „Ist diese Gabe vollzogen, so müssen sie sich für immer treu bleiben. ... Nach der Vielfalt kann man nur suchen, wenn man sich für die Eigenart der Wesen interessiert: aber die phallische Ehe ist in der Allgemeinheit begründet. Ist der männlich-weibliche Stromkreis einmal hergestellt, so kann es keinen Wunsch nach Wechsel geben: dieser Kreis ist vollkommen in sich geschlossen, definitiv.“ (Beauvoir 1987, S.221f.)

In diesem Zitat streift eine Nebenbemerkung das, was inmitten dieses zwangsheterosexuellen Desasters eigentlich das Glück bedeuten würde, wenn man den Zweien eine Chance gäbe: „Nach der Vielfalt kann man nur suchen, wenn man sich für die Eigenart der Wesen interessiert(.)“ ‒ Für diese Chance stände die freie Wechselseitigkeit von Ich und Du.

Aus all den Dramen, in die die Subjekte auf der Suche nach dem Anderen geraten, in der Natur, die sie ausbeuten, plündern und vernichten, oder unter ihresgleichen, die sie sich als Sklaven gefügig machen, um sie für ihre Zwecke zu verdinglichen, kann sie nur eines befreien: eine Beziehungsform radikal anderer Art, als sie die Bewußtseinsspaltung in Selbst und Anderes nahelegt. Eine solche Beziehungsform, eine freie Wechselseitigkeit unter Gleichen, deutet Beauvoir in folgendem Zitat an: „Das Drama kann durch das freie Sicherkennen jedes Individuums im anderen überwunden werden, wobei jeder zugleich sich und den anderen als Objekt und Subjekt setzt in einem wechselseitigen Akt.“ (Beauvoir 1987, S.152)

Aber im Zuge der weiteren Ausführung dieses erfreulichen Gedankens läßt Beauvoir alsbald die Ernüchterung folgen: diese Wechselseitigkeit befreit nur die Männer aus der Falle der Subjekt/Objekt-Aporie. Frauen spielen hier wieder nur eine Rolle, als Zwischenglied zwischen Natur und Mensch oder zwischen Sklaven und Freien: „Sie (die Frau ‒ DZ) setzt ihm weder das feindliche Schweigen der Natur noch die harte Forderung des wechselseitigen Sich-Ineinander-Erkennens entgegen; durch ein einzigartiges Privileg ist sie ein Bewußtsein, und dennoch scheint es möglich, sie in ihrem Körper sich zu eigen zu machen. Dank ihr gibt es ein Mittel, der unerbittlichen Dialektik des Herrn und des Sklaven zu entgehen, die an der Wurzel jeder Wechselseitigkeit zwischen Freiheiten liegt.“ (Beauvoir 1987, S.153)

Frauen sind gewissermaßen Beinahe-Gleiche, mit eigenem Bewußtsein, aber eben keine Männer, die sich nicht so einfach für eine Wechselseitigkeit hergeben würden, in der einer von Zweien nicht bereit wäre, alles zu geben; sich preiszugeben. Mit Frauen aber meinen Männer so umgehen zu können und so der unerbittlichen Dialektik des Herrn und des Sklaven entgehen zu können.

Wie also kann ich vor mir selbst sicherstellen, daß es mir mit Ich = Du nicht genau um diese Flucht aus dieser unerbittlichen Dialektik geht? Einerseits ehrenvoll, aber zugleich auch verdächtig?

***

Von den fünf Männern, deren Frauenbilder Beauvoir in ihrem Buch analysiert (vgl. Beauvoir 1987, S.205ff.), Montherland, Lawrence, Claudel, Breton und Stendhal, finde ich mich am ehesten in Stendhal (vgl. Beauvoir 1987, S.240ff.) wieder:
„Was Stendhal anbelangt, so haben wir gesehen, daß die Frau bei ihm kaum je einen mythischen Wert bekommt: er betrachtet auch sie als eine Transzendenz; für diesen Humanisten erfüllen die Freiheiten sich in ihrer wechselseitigen Beziehung; es genügt ihm, daß das Andere einfach ein Anderes sei, damit das Leben für ihn ,eine belebende Würze‛ enthält; er sucht nicht ,ein sternenhaftes Gleichgewicht‛, und er nährt sich nicht von dem Brote des Abscheus. Er erwartet sich kein Wunder; er will nicht mit dem Kosmos oder der Poesie zu tun haben, sondern mit freien Wesen. ... (251) ... Stendhal () koinzidiert in aller Ruhe mit sich selbst; aber er braucht die Frau ebenso wie sie ihn, damit seine zerstreute Existenz sich sammle in der Einheit einer Gestalt und eines Geschickes; nur durch einen anderen gleichsam dringt der Mensch zu seinem eigenen Sein vor; dazu ist aber auch noch notwendig, daß ein anderer ihm sein Bewußtsein leihe: die andern Männer stehen einem der ihren zu gleichgültig gegenüber; nur die liebende Frau öffnet ihr Herz dem Geliebten und nimmt ihn ganz und gar darin auf.“ (Beauvoir 1987, S.250f.)
Zwar koinzidiert Stendhal angeblich mit sich selbst, wie Beauvoir schreibt, aber dann braucht auch er eben doch das andere Bewußtsein, eine Frau, um zu seiner Gestalt zu finden. Es bleibt in aller angestrebten Wechselseitigkeit ein Mangel und das daraus resultierende Begehren. Alles das denke ich mit, wenn ich von Ich = Du spreche und dabei einerseits daran festhalte, daß beide in dieser Zweiheit schon ein Ich für sich sind (wenn sie auch nicht mit sich koinzidieren), aber andererseits dennoch der Ansprache als Du bedürfen, um Ich sein zu können.

Damit hoffe ich, von Beauvoirs Kritik an Stendhal nicht betroffen zu sein, die über die fünf Männer schreibt: „Aber das einzige menschliche Geschick, das der Ebenbürtigen, der Kindfrau, der Schwesterseele, der Geschlechtsfrau, dem Weibchen vorbehalten ist, ist immer nur der Mann. Wie auch das Ego beschaffen sein mag, das sich in ihr offenbart finden will, nie kann es zu sich selber gelangen, als wenn sie bereit ist, der Schmelztiegel seiner Substanz zu sein. In jedem Falle verlangt man von ihr selbstvergessene Liebe.“ (Beauvoir 1987, S.252)

Ich ist also Ich nicht erst in der Begegnung mit ihr oder ihm als Du. Ich ist es schon zuvor. Aber eben nicht als Mitte; nicht als Immanenz, sondern als Mangel. Aus dem heraus, was ihm fehlt, verlangt dieses Ich nach Transzendenz, nicht als Erfüllung, sondern als Beieinander. Nicht als Durchdringung, sondern als Nähe. Wo ihm diese Nähe versagt bleibt, wird es sich Ersatz suchen. Das können wir von Freud lernen. Projektionen, Phantasmen können die Illusion von Erfüllung vorgaukeln, als Ersatz für Nähe. In Ich = Du finden wir Gestalt und Sammlung. Als zwei Zentren einer Ellipse.

Ich mag dieses Wort. Es drückt eine Unvollkommenheit aus, sowohl geometrisch als unvollkommener Kreis wie auch stilistisch als unvollendete Ausdrucksform. Anders formuliert: die Ellipse drückt eine Nähe zu dem aus, was ihr fehlt.

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