„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Sonntag, 14. April 2024

„Die Leere ist das Selbst.“

1. Prolog
2. Atheismus und Humanismus
3. Religion
4. Die Kreismetapher
5. Die Bürde
6. Paradoxe Argumente? ‒ Zur Methode
7. Dualität
8. Die letzte große Umkehr
9. „Selbstentleerung“

Nishitanis Buch „Was ist Religion?“ (2/1986) enthält nach meiner Zählung fünf Bestimmungen von Religion: Nishitanis Titelfrage beinhaltet zunächst die Frage nach dem Sinn unseres Lebens. Damit haben wir es mit einem zutiefst menschlichen Bedürfnis zu tun. (Vgl. Nishitani 1986, S.40f.) Das Sinnbedürfnis ist etwas so Grundlegendes für alle Menschen, daß Religion, so Nishitani, gerade für diejenigen, die Religion nicht für notwendig halten, besonders notwendig ist. Wenn man denn wie er davon ausgeht, daß nur Religionen darauf eine Antwort geben können.

Eine zweite Bestimmung besteht Nishitani zufolge darin, daß Religion mit „Furcht und Zittern“ verbunden ist. (Vgl. Nishitani 1986, S.95) Gottes Autorität ist so überwältigend, daß nur die völlige Unterwerfung angemessen ist. Immanuel Kant bezeichnet eine solche Religion, die die Gläubigen in Furcht und Zittern versetzt und ihre völlige Unterwerfung verlangt, als „Afterdienst“. (Vgl. Werke in sechs Bänden, Bd.IV: S.838ff.)

Gerade was diese zweite Bestimmung betrifft, erinnert mich Nishitanis Auseinandersetzung mit dem Christentum letztlich auch an eine Apologie. In dieser Apologie blendet er die historischen Gestalten des Christentums, den Katholizismus, den Protestantismus und andere Reformkirchen, weitgehend aus und befaßt sich nur mit der christlichen Botschaft im engeren Sinn, wobei sein wichtigster Bezugspunkt die christliche Mystik und da wiederum vor allem Meister Eckart ist. Auch hier sind es u.a. Gottesfurcht und Unterwerfung, die Nishitani fokussiert.

Nur einmal kommt Nishitani auch auf die Inquisition und die Kreuzfahrten zu sprechen, die er als Ignoranz des Christentums gegenüber anderen, nicht-christlichen ,Wahrheiten‛ verurteilt. (Vgl. Nishitani 1986, S.319) Aber die Institution Kirche selbst mit ihren hierarchischen Strukturen wird auch hier nur am Rande thematisiert. Stattdessen lobt er wieder die Unterwerfung der christlichen Gläubigen unter autoritäre Instanzen wie Klerus und Gott. Eine Problematisierung der kirchlichen Institutionen bleibt aus.

Drittens erklärt Nishitani die Religion für alleinzuständig für Letztbegründungen. Deshalb akzeptiert Nishitani auch Nietzsches Atheismus, weil er bei ihm noch ein religiöses Bedürfnis zu erkennen glaubt. Solange Gott mit im Spiel bleibt, dürfen sogar ,Atheisten‛ sich an Letztbegründungen versuchen.

Dennoch sind es Nishitani zufolge vor allem die „überlieferten Religionen“, die für Letztbegründungen auf der „,anderen‛ Seite“ zuständig sind, also jenseits von Bewußtsein und „nihilum“. Nishitani setzt an dieser Stelle Letztbegründungsautoritäten wie „Gott“ und „Buddha“ einander gleich. Auf die andere Seite gelangen wir nicht durch Vernunft oder Denken, sondern durch einen „Sprung“. (Vgl. Nishitani 1986, S.351)

Zwar unterscheidet Nishitani an dieser Stelle zwischen einer „qualitativen“ Dialektik des Sprungs und einer spekulativen Dialektik im Hegelschen Sinne, aber gerade in der Unbegründbarkeit dieses qualitativen Sprungs haben wir es dann doch wieder mit einer Letztbegründung zu tun. Denn es macht keinen Unterschied, ob der „fundamentale Umschlag vom Großen Tod ins Große Leben“ (vgl. Nishitani 1986, S.351) spekulativ-logisch wie bei Hegel geschlußfolgert wird oder ob wir ihn als einen qualitativen Sprung über einen Abgrund hinweg erleben. Zwar haben wir es beim ersteren mit einem Triumph der Vernunft und beim anderen mit einer Niederlage des Verstandes zu tun, aber das Ergebnis ist dasselbe: eine Transzendierung bzw. mit Nietzsche ,Überwindung‛ des Menschen und seines Verstandes. (Vgl. Nishitani 1986, S.352)

Viertens verbindet Nishitani mit dem christlichen Gottesbegriff eine Personalisierung der Geschichte. Nishitani führt den abendländischen Begriff der Geschichte als linearen Prozeß auf die Auffassung des Menschen als Person zurück, also als ein mit einem Willen ausgestattetes Selbst. Dieser Wille wird auf Gottes Willen projiziert, so daß noch in der damit verbundenen „Selbstverneinung“, also der Unterwerfung des eigenen Willens unter Gott, der „Egozentrismus“ des menschlichen Bewußtseins zum Ausdruck kommt (vgl. Nishitani 1986, S.313): „,Geschichte‛ hängt wesentlich mit der Tatsache zusammen, daß ein hier als egozentrisch bezeichnetes Selbst aus sich selbst heraus als Persönlichkeit am Werke ist (wie immer man diesen Begriff auch erklären mag) ...“ (Nishitani 1986, S.312)

Dabei ist diese Geschichtsauffassung notwendigerweise mit einem „Sündenbewußtsein“ verbunden (vgl. Nishitani 1986, S.316), weil der Unterwerfung unter den Willen Gottes eine Auflehnung des Menschen gegen Gott vorausging. Wir haben es also mit einer von Anfang an auf Katastrophen (Weltuntergänge) angelegten Geschichtsauffassung zu tun. Dem linearen Anfang der Geschichte, dem Schöpfungsmythos, muß auch ein lineares Ende der Geschichte, ein Weltuntergang, entsprechen.

Eine solche Geschichtsauffassung ist Nishitani zufolge notwendigerweise intolerant gegenüber Wahrheitsansprüchen anderer Religionen: „Intoleranz ist die notwendige Folge.“ (Nishitani 1986, S.318)

An dieser Stelle schreibt Nishitani nicht mehr nur über die christliche Religion, sondern er fokussiert jetzt auch deren historische Gestalt als Kirche: „Ketzerverfolgung, Inquisition und Religionskriege ... in der Geschichte des Buddhismus gibt es dazu nahezu keine Entsprechung.“ (Nishitani 1986, S.319) ‒ Endlich spricht Nishitani unverblümt sein Urteil über das Christentum als Kirche, und ich stimme ihm zu:
„Gewiß war die Entstehung des historischen Bewußtseins ein epochales Ereignis; und doch scheint mir dieses Bewußtsein auch weiterhin fragwürdig zu sein, als es nur in Zusammenhang mit der oben erwähnten Form von Eschatologie und mit der oben erwähnten Vorstellung vom Ende der Geschichte zustande kam. Hinzukommt, daß dieser Umstand mit der christlichen Auffassung vom Ursprung der Geschichte in der ,ersten Sünde‛ zusammenhängt.“ (Nishitani 1986, S.320)
Als fünftes Merkmal von Religion führt Nishitani die göttliche bzw. religiöse Liebe auf, die natürlich etwas anderes ist als die menschliche Liebe:
„Religiöse Liebe ist indes die absolute Selbstverneinung, restloses Aufgehen des Selbst als solches. In diesem Sinn ist sie grundlegend verschieden von der Moralität der Person, einem Standpunkt, wo das Selbst noch das eigentliche ,Selbst‛ beibehält.“ (Nishitani 1986, S.409)
Wenn ich so etwas lese, gibt es einen zutiefst christlich geprägten Teil in mir, der dem Zitat uneingeschränkt zustimmen will. Dann aber meldet sich ein anderer Teil in mir zu Wort, den ich jetzt mal mein Mißbrauchsbewußtsein nennen will und der mir all die Fälle vor Augen führt, in denen genau mit dieser Bewußtseinshaltung zahllose Menschen einer kirchlichen Hierarchie unterworfen wurden, der die individuellen Menschenrechte herzlich egal waren. Deren oberstes Leitprinzip darin bestand, die Menschen zu entmündigen und in der Unmündigkeit zu halten. Und in denen all die sexuellen Übergriffe von Klerikern gedeckt und sogar gerechtfertigt wurden. Womit gerechtfertigt wurden? Mit Behauptungen wie in dem Zitat.

Denn was die menschliche Liebe betrifft, die immer auch mit ,Fleisch‛ und Begehren gleichgesetzt wird, und beides ist natürlich immer etwas Schlechtes und sogar Böses, haben wir es mit eben dem Egozentrismus zu tun, der auch schon unter der vierten Bestimmung von Religion als Geschichte mit der Ursünde von Adam und Eva gleichgesetzt wurde. Diese menschliche Liebe macht einen Unterschied; sie trifft eine Wahl; die göttliche bzw. religiöse Liebe hingegen nicht. Letztere ist dem individuellen Menschen gegenüber gleichgültig. Sie ist, wie es in dem obigen Zitat heißt, „grundlegend verschieden“ von einem Standpunkt, „wo das Selbst noch das eigentliche ,Selbst‛ beibehält“.

Wenn Nishitani dann wieder die oben zitierte Textstelle noch auf derselben Seite relativiert und auch dem Personstandpunkt Gerechtigkeit widerfahren läßt: „... nur wenn das Selbst in sich einen Bereich erschließt, wo es auch andere als Personen anerkennt, kann es selbst an diesem Ort als Person bestehen. Der Standpunkt der ,Person‛ enthält notwendig diesen Wechselbezug.“ (Nishitani 1986, S.409) ‒ fehlt dieser Relativierung jede emanzipatorische Konsequenz. Denn erstens ist dieser Personstandpunkt keine religiöse Liebe und schon deshalb weniger wert, und zweitens entscheidet nicht die Person darüber, wann welcher der beiden Standpunkte, die religiöse Liebe oder der Personstandpunkt, zum Zug kommen soll. Darüber entscheidet immer der Klerus oder der Guru. Der eigene Verstand spielt keine Rolle.

(Wenn man aber genauer hinsieht, wird hier gar nicht der Personstandpunkt im Sinne des Standpunkts eines Selbst wieder rehabilitiert, sondern es ist, und hier wird es paradox, eine Person ohne Selbst gemeint; eine Person, die auf ihr Selbst verzichtet, um im „Wechselbezug“ die andere Person zu sein. Dazu mehr in meinem Blogpost zur Dualität.)

Eine religiöse Liebe, die den individuellen Personen gegenüber nicht einfach nur gleichgültig ist, sondern deren Liebesfähigkeit in der Fülle ihrer Menschlichkeit als sündhaft diffamiert, begründete einen jahrtausendelangen, institutionell verankerten Mißbrauch und verlängert ihn in eine Zukunft hinein, in der solchen Institutionen weiterhin gesellschaftliche Macht eingeräumt wird. Und dieser Mißbrauch wendet sich gleichermaßen gegen die individuelle Verstandesautonomie wie gegen das individuelle Begehrungsvermögen.

Ich fasse also zusammen: drei von fünf Bestimmungen laufen auf eine Überwindung des Menschen qua Unterwerfung unter eine göttliche Autorität hinaus. Zentrale Merkmale dieser Unterwerfung sind Unterdrückung der individuellen Urteilskraft und Dämonisierung der menschlichen Sinnlichkeit. Das macht auch die zwei Religionsbestimmungen, denen ich zustimmen könnte, fragwürdig. Das Bedürfnis nach Sinn wird nicht als Notwendigkeit des Menschen, sein Leben zu führen, verstanden, sondern Sinn soll als autoritäre Geste erleuchteter Persönlichkeiten: Heilige, Kleriker und ,Meister‛ vermittelt werden.

Zwar enthält die vierte Bestimmung, die christlich-abendländische Geschichtsauffassung, eine gewisse Kritik an autoritären Strukturen, aber nicht als Kritik gegen Autoritäten als solche, sondern nur als Kritik am Anspruch der christlichen Kirchen, im Alleinbesitz der Wahrheit zu sein.

Angesichts dieses vorläufigen Fazits frage ich mich, wieso sich Nishitani vor allem für Bestimmungen interessiert, in denen es um Unterwerfung und Autorität geht, wie sie mich insbesondere an den hierarchisch organisierten, zutiefst römisch-katholischen Katholizismus erinnern, und was das über den Buddhismus aussagt, dem er sich zugehörig fühlt.

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