„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Donnerstag, 18. April 2024

„Die Leere ist das Selbst.“

1. Prolog
2. Atheismus und Humanismus
3. Religion
4. Die Kreismetapher
5. Die Bürde
6. Paradoxe Argumente? ‒ Zur Methode
7. Dualität
8. Die letzte große Umkehr
9. „Selbstentleerung“

Als ich das erste Mal in Keiji Nishitanis Buch „Was ist Religion?“ (1986) auf den Begriff der „Dualität“ stieß, dachte ich zunächst, es handele sich um eine Version der Zweitpersonalität, also um eine besondere Dimension des Sozialen, die ich mit der Formel Ich = Du zusammenfasse. Zu diesem Eindruck trug auch folgendes Zitat bei:
„Da wir gewöhnlich in der Weise des bewußten Selbst-Seins existieren, halten wir uns selbst und den anderen als ,Menschen‛ für absolut getrennte Existenzen. Auf der Ebene aber, die unmittelbarer ist als die des personalen Selbstseins, sind das Selbst und der Andere, wiewohl als ,Personen‛ absolut geschieden, in dieser Dualität zugleich absolut nicht-dual in ihrer Impersonalität.“ (Nishitani 1986, S.139)
Ich interpretierte die absolute Geschiedenheit zweier Personen, von der in diesem Zitat die Rede ist, als Bestätigung der Einzigkeit des Ich, wenn es Ich sagt, bei gleichzeitiger Anerkennung der Einzigkeit des Ich seines Mitmenschen, zu dem es Du sagt. Dann gehörte zur Einzigkeit des Ich untrennbar die Gleichheit des wechselseitigen Du, und beides wäre in gewisser Weise tatsächlich nicht-dual und transpersonal.

Aber transpersonal ist eben nicht impersonal. Mit meiner Formel vom Ich = Du hat Nishitanis Begriff der Dualität nicht das geringste zu tun. Ihm geht es nicht um eine Gleichheit zwischen Ich und Du in ihrer Verschiedenheit, sondern um die nicht-duale Identität unzähliger impersonaler non-ego-Zentren im Feld der Leere. Hier haben wir es mit einer Gleichheit jenseits des subjektiven Bewußtseins zu tun. Weder Ich noch Du spielen hier eine Rolle. Wenn bei Nishitani von „Dualität“ die Rede ist, ist vor allem die Spaltung zwischen „Subjekt und Objekt“ gemeint. (Vgl. Nishitani 1986, S.202; vgl. auch S.177, 184) Nishitani stellt sich deshalb das Ding bzw. das Objekt nicht als Du vor, sondern als das „Andere“, das im Feld der Leere „selbst-identisch“ mit dem Selbst ist. Nishitani geht es vor allem um Seinsweisen und nicht um (soziale) Beziehungsformen.

Besonders deutlich wird das am Begriff der „Nicht-Zweiheit-von-Selbst-und-Anderem“. (Vgl. Nishitani 1986, S.393) So verweist Nishitani z.B. auf das Prisma, das das Licht in seine verschiedenen Farben zerbricht. Das Licht ist das Selbst und die Farben sind das Andere. Das Licht und die Farben sind gleichzeitig „absolut geschieden und absolut vereint oder vielmehr: absolut selbst-identisch“: „Sie sind absolut zwei und zugleich absolut eins.“ (Nishitani 1986, S.177)

Wir haben es hier also nicht etwa mit einer sozialen Beziehungsform, mit einer Zweitpersonalität, zu tun, sondern die Zweiheit spielt auf die bewußtseinsstiftende Spaltung zwischen Subjekt und Objekt an, und die Nicht-Zweiheit meint die Aufhebung dieser Spaltung im Feld der Leere, wenn die Farben sich ,versammeln‛ und sich wieder zum Licht zusammenfügen, als Identität von Subjekt und Objekt. An die Stelle der cartesianischen Spaltung von ego und non-ego tritt „das absolute selbst-identische ,Eins‛, das so, wie es ist, das absolute ,Zwei‛ ist.“ (Nishitani 1986, S.184)

Vor diesem Hintergrund wird auch deutlich, inwiefern im Feld der Leere „alle Dinge herbeieilen und das Selbst praktizieren“. (Vgl. Nishitani 1986, S.184) In dem Feld, in dem die Subjekt-Objekt-Spaltung aufgehoben wird, kommt es zu einer „wechselseitige(n) Durchdringung“ des Selbst mit allem, in dem Sinne, in dem Nishitani an anderer Stelle von der „Indifferenz der Liebe“ spricht. (Vgl. Nishitani 1986, S.116) Denn wo die Differenz von Subjekt und Objekt aufgelöst wird, wird überhaupt nicht mehr unterschieden: alles Eins und selbst-identisch.

Letztlich bezieht Nishitani die Religion auf eine Dimension jenseits des Sozialen. Eigentlich fokussiert er vor allem das Selbst als Identität mit sich selbst und allem anderen. Die Beziehungen zwischen den Menschen werden so sehr auf ein Weltganzes, ein Welt-All hin überschritten, daß diese Welt nicht nur kein Korrelatbegriff des menschlichen Bewußtseins mehr ist, sondern auch der Mensch selbst, als Mensch, wird überwunden. Er wird überwunden, indem er entgrenzt wird, so wie es in der Kreismetapher keine Kreislinie mehr gibt, sondern nur noch unendlich viele Zentren.

Eine seltsame ,Sammlung‛ ist das, diese im Feld der Leere, im Welt-Raum zerstreuten Zentren. Ich frage mich, ob das Feld der ,Leere‛ genau das meint: eine leere, wüste Einöde.

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