„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Samstag, 20. April 2024

„Die Leere ist das Selbst.“

1. Prolog
2. Atheismus und Humanismus
3. Religion
4. Die Kreismetapher
5. Die Bürde
6. Paradoxe Argumente? ‒ Zur Methode
7. Dualität
8. Die letzte große Umkehr
9. „Selbstentleerung“

Als Titel dieser neunteiligen Blogpostreihe habe ich ein Zitat aus Nishitanis Buch „Was ist Religion?“ (1980/1982/(2)1986) genommen. Vollständig lautet das Zitat: „Nicht das Selbst ist leer, sondern die Leere ist das Selbst(.)“ (Nishitani 1986, S.225)

Dieser Satz leuchtet mir unmittelbar ein, ohne daß ich etwas von Nishitanis begleitenden Erläuterungen verstehen müßte. Auch wenn ich mich nur auf dem Feld des Bewußtseins befinde und nicht auf dem von „sunyata“ (Leere), fern von jeder Erleuchtung, kann ich mit diesem Satz doch etwas anfangen. Allerdings liegt meinem Verständnis vom Selbst als Leere eine andere Anschauung zugrunde. Für mich hängt diese Leere mit dem Begriff der Lebenswelt zusammen, die sich zu einem individuellen Selbstbewußtsein verbesondern, aber auch zu einem Massenbewußtsein ausufern kann. Von dieser Lebenswelt umfaßt befindet sich das Bewußtsein in seinem eigenen Feld in der Leere. Deshalb ist die Lebenswelt, wie ich sie verstehe, auch eher der Raum der Sinnunbedürftigkeit als des Sinns. Vielleicht ist diese lebensweltliche Erfahrungs- und Anschauungsform kompatibel mit dem, was im folgendem Satz gemeint ist: „Das nihilum kann nur existentiell gewußt werden.“ (Nishitani 1986, S.274)

So wie mir geht es vermutlich vielen Menschen meines Kulturkreises. Auch sie sind offen für Aussagen, die im Rahmen ihrer lebensweltlichen Erfahrungen ,Sinn‛ machen, mit denen aber eigentlich ganz etwas anderes gemeint ist. Etwas, das in einem Kulturkreis Sinn macht, wie ihn Nishitani repräsentiert. Diese Anfälligkeit für die Sinngehalte kurzer, prägnanter Lehrsätze öffnet Scharlatanen und Verbrechern Tür und Tor für den Mißbrauch an der sich ihnen anvertrauenden Klientel.

Und diesen Mißbrauch hat es nicht nur in der katholischen Kirche gegeben und gibt es ihn dort auch noch, sondern es gab und gibt ihn auch im Buddhismus. Und er geht von denselben Autoritäten aus: hier vom Klerus, dort von den ,Meistern‛ und Gurus.

In „Missbrauch und Buddhismus: Hinter der lächelnden Fassade“ (o.J.: https://info-buddhismus.de/Missbrauch-und-Buddhismus_Anna-Sawerthal.html) zitiert die Autorin Fatma Altzwinger, Psychotherapeutin und Ansprechperson für sexuelle Gewalt der ÖBR (Österreichische Buddhistische Religionsgesellschaft)):
„Es ist eine Selbstentleerung. In der Massenpsychologie wird das als starke Identifizierung mit dem Führer erklärt. Alles, was er will und macht, ist gut. Dann ist es nicht möglich, sich gegen ihn zu wehren.“
Bei dem Wort „Selbstentleerung“ horche ich auf. Auch Nishitani verwendet dieses Wort, um Praktiken im „Feld der Leere“ zu beschreiben. (Vgl. Nishitani, 1986, S.170u.ö.) Dabei wird aber nirgends erklärt, wovon genau sich das Feld der Leere entleert, es sei denn vom Selbst? Ich bin aus dem Begriff bis zum Schluß nicht wirklich schlau geworden.

Wenn man bei der Selbstentleerung an den Begriff der „ewigen Wiederkehr“ (Nietzsche) denkt, an die Kette der Wiedergeburten, dann liegt ihr Nishitani zufolge die Struktur der menschlichen Bedürfnisse und des Begehrungsvermögens zugrunde. (Vgl. Nishitani, S.356f.) Er bezeichnet das auch als unendliche Endlichkeit. Sich von diesen Bedürfnissen frei zu machen könnte vielleicht als Selbstentleerung bezeichnet werden. In diesem Sinne fordert Nishitani eine letzte große Umkehr, die sich von der „säkularen“, „endlos ungerichtete(n) Erregbarkeit“, also von allen unseren Bedürfnissen und Begehrungen, abwendet. (Vgl. Nishitani 1986, S.356)

Aber die eigentliche Crux bei der ewigen Wiederkehr ist nicht die sich stetig erneuernde Bedürftigkeit selbst, sondern ihre Ablehnung als sündhaft. Ewig wiederkehrend, in Ost und West, in Süd und Nord, ist die Unterdrückung unserer Gefühle und unseres Begehrungsvermögens.

Wenn dann noch die „Liebe“ als eine höchste Form von „Erleuchtung“, als „Buddha“ selbst proklamiert wird, dann ist die Rückfrage unvermeidbar, inwiefern denn die Liebe kein „unendlicher Impuls“ (Nishitani 1986, S.356) ist? Inwiefern, frage ich mich, hat die Liebe als Erleuchtung nichts mit unserem Begehrungsvermögens zu tun? Inwiefern ist eine nichts begehrende Liebe eine bessere Liebe als eine Liebe, die begehrt?

In unseren ambivalenten Vorstellungen von Begehren und Liebe liegt der Grund dafür, daß es auch im Buddhismus mißbrauchte Liebe gibt. Die Hingabe von Frauen und Männern an ihre ,Meister‛ und Gurus führt oft von Seiten der unhinterfragten Autoritäten zu einem krassen Vertrauensbruch, in dem sie ihre eigenen, bei anderen verteufelten, Bedürfnisse auf Kosten ihrer Klientel befriedigen.

Auf der Suche nach Orientierung und Unterstützung können sich diese Menschen nicht einmal auf so beeindruckende Persönlichkeiten wie den Dalai Lama verlassen, der den von Mißbrauchsvorwürfen schwer belasteten Lama Ogyen Kunzang Dorje (Robert S.) durch einen Besuch in dessem Zentrum in Brüssel ehrte:
„Verschiedene tibetische Lehrer brachten ihm Legitimation, indem sie OKC besuchten – bis heute. 1990 kam der Dalai Lama ins Zentrum in Brüssel. Seit 1991 war OKC unter der spirituellen Leitung von Shechen Rabjam und Pema Wangyal, zwei wichtigen Lehrern. Damals gab es schon etliche Opfer sexueller Gewalt.“
Wenn Anna Sawerthal, die Autorin von „Missbrauch und Buddhismus“, schreibt: „Grundsätzlich wird das Ego als Hauptquelle allen Leidens im Buddhismus identifiziert. Wenn man Erleuchtung erlangen will, muss man die Egozentriertheit aufgeben. Das heißt nicht, dass man den Verstand ausschalten soll. Man soll ihn viel eher dazu benutzen, um die Flüchtigkeit und Bestandslosigkeit der Dinge zu verstehen.“ ‒ dann geht das am eigentlichen Problem vorbei. Denn mit dem Begriff „Egozentriertheit“ werden so verschiedene Phänomene wie Verstandesautonomie, Bedürftigkeit und Begehrungsvermögen zu einem einzigen unterschiedslosen Brei zusammengerührt, den dann der jeweilige Guru ganz nach seinem Belieben seinen Anhängern einflößen kann. Diesen Gurus geht es eben genau darum, zu ihrem eigenen Vorteil den Verstand ihrer Klientel auszuschalten. Und das Bedenkliche daran ist, daß sie dabei ohne Probleme auf zentrale buddhistische Formeln zurückgreifen können, weil es in diesen Formeln genau darum geht: Praktiken zu legitimieren, die den individuellen Verstand ausschalten.

Tatsächlich treibt auch Nishitani der Liebe ganz im christlich-buddhistischen Sinne jeden Anschein von Begehrlichkeit aus. (Vgl. Nishitani 1986, S.116f.) Anstatt zuzulassen, daß unser Begehrungsvermögen eine Differenz setzt, was subjektiv als begehrenswert erscheint und was nicht, im Sinne eines Willensakts, präferiert Nishitani die göttliche Dimension der „Indifferenz“. Göttliche Liebe markiert keinen Unterschied. Für sie ist alles gleich. (Vgl. Nishitani 1986, S.116) An dieser göttlichen Liebe soll sich der Mensch ein Beispiel nehmen. Denn menschliche Liebe ist bloß egozentrisch; eben weil sie einen Unterschied macht.

An dieser Stelle setzt seit Jahrtausenden das Patriarchat an: als ewige Wiederkehr des Mißbrauchs durch Unterdrückung des Begehrungsvermögens. Wer so vom Menschen denkt, als sündhaft begehrendes Ego, will ihn überwinden. Der Mensch soll kein Mensch mehr sein. Autoritäre Ver- und Gebote ‒ Du darfst nicht begehren, aber Du sollst lieben! Du darfst nicht wollen, aber Du sollst wollen, was Gott will! ‒ führen mit ihrer paradoxen Struktur planvoll-manipulierend zu einer den eigenen Verstand außer Kraft setzenden, grundlegenden Desorientierung der Betroffenen.

Dieser Verwirrung leistet auch Nishitani Vorschub; insbesondere auch mit seinen ständigen Vergleichen des Christentums mit dem Buddhismus, in denen er die autoritären Strukturen von Hierarchien legitimiert.

PS (27.04.2024): Es ist, als hätte Volker Braun das Fazit zu meiner Nishitani-Lektüre schreiben wollen:
„Die chinesische Tradition, in Widersprüchen zu denken, Widersprüche arbeiten zu lassen, setzt den Prozess in Gang, der die alten Strukturen noch hofiert und sich den neuesten Technologien andient.“ („Fortwährender Versuch, mit Gewalten zu leben“ (2024), S.14f.)

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