„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Dienstag, 16. April 2024

„Die Leere ist das Selbst.“

1. Prolog
2. Atheismus und Humanismus
3. Religion
4. Die Kreismetapher
5. Die Bürde
6. Paradoxe Argumente? ‒ Zur Methode
7. Dualität
8. Die letzte große Umkehr
9. „Selbstentleerung“

Die christliche Erbsündenlehre ist Nishitanis Dreh- und Angelpunkt bei seinem Vergleich zwischen dem Christentum und dem Buddhismus. (Vgl. Nishitani, 66ff.) Er setzt die Erbsünde mit dem Karma gleich und identifiziert dabei die Nichtigkeit des menschlichen Selbst mit dem christlichen Sündenbegriff. Inwiefern aber ist das Selbst nichtig? Was genau ist es, das das menschliche Selbst sündhaft macht? Und inwiefern wird die Erbsünde wie in der durch das Karma verursachten Kette der Wiedergeburten von Generation zu Generation weitervererbt?

Mit dem Begriff der Sünde ist die Vorstellung von einem Vergehen, vom Übertreten eines Gebots verbunden. Deshalb haben wir es beim Begriff der Sünde mit einer Schuld zu tun, die der Sünder aus seinem ,Konto‛ gewissermaßen ,tilgen‛ muß, um sein Seelenheil nicht zu gefährden.

Zum Begriff der Schuld gehört der Begriff der Schuldenlast. Wir haben es hinsichtlich der Schuld mit einer Bürde zu tun, die wir tragen und die wir abtragen müssen. Eine Bürde ist aber nicht dasselbe wie eine Sünde. Worin genau besteht also nun die Sünde bzw. das Vergehen, das mit dem Begriff der Erbsünde verbunden ist? Und worin genau besteht die Last, die das Karma für den gläubigen Buddhisten bedeutet? Beide, Erbsünde und Karma, scheinen durch den Begriff der Schuld miteinander verbunden zu sein.

Was die Erbsünde betrifft, besteht sie nach der biblischen und christlichen Tradition vor allem in der Sexualität, in der Geschlechtlichkeit des menschlichen Körpers bzw. ,Fleisches‛, wie es insbesondere im christlichen Teil der Bibel als etwas an sich Sündhaftes und Verdammenswertes dargestellt wird. Alle Begierden bis hin zu allen Willensakten dürfen nicht um ihrer selbst willen verwirklicht und genossen werden, sondern müssen immer über Gott gerechtfertigt werden und Seinem Willen entsprechen. Für sich selbst darf der Mensch nichts wollen. An dieser Stelle setzt die Erbsünde ein.

Was das Karma betrifft, spricht Nishitani wie schon erwähnt von einer Bürde bzw. von einer Last, die wir mit unserem Tun anhäufen. Das Tun wiederum, vor allem innerhalb des Bewußtseinsfeldes, verbindet Nishitani, ähnlich wie die Christen die Erbsünde, mit dem Begehren. Das Karma anhäufende Tun hat, schreibt Nishitani, die „Form eines triebhaften und begehrenden, d.h. ,vitalen‛ Lebens“. (Vgl. Nishitani 1986, S.155) ‒ Unsere Verstrickung ins Karma qua Verstrickung ins begehrende Tun bildet eine unendliche Endlichkeit: schnell befriedigt, aber immer wieder aufflammend oder unbefriedigt und unterschwellig weiter schwelend.

Aber anders als das Christentum kennt der Buddhismus keine Praxis der Buße. Es gibt keine Entsündung, keine Befreiung vom Karma. Auch wenn Buddhisten durch eine veränderte Praxis, durch anderes Handeln versuchen, sich von ihrem Karma zu befreien, häufen sie gerade dadurch nur noch mehr Karmalasten, noch mehr Karmaschuld auf, weil sie das Feld des Bewußtseins nicht verlassen. Das Karma, wie das Begehren, hat die Struktur einer schlechten Unendlichkeit bzw. einer unendlichen Endlichkeit. Es ist das Begehren.

Diese Unendlichkeitsstruktur, also das ununterbrochene Herumzappeln im Netz unserer Befreiungs- bzw. Befriedigungsversuche, wird von Nishitani auch als „Seelenwanderung“ beschrieben. Der Mensch ist sterblich, also endlich, aber das Leben ist unendlich: auf den Tod folgt die Wiedergeburt, unendliche Endlichkeit. Unsere zwanghaften Versuche, uns aus den kausalen Verstrickungen „unseres zwanghaften Beschäftigtseins“ zu befreien, häufen die Schuldenlast, die wir tragen, weiter an. (Vgl. Nishitani 1986, S.336)

So wird die Last unserer kausalen Verstrickungen zur Schuld und das Begehren wird zur Sünde. Die Last wird zum Begehren und das Begehren zur Last. Das ist eine nachvollziehbare Genese der Begriffe Sünde, Schuld und Bürde (Karma). Aber ich halte dagegen, daß weder Last und Schuld einerseits noch Begehren und Sünde andererseits irgendetwas miteinander gemein haben. Wir haben es hier mit einer heillosen Vermengung anthropologischer Fundamentalbestimmungen mit religiös motivierten Moralbegriffen zu tun, die jedes emanzipatorische Eigeninteresse der Betroffenen im Keim erstickt.

Zunächstmal sind Lasten nur Lasten und als solche nicht irgendwie selbstverschuldet, und Begehren ist allererst nur Begehren und nicht als solches irgendwie sündhaft. Hier wird schon im Ansatz unnötig moralisiert. Es gibt allerdings ein Mißverhältnis zwischen der Befristung unserer Lebenszeit und der Möglichkeit gelingenden Lebens. Dieses Mißverhältnis verwandelt sich in den von Nishitani beschriebenen Zwang, „unentwegt neu sein zu müssen“, um sich nicht resigniert mit etwas zufrieden geben zu müssen, das hätte besser sein können. Die ,Seelen‛ müssen über den Tod hinaus ,wandern‛, auf der Suche nach einem besseren Leben: „Der Terminus karma drückt ein Gewahren der Existenz aus, in der ,Sein‛ und ,Zeit‛ eine unsägliche Last für uns darstellen, und zugleich das Gewahren der eigentlichen Natur der Zeit selbst.“ (Nishitani 1986, S.337)

Die Kette der Wiedergeburten drückt also dieses zwanghafte weiter-leben-Müssen um eines einzigen gelingenden Lebens willen, dem dann endlich das Nirwana folgen kann, adäquat aus. Das Begehren selbst aber hat damit nur am Rande etwas zu tun, insofern es natürlich selbst zur Last, zur Bürde werden kann, wenn ihm die Befriedigung versagt bleibt. Es ist lediglich diese Struktur, die dem Karma ähnelt. Aber das Begehren in einen Zusammenhang mit der Erbsünde zu bringen, bedeutet nichts anderes, als einem unglückseligen Mißbrauchsmechanismus, der hier die Form einer moralinsauren Vermengung von befristeter Lebenszeit, Begehren und individueller Schuld annimmt, an derem Ende Höllenqualen drohen, „Furcht und Zittern“, durch die Etikettierung als Karma zusätzlich aufzuwerten.

Lust und Glück gehören zusammen und sind nicht deshalb schon moralisch minderwertig, weil ihre Dauer nur kurz und zufällig ist. Wem das Wort ,Glück‛ zu hoch gegriffen ist, möge dabei an alle Schattierungen von einfacher Bedürfnisbefriedigung über Freundschaft bis hin zum Experiment eines dauerhaften Sich-Einlassens auf eine intime Ich=Du-Beziehung denken. Es gibt schlichtweg keinen vernünftigen Grund, sich unter Selbstzweifeln und seelischen Qualen diesen integralen Momenten leiblicher und seelischer Verfaßtheit zu verweigern, in der vagen Hoffnung auf irgendeine Erlösung christlicher oder buddhistischer Art.

Im Feld des Bewußtseins gibt es also keine Befreiung vom Karma. Nishitani verspricht aber eine solche Überwindung des unendlichen Karmazwangs im Feld der Leere, wo das begehrende Tun, also das stetige Anhäufen von Karma, durch ein Nicht-Tun ersetzt werden kann. Und hier nähert sich Nishitani wieder dem Plessnerschen Ansatz, denn seine Lösung besteht in einer Form der zweiten Naivität, wie sie auch Plessner von Nietzsche für seine philosophische Anthropologie übernommen hat.

Nishitani zufolge lösen wir im Feld der Leere das Tun vom Begehren und verwandeln es in ein freies Spiel. Nishitani schreibt, daß im „Feld der Leere“ Aktivitäten den „Charakter des Spiels“ annehmen (Vgl. Nishitani 1986, S.379ff.): „Sie werden in der Tat Ziel und Zweck in sich selbst, grundlos und unbegründet, Leben ohne Warum.“ (Nishitani 1986, S.380)

Das Spiel aber kennen wir auch im Bewußtseinsfeld. Ohne die Strukturen des Bewußtseinsfelds auflösen zu müssen, können wir im Spiel frei von Ursache-Wirkungszusammenhängen, also frei von Schuld und Karma, so tun als ob, ohne wirklich etwas zu tun.

Nishitani zufolge wird im Feld der Leere aber der Unterschied von Arbeit bzw. Ernst und Spiel aufgehoben. Im Feld der Leere wird einfach alles zum Spiel (vgl. Nishitani, S.381), so daß unser Tun kein Karma, keine ,Schuld‛ mehr anhäuft. In dieser „spielerischen Selbstbestimmung“ (Nishitani 1986, S.386) sind wir Nishitani zufolge frei, Verantwortung „gegenüber einem ,Nächsten‛ oder gegenüber allen ,Anderen‛“ zu übernehmen, und er bezeichnet den „Standpunkt“, der diese Verantwortungsübernahme ermöglicht, als „nicht-Zweiheit-von-Selbst-und-Anderem“. (Vgl. Nishitani 1986, S.383) Ich selbst bezeichne diesen Standpunkt als „Zweiheit“ im Sinne von Ich=Du. Darauf gehe ich in einem der folgenden Blogposts unter dem Stichwort ,Dualität‛ nochmal detaillierter ein.

Der Unterschied in der „Zweiheit“ liegt darin, daß Nishitani nicht vom Bewußtsein her und auf das Bewußtsein hin denkt, sondern vom „Feld der Leere“ her, in dem alle Dinge versammelt sind. Das Bewußtsein ist in diesem Feld überwunden und die Perspektive richtet sich auf das Ganze einer „Welt“, also auf Alles. Deshalb „nicht-Zweiheit“, sondern Vielheit bzw. Alles.

Meine Vorstellung von der Zweiheit geht in eine andere Richtung. Bei Nishitani bleibt argumentativ unvermittelt, wie er vom Feld der Leere als spielerischer Selbstbestimmung zur Verantwortungsübernahme kommt. Wir haben es immer nur mit Bildern zu tun, in denen die Dinge „herbeieilen“, um das Selbst zu „praktizieren“ oder das Selbst praktiziert die Dinge. (Vgl. Nishitani 1986, S.206f., 232, 235f., 242) Das sind alles nur in Bilder gepackte Behauptungen. An die Stelle einer Begründung tritt die „Erleuchtung“, die uns solche Bilder bzw. Behauptungen verstehen läßt. Aber inwiefern es in einem freien „Spiel“ zu einer Verantwortungsübernahme kommen kann, wird nicht weiter erläutert. Dazu bedürfte es einer Vorstellung von Zweiheit, die die soziale Dimension ins Zentrum stellt und sich darin von einer Nicht-Zweiheit unterscheidet, die keinen Unterschied macht.

Jedenfalls bewege ich mich mit dem Als-ob und der zweiten Naivität immer noch im „Feld des Bewußtseins“. An keiner Stelle meines Denkens überschreite ich dieses Feld. Nicht umsonst heißt mein Blog „Erkenntnisethik“. An keiner Stelle verleugne ich das Prinzip von Erfahrung und Wissen. Selbst die zweite Naivität basiert auf einem Wissen um die Erfahrung der Sinnlosigkeit. Erfahrung ohne Wissen verbleibt in der ersten Naivität.

Von der Erfahrung einer Erleuchtung kann ich nicht berichten. Deshalb schweige ich darüber. Aber die Erfahrung einer tiefen, dauerhaften Enttäuschung trage ich in mir. Und deshalb schreibe ich darüber. Und ich habe Bedürfnisse und Begehrungen, mit denen ich verwirrende Erfahrungen mache. Alles das ist eine Bürde. Auch darüber kann ich nachdenken und schreiben. Keineswegs aber bin ich bereit, diese ,fleischliche‛ Verfaßtheit meines Körperleibs zu dämonisieren und Praktiken zu rechtfertigen, die ihrer Unterdrückung dienen.

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